Kein historisches Sachbuch, aber ein zeitgenössischer friesischer Krimi mit viel Humor und tollen Dialogen. Genau deshalb ist er auch hier eine Erwähnung wert.
„Sörensen sieht Land“ ist inzwischen der vierte Teil einer Krimireihe. Teilweise wurden sie bereits verfilmt und mit tollen Schauspielern in Szene gesetzt. Sörensen hat eine Angststörung und erinnert im Film mit seinem Parka ein bisschen an Schimanski nach drei Wochen ohne Schlaf und eben soviel durchzechten Nächten. Wunderbar im Film dargestellt von Bjarne Mädel, den man beim Schmökern unwillkürlich vor Augen hat. Für ihn hatte der Autor Sven Stricker die Figur einst auch entworfen. Sörensen ließ sich von Hamburg nach Katenbüll in Nordfriesland versetzen, wo der seltsame Kauz, der seiner Angststörung und dem Stress in Hamburg entfliehen will, gut hinpasst, aber eher barsch empfangen wird - was auch daran liegt, dass er Veganer ist und Leute gerne auf Abstand hält. Im vierten Band der Krimireihe „Sörensen sieht Land“ fährt ein Auto in die Jubiläumsfeier des Katenbüller Einkaufszentrums. Fünf Menschen kommen ums Leben. Das Auto gehört ausgerechnet dem Ex-Praktikanten Sörensens, Malte Schuster. Doch der saß nicht am Steuer. Die Spur führt Sörensen schließlich zum Ehemann der Bürgermeisterin, aber es gibt noch einige andere Verdächtige. Außerdem muss Sörensen sich mit seinem sturen Vater herumplagen und kommt auch seiner Kollegin Jennifer endlich ein bisschen näher, auch das natürlich nicht ohne amüsante Komplikationen. Beispiel für einen der vielen wunderbaren Dialoge, bei dem es um die tote Madonna geht: „‘Ach, die ist gestorben?‘, fragte Sörensen verwirrt, während Jennifer die Augen verdrehte. ‚Haben sie gar nichts von in den Nachrichten gesagt.‘ ‚So was kommt doch nicht in den Nachrichten‘, sagte Dohnau traurig. ‚Eigentlich schon‘, sagte Sörensen. ‚Ich meine, wir reden hier immerhin über Madonna. Sag mal, war die nicht eigentlich ein bisschen jung? Fürs Sterben?‘ ‚Allerdings‘, sagte Dohnau. ‚Neunundzwanzig.‘ ‚Nee, das sah nur so aus‘, sagte Sörensen. ‚Geliftet war die. Operiert. Botox und so.‘" Ein Missverständnis, denn bei dieser Madonna handelt es sich um eine Katze. Eine Rolle spielen auch Bernd und Gaby Schuster, die nichts mit Fußball zu tun haben. Auch ein Missverständnis. Sven Stricker zeichnet skurrile Figuren auf dem Land. Der Kriminalfall ist Nebensache. Amüsant immer wieder die außergewöhnlichen Dialoge. Ein Ende der Sörensen-Reihe ist hoffentlich nicht in Sicht. Sehr lustig! Als Buch, und auch als Film! Ernst Reuß Sven Stricker, Sörensen sieht Land, Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2023, 512 Seiten, 12 €. Band 1: Sörensen hat Angst 2015, Band 2: Sörensen fängt Feuer 2018, Band 3: Sörensen am Ende der Welt 2021, Band 4: Sörensen sieht Land 2023
Dorothea Neff war eine Schauspielerin, die nach diversen Stationen in Deutschland 1939 am Deutschen Volkstheater, wie das Wiener Volkstheater damals hieß, ein Engagement fand. Von 1941 bis 1945 versteckte Dorothea Neff ihre jüdische Freundin Lilli Wolff in ihrer nun gemeinsamen Wiener Wohnung, nachdem diese den Deportationsbefehl gen Osten bekommen hatte und gefährdete damit auch ihr eigenes Leben. Unterstützt wurde sie dabei von einem Hausbewohner, dem damals jungen Arzt Erwin Ringel, der es später zu einer gewissen Prominenz bringen sollte. Zum Essen hatten Dorothea und Lilli anfangs nur das, was durch Neffs Lebensmittelmarke zu bekommen war. Um mit dem Immer-magerer-Werden nicht aufzufallen, schmuggelte Neff ihre Kostüme aus dem Theater mit nach Hause, wo Wolff, von Beruf Modedesignerin und Schneiderin, sie enger nähte. Später - mit dem entsprechenden Know-How - wurden Lebensmittelmarken erfolgreich gefälscht.
Der Autor und ORF - Redakteur Jürgen Pettinger, der sich schon zuvor mit „Franz“ dem Thema Homosexualität in Dritten Reich angenommen hat, erzählt die queere Geschichte Dorothea Neffs und ihrer jüdischen Partnerin Lilli Wolff. Lesben wurden im Gegensatz zu Schwulen viel seltener strafrechtlich verfolgt, aber auch lesbische Liebe galt „wider der Natur“ und „Unzucht mit einer Person desselben Geschlechts“ wurde nach österreichischem Recht kriminalisiert. Das galt selbst nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland, obwohl die entsprechende Bestimmung im „Deutschen Reich“ ausschließlich männliche Homosexualität bestrafte. Nach dem Krieg schwieg man über gleichgeschlechtliche Beziehungen, denn bis 1971 wurde Homosexualität in Österreich weiterhin strafrechtlich verfolgt , wovon auch die neue Beziehung von Dorothea Neff betroffen gewesen wäre. Das Österreich der Nachkriegszeit verweigerte Homosexuellen jahrzehntelang die Anerkennung als NS-Opfer. Erst 1995 änderte sich das. Die Liebesbeziehung zwischen Dorothea Neff und Lilli Wolff scheiterte an den Anspannungen der Jahre im Versteck. Lilli Wolff hatte jedoch glücklicherweise überlebt, arbeite nach dem Krieg erst als Kostümbildnerin an Theatern und wanderte dann in die USA aus, wo sie sich − zusammen mit der ehemaligen Partnerin ihres Kölner Modesalons eine neue Existenz und Beziehung aufbaute. 1983 starb sie in Dallas. Wolff hat nach ihrer Auswanderung in die USA österreichischen Boden nie wieder betreten. Neff war inzwischen eine allseits anerkannte Schauspielerin. Von 1973 bis 1976 war sie am Burgtheater und am Akademietheater engagiert und mit der ebenfalls bekannten Schaupielerkollegin Eva Zilcher liiert. Erst 1978 erfuhr eine Wiener Journalistin von der Rettungsaktion und konnte Neff für ein Interview gewinnen. Später wurde sie in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. 1986 wurde Dorothea Neff auf dem Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt. Ernst Reuß Jürgen Pettinger, "Dorothea: Queere Heldin unterm Hakenkreuz". Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2023, 192 Seiten, 24 €.
Stephan Lambys sich über weite Strecken wie ein Krimi lesendes Buch liefert exklusive Einblicke in die Regierungszentrale. Lamby war auch während sehr kritischer Momente sehr nah dran an den führenden Politikern dieser Republik, die nur kurz nach ihrem Amtsantritt aufgrund des Krieges in der Ukraine unter größtmöglichen Druck gerieten. Am 7. Dezember 2021 prostete man sich noch auf den Koalitionsvertrag zu und hatte viel vor. „Fortschrittskoalition“ nannte man das Vorhaben, doch schon bald folgte der Schrecken. Die Koalition sollte immer tiefer in einen Krieg hineingezogen werden, den sie nicht gewollt und auch nicht zu verantworten hatte. Falsche politische Entscheidungen konnten zu einer unkontrollierbaren Eskalation des Krieges oder zu Unruhen im eigenen Land führen.
Wer die dreiteilige TV Dokumentation „Ernstfall – Regieren am Limit“ in der ARD gesehen hat, weiß das und kennt größtenteils den Inhalt des Buches. Aber es lohnt sich trotzdem das Buch zu lesen, das die Zeit von Dezember 2021 bis Juli 2023 zusammenfasst. Seit Kriegsbeginn mussten permanent Überzeugungen über Bord geworfen werden. Wie es dazu kam erzählt Lamby in „Ernstfall, Regieren in Zeiten des Krieges“ minutiös. Erst beim Rückblick auf die vielen Krisen, die man teilweise schon wieder verdrängt hat, erkennt man, was alles in dieser Zeit geleistet wurde. Seit Amtsbeginn der hoffnungsvoll gestarteten rot-grün-gelben „Ampelkoalition“ aus SPD, Grünen und FDP ist einiges passiert. Es gab Irrungen und Wirrungen, aber viele schwierig zu lösenden Probleme wurden trotzdem gemeistert. Dank erhalten die Protagonisten dafür nicht, vielmehr wird weiterhin von Menschen , die immer noch glauben, alles könne so sein wie vorher, gewehklagt. Diejenigen, die versuchen die größten Probleme zu lösen werden übelst beschimpft und bedroht. Populisten, die immer gegen alles sind, selbst aber keine Lösungen anbieten, profitieren von dieser Stimmung, die durch bestimmte Massenmedien weiter verstärkt wird. Lamby gelingt es ausgezeichnet, die Dramatik nach der Regierungsübernahme chronologisch einzufangen. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach nach dem 24. Februar 2022, also dem Angriff Russlands auf die Ukraine, zurecht von einer „Zeitenwende“. Trotz der Warnungen der US-Geheimdienste wollte lange niemand so recht daran glauben. Auch die deutschen Nachrichtendienste lagen vollkommen daneben. Macron und Scholz glaubten Putin in vielen Gesprächen sein Vorhaben ausgeredet zu haben. Beide saßen dort an einem irritierend langen Tisch mit Putin. Für Putin ein propagandistischer Erfolg, denn er empfing sie als Bittsteller und lässt sie aus seiner Sicht wie Schulbuben aussehen. Das wirkt zwar weniger nach außen, aber sehr wohl nach innen. Doch Putin hatte sich damals schon längst entschieden und log westlichen Politikern dreist ins Gesicht. Für ihn ist Europa und die Demokratie das Feindbild, das seine eigenen diktatorischen Machtbefugnisse bedroht. Alles hat sich seit dem Krieg geändert. Jahrzehntelange Gewissheiten gelten nicht mehr. Nicht nur für die mehrheitlich als Kriegsdienstverweigerer im Kabinett vertretenen Regierungsmitglieder, wie Olaf Scholz, sondern auch für viele politische Beobachter und Bürger. Bang schaute man in die Ukraine. Viele hofften insgeheim, dass die Ukraine in wenigen Tagen den Krieg verlieren und danach alles wie vorher sein wird. Waffenlieferungen an die Ukraine seien daher völlig unnütz, argumentiert man. Doch man irrte sehr. Die Ukrainer wollten nicht kapitulieren. Der Nationalstolz und die Wut auf die als Okkupation empfundene lange Zeit mit den Russen waren viel stärker. In der deutschen Politik gab und gibt es immer wieder Zögerlichkeiten bei Waffenlieferungen, was man aufgrund der gefestigten jahrzehntelangen pazifistischen Grundhaltung einiger Politiker durchaus verstehen kann. Erstaunlicherweise sind es gerade die Grünen, die nicht nur diesbezüglich über ihren Schatten springen und dem Opfer des Angriffs beistehen wollen. Robert Habeck bekam noch viel Prügel, als er sich vor dem Krieg dafür aussprach an die Ukraine Abwehrwaffen zu liefern. Ebenso Annalena Baerbock, die sich gegen North Stream 2 aussprach. Andere wiederum betreiben Täter - Opfer - Umkehr und finden Unterstützung bei Besitzstandwahrern. Man fürchtet einen kalten Winter ohne russisches Gas. Rechtsradikale Parteien geben sich auf einmal als Pazifisten aus. Schwierige Zeiten! Die Lektüre lohnt und erzeugt Verständnis für Politiker am Limit. Inzwischen gibt es neue Brandherde. Ernst Reuß Lamby, Stephan, Ernstfall, Regieren in Zeiten des Krieges. Report aus dem Inneren der Macht, C.H. Beck, München 2023. 400 S., 26,90 Euro.
Der ukrainische Nationalist Stepan Bandera, der sich im Zweiten Weltkrieg mit Hitler verbündete, gilt im Osten des Landes sowie in Polen, Russland und Israel als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Im Westen der Ukraine wird er dagegen von vielen Einheimischen als Nationalheld und Märtyrer hoch geschätzt.
Dort gibt es nach ihm benannte Straßen und Denkmäler. 2009 wurde er sogar mit einer Briefmarke geehrt. 50 Jahre zuvor war er in München ermordet worden. Sein Münchner Grab ist noch heute eine Pilgerstätte für viele ukrainische Nationalisten. Ermordet wurde er von einem KGB-Agenten, der anschließend in den Westen flüchtete und sich den westlichen Geheimdiensten als Informant anbot. Obwohl er eigenhändig die Tat beging, wurde er nur wegen Beihilfe verurteilt, was Juristen bis heute beschäftigt. Im sogenannten Staschynskij-Fall entschied der Bundesgerichtshof 1962: „Wer eine Tötung eigenhändig begeht, ist im Regelfalle Täter; jedoch kann er unter bestimmten, engen Umständen auch lediglich Gehilfe sein.“ Wie kann das sein? Jemand, der einen anderen eigenhändig tötet, soll nun nur Gehilfe sein? Etwa Gehilfe seiner eigenen Hände? Oder wie ist das zu verstehen? Die als Staschynskij-Fall bekannt gewordene Entscheidung des Bundesgerichtshofs urteilte über die Mordtaten des 1931 geborenen KGB-Agenten Bogdan Nikolajewitsch Staschynskij. Wieder ging es um die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme. Der „sympathisch wirkende“ 30-jährige Staschynskij war im KGB in der „Abteilung für Terrorakte im Ausland“ beschäftigt. Ja, tatsächlich. So etwas gab es in Zeiten des Kalten Krieges. Trotz des sehr bürokratisch klingenden Namens der Abteilung, in der Staschynskij ein kleiner Angestellter war, war er „auf gut Deutsch“ nichts anderes als ein KGB-Killer. 1957 erhielt er den Auftrag, einige als störend empfundene Exilpolitiker, nämlich führende Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten und des russischen Nationalen Bundes der Schaffenden, zu liquidieren. Dafür wurde er nach Ost-Berlin entsandt. Auftragsgemäß und zügig tötete er schon im Herbst 1957 Lew Rebet vom „Nationalen Bund“. 1959 „erledigte“ er dann Stepan Bandera, den Vorsitzenden der Ukrainischen Nationalisten, der im Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang mit Hitler paktiert hatte. In beiden Fällen hatte es auf den ersten Blick nicht nach Mord ausgesehen: Rebet wurde am 12. Oktober 1957 im Treppenflur am Münchener Karlsplatz tot aufgefunden. Der unter dem Pseudonym Stefan Popel in München lebende Bandera starb zwei Jahre später, am 15. Oktober 1959, ebenfalls in einem Münchener Treppenflur. Giftpistole mit Blausäuregas Als Tatwaffe hatte Staschynskij eine schon mehrfach und stets mit Erfolg verwendete Giftpistole zum Versprühen von Blausäuregas verwendet, das er seinen Opfern direkt ins Gesicht sprayte. Durch die Blausäure wurde das Opfer durch Verengung der Atmungsorgane ohnmächtig und starb zwei oder drei Minuten später. Staschynskij bekam ein Gegenserum, das er einsetzen sollte, falls er bei der Tatbegehung aus Versehen etwas davon einatmete. Auch vor einer Tat nahm er sein Gegenmittel ein, um sich vor solchen Eventualitäten zu schützen. Das war damals also die übliche KGB–Methode, um unliebsame Regimekritiker aus dem Verkehr zu ziehen. So weit, so schlecht. Genauso wie Bandera wurde auch Rebet heimtückisch getötet. Also ermordet, denn Heimtücke ist laut § 211 StGB eines der Tatbestandsmerkmale für Mord. Zumindest diesbezüglich waren sich die fünf Richter in den roten Roben einig, denn heimtückisch tötet, wer das Opfer unter bewusster Ausnutzung von dessen Arg- oder Wehrlosigkeit umbringt. Staschynskij hatte also Rebet und Bandera höchstpersönlich umgebracht. Auch diesbezüglich gab es seitens des Gerichts keine Zweifel mehr. Beide waren jedenfalls tot, und Staschynskij wurde von seinem Auftraggeber dafür geehrt. Für seine Verbrechen bekam Staschynskij den „Kampforden vom Roten Banner“, was auch immer das bedeuten mag. Staschynskij bekam aber nicht nur den Rotbanner-Orden, er durfte auch mit Erlaubnis des Komitees für Staatssicherheit – O-Ton Die Welt 1962 – „das Ostberliner FDJ Mädchen Inge F.“ heiraten. Seine Frau war eine gelernte Friseurin. Flucht des Agenten nach West-Berlin Da Banderas Tod zu einiger Aufregung in Emigrantenkreisen und in der Bundesrepublik geführt hatte, wurde Staschynskij erst einmal aus dem Verkehr gezogen und 1960 nach Moskau zurückbeordert. Dort wohnte er gemeinsam mit seiner Frau, die sich für ihre große Liebe ebenfalls verpflichten musste, für den KGB tätig zu sein. Staschynskij wäre ein hoch dekorierter Mann jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen. In der BRD hätte es zwei ungesühnte und vielleicht noch unentdeckte Verbrechen gegeben, wenn alles wie immer gelaufen wäre. Es kam jedoch ganz anders. Das Problem für die bundesdeutsche Justiz entstand um den 13. August 1961, jenem bedeutsamen Datum im deutsch-deutschen Verhältnis – beziehungsweise Nichtverhältnis – und im Kalten Krieg, denn zum Zeitpunkt des Baus der Berliner Mauer war Staschynskij bereits mit seiner deutschen Ehefrau aus Moskau nach West-Berlin geflüchtet, weil er sich in Russland nicht mehr sicher gefühlt hatte. In der BRD kam er kurze Zeit später, am 1. September 1961, in Untersuchungshaft. Staschynskij hatte sich selbst angezeigt. Die Selbstbezichtigungen des Mannes vom KGB wurden von den zuerst ungläubig staunenden Ermittlungsbeamten ziemlich lange geprüft, ehe Anklage erhoben wurde. Es war allerdings Kalter Krieg. Um den reuigen Sünder Staschynskij, dem eine lebenslange Freiheitsstrafe nahezu gewiss schien, zu einer kürzeren Strafe verurteilen zu können, bemühten sich die bundesdeutschen Gerichte mit einem Kunstgriff um Abhilfe. Es war sozusagen die Vorwegnahme der damals noch nicht existierenden und heute noch ziemlich umstrittenen Kronzeugenregelung. Der Bundesgerichtshof stellte fest: „St.s Auftraggeber haben bei der Anordnung beider Attentate deren wesentliche Merkmale (Opfer, Waffe, Gegenmittel, Art der Anwendung, Tatzeiten, Tatorte, Reisen) vorher festgelegt. Sie haben vorsätzlich gehandelt.“ Und jetzt kommt‘s: „Diese eigentlichen Taturheber sind daher Täter, und zwar mittelbare Täter. (…) Entgegen der Auffassung der Bundesanwaltschaft, die den Angeklagten als Täter ansieht, dies jedoch nicht näher begründet hat, war St. in beiden Fällen nur als Mordgehilfe zu verurteilen (§ 49 StGB).“ Mörder, aber nicht Täter Staschynskij, der höchstpersönlich mindestens zwei Menschen umbrachte, war auf einmal kein Täter mehr, sondern nur Gehilfe irgendwelcher obskuren Hintermänner. Das soll man mal einem klar denkenden Menschen erklären. Der Bundesgerichtshof versuchte es mit folgender Begründung: „Gehilfe ist, beim Morde wie bei allen anderen Straftaten, wer die Tat nicht als eigene begeht, sondern nur als Werkzeug oder Hilfsperson bei fremder Tat mitwirkt. Maßgebend dafür ist die innere Haltung zur Tat. (…) Danach (…) kann insbesondere auch derjenige bloßer Gehilfe sein, der alle Tatbestandsmerkmale selber erfüllt (...)“ Staschynskij war nur ein Werkzeug. Wirklich? Eine nur schwer nachvollziehbare Begründung bei diesen heimtückischen Taten. Sie ist wohl nur angesichts der damals bestehenden politischen Verhältnisse zu erklären. Der Bundesgerichtshof hatte angesichts des Kalten Krieges weniger juristisch als politisch entschieden. Man wollte dem Überläufer die gesetzlich vorgesehene Strafmilderung für einen Gehilfen ermöglichen. Laut Bundesgerichtshof soll Staschynskij also – bei seinen in Deutschland begangenen Taten – in Wirklichkeit nur dem eigentlichen Täter, dem in Moskau verbliebenen Chef des KGB, Beihilfe zu dessen zwei Morden geleistet haben. Das Gericht begründete dies damit, dass Staschynskij „ohne Interesse an dem Erfolg der Tat“ gewesen sei. Das Urteil des Landgerichts wurde vom Bundesgerichtshof bestätigt, der dabei die griffige Formel „Täter ist, wer die Tat als eigene will“ verwendete und damit argumentierte, Staschynskij habe seine Taten als fremde, nämlich als Taten des KGB-Chefs gewollt und statt Täterwillen nur Gehilfenwillen gehabt. Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs sollte das Urteil wohl ein Signal an ausländische Geheimdienstler senden. Leben unter neuer Identität Staschynskij lebt oder lebte wahrscheinlich nach seiner vorzeitigen Haftentlassung unter einer neuen Identität in der Bundesrepublik Deutschland, möglicherweise auch in den USA. Um solch merkwürdig anmutenden Urteile zukünftig zu verhindern, wurde Jahre später in § 25 StGB mit der Formulierung „Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht“ ausdrücklich klarzustellen versucht, dass jeder, der die Tat persönlich verwirklicht, auch als Täter zu betrachten sei. Ernst Reuß Aus „Mord? Totschlag? Oder Was? Bizarres aus Deutschlands Strafgerichten“.
Lag ein versuchter Mord vor? Vor dieser äußerst kniffligen Frage stand im Juli 1983 der erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Was war geschehen? Anfang der 70er Jahre lernte der Angeklagte in einer Diskothek die vier Jahre jüngere Heidrun T. kennen. Diese war laut Schilderung von Zeugen damals noch eine unselbstständige, ziemlich komplexbeladen junge Frau von Anfang 20. Der anscheinend umwerfende Charmeur Fred G. hatte sich fälschlicherweise als Heilpraktiker, Privatdozent und Doktor der Psychologie vorgestellt. Heidrun war stark beeindruckt und verliebte sich heftig, obwohl sie gewiss war, dass ihre Liebe von diesem aus ihrer Sicht großen, weisen – aber mit anderen Frauen liierten – unerreichbaren Mann nicht erwidert werden konnte. So entwickelte sich eine äußerst intensive, aber doch nur platonische Freundschaft. Man diskutierte sich hauptsächlich die Köpfe heiß. Fred – der angeblich promovierte Psychologe – wusste einfach auf alles eine Antwort. Die ausgebildete Chefsekretärin Heidrun T. befand sich in einer Selbstfindungsphase und war gerade dabei den Sinn des Lebens zu ergründen. Fred G. stand ihr zur Seite. Heidrun vertraute und glaubte ihm blindlings. Er war immer für sie da. Zumindest telefonisch! Damit sie ihre Probleme überwinden könne, meinte G., benötige sie einer geistigen und philosophischen Weiterentwicklung. Dazu bedürfe es natürlich größter geistiger Anstrengung. Er könne allerdings Hilfe anbieten, denn er kenne einen Mönch namens „Uliko vom Volke der Dogen“. Der wäre ein noch größerer Lehrmeister als er selbst. Er würde für sie meditieren, was allerdings nicht ganz billig wäre. Das verstand Heidrun und nahm einen Bankkredit auf. Dass es sich bei „Uliko“ schlicht um Freds Fantasieprodukt handelte, braucht hier nicht näher dargelegt werden. Dass Heidrun T. keine Zweifel daran hatte, wohl auch nicht. Und, dass Fred G. das ganze Geld – immerhin 30.000 DM - mit dem ihm eigenen Selbstverständnis seinem eigenen Konto gut schreiben ließ, erst recht nicht! Deswegen wurde Fred dann auch später wegen Betrugs verurteilt. So weit, so klar. Aber versuchter Mord? Es musste also noch mehr vorgefallen sein, was auch so war. Mit ihrer geistigen Weiterentwicklung war Heidrun nicht ganz zufrieden, denn sie fühlte sich trotz der fernmeditaiven Anstrengungen von „Uliko“ kein bisschen verändert. Fred erklärte ihr daraufhin, dass ihr Körper im Wege sei und ihre geistige Blockade nur durch die Vernichtung des alten und die Beschaffung eines neuen Körpers beseitigt werden könne. Ziemlich durchsichtig eigentlich, doch die arglose Frau schöpfte keinen Verdacht. Sie war ihrem Fred vollkommen verfallen, denn eines Tages hatte er ihr in einem ihrer unzähligen esoterisch angehauchten Gespräche überraschenderweise erzählt, dass er ja, um ehrlich zu sein, eigentlich gar kein Mensch sei, sondern von einem fremden Stern stamme. Er sei Sirianer, also ein Bewohner des weit, weit entfernten Sternes Sirius. Fred erzählte ihr in den folgenden Tagen einiges von „seinem“ Planeten. Unter anderem berichtete er davon, dass die Sirianer eine Rasse seien, die philosophisch auf einer weit höheren Stufe stehen als die Menschen und er deswegen zur Erde gesandt worden sei, weil er den Auftrag habe es einigen besonders brillanten Menschen zu ermöglichen auf dem Sirius weiterzuleben. Selbstverständlich gehörte auch die leichtgläubige aber geschmeichelte Heidrun T. zu dieser Elite. Freilich blieb ein klitzekleines Problemchen. Ein Weiterleben auf dem Sirius sei erst nach der geistigen Weiterentwicklung und dem völligen Zerfall des eigenen Körpers möglich, denn nur mit ihrer Seele könne sie auf dem Sirius weiterleben. Dafür müsse sie aber zuvor wiederum ihre geistigen Blockaden überwinden. Fred hatte natürlich auch für dieses Problem eine Lösung. Er erklärte ihr, dass in einem Raum am Genfer See für sie ein neuer Körper bereit stehe, in dem sie sich als Künstlerin wiederfinden werde, wenn sie sich von ihrem alten Körper trennt. Damit könne sie sich erst mal geistig weiterentwickeln. Beruhigungspillen und die erforderlichen Papiere würde sie dort auch vorfinden. In welchen schillernden Farben Fred diesen neuen Körper vorher schilderte, geht aus dem Urteil leider nicht hervor. Er muss jedenfalls sehr überzeugend gewesen sein. Heidrun T. glaubte ihrem Sirianer ohne den Hauch eines Zweifels und ließ sich darauf ein, eine Lebensversicherung über 250.000 DM abzuschließen. Bei Unfalltod sollte sich die Summe auf 500.000 DM erhöhen. Daher musste der „Übergang in den neuen Körper“ wie ein Unfall aussehen. Der Versicherungsschutz von Heidrun T. begann im Dezember 1979. Ihre monatliche Versicherungsprämie belief sich auf 587,50 DM. Ein ganz schöner Batzen Geld bei ihren Einkommensverhältnissen, aber bald wäre sie ja eine andere und die Versicherungsprämie wäre dann hinfällig. Ihr konnte es zu diesem Zeitpunkt egal sein. Heidrun bestimmte Fred G. zum Bezugsberechtigten und bereitete sich auf ihr neues Leben vor. Das Geld – so versprach Fred – werde er ihr nach Auszahlung der Versicherungssumme sofort überbringen. Sie glaubte ihm, bedingungslos. Vorab gab sie ihm schon mal ihre übrigen Ersparnisse in Höhe von 4.000 DM. Beide gemeinsam fanden den günstigsten Platz für einen Autounfall: den Brückenpfeiler eines Autobahnzubringers. Der „Unfall“ sollte Weihnachten 1979 stattfinden. Heidrun war zu diesem Zeitpunkt gerade 28 Jahre alt. Ihr Plan ging allerdings nicht sofort auf, denn tragischerweise durchkreuzte Freds Ehefrau Heike das Vorhaben, indem sie sich kurz zuvor selbst erschoss. Fred hielt sich während des Selbstmordes seiner Gemahlin in der Wohnung auf und hatte wegen der nachfolgenden Ermittlungen der Polizei erst einmal ganz andere Probleme zu bewältigen. Es liefen Ermittlungen gegen ihn, denn schon zuvor sollen Freundinnen von ihm auf recht dubiose Weise ums Leben gekommen sein. Doch ihm war vorerst nichts nachzuweisen. Fred bastelte daher schon bald wieder munter an seinen Plan, wie sich Heidrun am besten selbst umbringen könnte. Beide nannten es verniedlichend „Körpervernichtung“. Da sich Fred und seine ihm hörige platonische Beziehung nicht sicher waren, ob Heidrun bei einem Autounfall dann möglicherweise doch „nur“ schwer verletzt sein würde, entschlossen sich die beiden es mit einem eingeschalteten Fön in der Badewanne zu versuchen. Anfang der 80er Jahre war das wohl noch eine sehr „angesagte“ Suizidart. „Evakuieren“ nannte Fred das. Evakuieren auf den Planeten Sirius. Weit, weit weg in ferne Galaxien sozusagen. Zuvor sollte Heidrun – damit es auch wirklich nach einem Unfall aussah – Wäsche waschen, einen Kuchen backen, eine Bekannte für den Abend einladen und das Telefon neben die Badewanne stellen. Fred gab telefonisch den Startschuss, doch der tödliche Stromstoß blieb aus. Heidrun verspürte nur ein Kribbeln am Körper, als sie den Fön eintauchte. Blöd gelaufen! Doch Fred gab nicht auf! Er, der sich nach dem Tod der Gattin diesmal nicht am Tatort eines Selbstmordes aufhalten wollte, wartete am Telefon auf das nahende Ende seiner Freundin und war hörbar überrascht als Heidrun bei seinem Kontrollanruf den Hörer abnahm. Sie saß immer noch mit ihrem Fön in der Badewanne und versuchte verzweifelt damit ihren Körper zu vernichten. Fred half ihr mehr oder weniger „uneigennützig“ dabei. In den nächsten drei Stunden gab er ihr in etwa zehn Telefongesprächen Anweisungen zur Fortführung des Versuchs, aus dem Leben zu scheiden. Dann nahm er von weiteren Bemühungen Abstand. Nach stundenlangem erfolglosem Experimentieren doch noch mittels Stromschlag in der Badewanne ihr Leben auszuhauchen, stieg Heidrun aus dem – inzwischen wohl kalt gewordenen – Wasser und ging vermutlich frustriert ins Bett. Fred hatte zuvor den Befehl gegeben „Aufhören jetzt“, was sein Anwalt später in der Revision als Rücktritt von der geplanten Tat gewertet sehen wollte. Damit hatte er allerdings keinen Erfolg. Der Gutachter des TÜV stellte im Prozess fest, dass Heidrun ihr Überleben einer Bauschlamperei zu verdanken hatte, denn die Badewanne war nicht geerdet - was damals Vorschrift gewesen wäre. Erst im August 1980 ging Heidrun zur Polizei und brachte damit den ganzen Fall ins Rollen. Aus welchen Motiven dies geschah, blieb im Dunkeln. Die Polizei ermittelte, doch das größere Problem hatte die Justiz. Ein Selbstmord ist nun mal nicht strafbar. Da beißt die Maus keinen Faden ab! Betrug? Okay! Ein gewisses Sümmchen hatte Fred sich von der Heidrun ergaunert. Aber versuchter Mord? Nein, da war er sich sicher! Sein Anwalt trug vor, dass nur straflose Beteiligung am versuchten Selbstmord in Betracht gezogen werden könnte. Das war natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte Fred und warf der Kriminalpolizei einen „wüsten Amoklauf“ gegen seine Person vor und titulierte den gegen ihn ermittelnden Kriminalbeamten frech als „Zombiejäger“. Doch ein Mann mit solch großer krimineller Energie und dieser dubiosen Vorgeschichte musste verurteilt werden. Straflos sollte so einer nicht ausgehen, denn das war doch zu dreist gewesen. Das Gericht war der Ansicht, dass allein Fred G. eine mögliche Tötung zu verantworten hatte. Die leichtgläubige Heidrun T. dachte ja nicht mal an Selbstmord, sie glaubte ohne Weiteres tatsächlich, in einem anderen Körper zu erwachen und nach Überwindung der geistigen Blockaden dann endlich zum Sirius zu entfleuchen. Soweit der potenzielle Selbstmörder beziehungsweise in diesem Fall die potenzielle Selbstmörderin sich gar nicht bewusst sei, dass sie gerade im Begriff ist sich umzubringen und der Hintermann, der sie zu dieser Tat anleitet, dieses hohe Maß an Einfältigkeit ausnutzt, sei der Hintermann als Täter anzusehen, denn er benutzt ein willenloses Werkzeug gegen sich selbst – so das Gericht. Deshalb, und nur deshalb, kam das Gericht zum Ergebnis, dass in diesem Fall Fred G. wegen versuchten Mordes zu verurteilen war, obwohl er gar nicht persönlich Hand angelegt hatte – ja nicht einmal anwesend war – und Selbstmord nicht strafbar ist. Das Gericht meinte etwas gestelzt, dass Fred seinem Opfer nicht vorspiegelte „es werde durch das Tor des Todes in eine transzendente Existenz eingehen, sondern es in den Irrtum versetzte, es werde – obgleich es scheinbar als Leichnam in der Wanne liege – zunächst als Mensch seinen irdischen Lebensweg fortsetzen, wenn auch körperlich und geistig so gewandelt, dass die Höherentwicklung zum astralen Wesen gewährleistet sei.“ Während Heidrun glaubte nach dem Stromstoß am Genfer See zu erwachen, sei es Fred nur darum gegangen die Versicherungssumme für ihren Tod zu kassieren. Laut Gericht „ein Verbrechen der versuchten mittelbaren Fremdtötung“, denn – um es salopp zu sagen – Fred G. war der kritiklosen und naiven Heidrun T. weit überlegen, und nur seine Täuschungen führten dazu, dass sie arglos Hand an sich selbst legte. Von allein hätte sie es nie getan. Sie selbst verneinte während der Gerichtsverhandlung ein Recht auf Selbsttötung. So kann also jemand, der im wörtlichen Sinn eigentlich keine Tat begangen hatte, als mittelbarer Täter für die Handlung eines anderen verantwortlich sein. Genau deshalb musste Fred G. wegen versuchten Mordes für sieben Jahre im Knast schmoren, auch wenn er selbst von einer „teuflischen Hetzjagd“ und einem „absurden Fehlurteil“ gegen sich sprach. Vollkommen untätig blieb er in den nächsten Jahren auch in der Haft nicht. Als 1988 seine Strafe eigentlich verbüßt gewesen wäre, musste er gleich weiter im Gefängnis bleiben. Wieder mit Hilfe einer leichtgläubigen Frau und einer selbst gegründeten Briefkastenfirma hatte er versucht ziemlich viel Geld zu ergaunern. Er blieb für weitere zwei Jahre und drei Monate im Gefängnis. Nach Verbüßung der Strafe verliert sich seine Spur. Ernst Reuß (Der Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Mord? Totschlag? Oder was?“ des Autors)
Salvador Allende war hartnäckig gewesen, denn er hatte bereits drei vergebliche Anläufe als Präsidentschaftskandidat einer linken Parteienallianz hinter sich gebracht, bevor er schließlich ins höchste Amt Chiles gewählt wurde. Allende war überzeugter Demokrat, der erstmals in Lateinamerika den demokratischen Sozialismus zu realisieren versuchte.
Vor 50 Jahren, am 11. September 2023 beendete ein Militärputsch seine Träume für eine gerechtere Welt. Mit Pinochets Putsch und mit Allendes Suizid endete schon drei Jahre nach der Wahl dieser Traum, der weltweit Sympathien fand, aber nicht von allen goutiert wurde. Seine Politik widersprach den Interessen der in Chile herrschenden Oberschicht und vor allem auch den Interessen der USA. Man wollte keinesfalls einen neuen „Brückenkopf des Kommunismus“ im Süden des Kontinents dulden, was allerdings auch gar nicht die Intention Allendes war. Allende scheiterte am Widerstand der vom CIA unterstützten politischen Rechten Chiles. Die CIA finanzierte Unternehmerstreiks und Terroraktionen rechter Paramilitärs. Pinochet ließ letztendlich den Präsidentenpalast bombardieren. Allende starb schließlich dort von eigener Hand. Die ikonische Fotografie Allendes mit Helm und Waffe im Kreise seiner letzten Getreuen ist allgemein bekannt. Die sozialliberale deutsche Bundesregierung war von dem Staatsstreich bereits vorab informiert worden. Die bundesrepublikanische Rechte bejubelte den Staatsstreich sogar. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß ließ sich noch 1977 in Santiago die Ehrendoktorwürde verleihen. Die heutige Villa Baviera und frühere Colonia Dignidad, die von Deutschen gegründet wurde, war ein Folterzenturm des chilenischen Geheimdienstes. Zwischen 1973 und 1990 verschwanden auch von dort viele politisch unliebsame Menschen. „Donde estan?“ (Wo sind sie?), ist an vielen Orten Santiagos auch heute noch zu lesen. Wo sind die Menschen, die während der Diktatur einfach verschwanden, lautet die Frage. Es waren viele, deren Schicksal bis heute ungeklärt ist. Nach dem Putsch wurden Massen von Verdächtigen ins Nationalstadion gesperrt und gefoltert. Die UdSSR weigerte sich kurze Zeit später ihr WM Qualifikationsspiel für die Fußball WM in Deutschland dort auszutragen und wurden disqualifiziert. Chile trat bei der WM 74 schließlich gegen die BRD und gegen die DDR an. Günther Wessel erzählt in seinem Buch von der weitverzweigten Familiengeschichte der Allendes in Chile und Chiles Kampf um Unabhängigkeit bis heute. Nach dem Putsch wurden die meisten Angehörigen Allendes ins Exil getrieben. Viele von ihnen haben nach der Rückkehr inzwischen wichtige Funktionen eingenommen, eine ist weltberühmt geworden: Isabel, die Nichte Salvador Allendes, wurde zur Bestseller-Autorin. Seit Ende 2021 regiert erneut ein Linksbündnis das Land. Verteidigungsministerin ist eine Enkelin Salvador Allendes. Bis 1990 blieb der Militärdiktator Augusto Pinochet an der Macht und Chile wurde lange als Musterland des Neoliberalismus gefeiert. Die soziale Ungleichheit im Land ist auch deswegen weiterhin riesig. Ernst Reuß Günther Wessel – Salvador Allende. Eine chilenische Geschichte, Ch. Links Verlag, Berlin 2023, 256 Seiten, 25 Euro.
Laut Dan Jones kann man aus westlicher Sicht die Geschichte in drei große Abschnitte unterteilen. Es beginnt mit der Antike und endet mit der Zeit der Reformation sowie dem Erkunden der Neue Welt.
„Zwischen diesen zwei Perioden lagen etwa tausend Jahren. Das sogenannte Mittelalter. Die Zeit zwischen dem Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert und der Protestantischen Reformation im 15. Jahrhundert.“, schreibt er. In seinem dicken Wälzer „Mächte und Throne“ erzählt er packend von diesen tausend Jahren. Wie der Titel vermuten lässt beginnt es wie „Game of Thrones“. Dabei geht es um Römer, Ritter, Kreuzfahrer und Barbaren, aber auch um Byzantiner, Araber und Franken. Schon das erste Kapitel über die Römer ist spannend geschrieben und endet mit deren Niedergang im 5. Jahrhundert nach Christus und einem fließenden Übergang hin zum Frühmittelalter. Der britische Historiker und Journalist hat Bücher über Kriege und Kreuzzüge geschrieben und dazu populärwissenschaftliche Dokumentationen fürs Fernsehen gemacht. Genau so malt er auch in seinem Buch das Mittelalter aus. Im zweiten Kapitel berichtet er über die Barbaren, also über uns. Denn Barbaren waren vor allem die von den Römern so genannten Germanen. Er schreibt: „Der Aufstieg der Barbaren war ein komplizierter Prozess, der Wanderungen über kurze und lange Distanzen umfasste, den Zusammenprall politischer Systeme und Kulturen und einen allgemeinen Zusammenbruch der Institutionen des Reiches. Während Rom im Osten fast unberührt weiterbestand und in veränderter Form als griechischsprachiges Byzanz zu neuer Blüte gelangte, lag die Zukunft des römischen Westens nun in den Händen der Neuankömmlinge. Das Zeitalter der Barbaren war angebrochen.“ Laut Jones war das Mittelalter jedoch weniger finster als mitunter angenommen, sondern eher ein Sprungbrett in die Moderne. Das Buch beschreibt auch viele Parallelen zu heute: von tödlichen Pandemien, Migration, über den Brexit und der Globalisierung bis zum Einfluss des Klimas auf die Zeit. Die letzten Kapitel über Mönche, Kaufleute, Gelehrte, Baumeister, Seefahrer und Protestanten sind eher eine chronologische Aufzählung von Lebensläufen bekannter Persönlichkeiten von Leonardo da Vinci über Christoph Kolumbus zu Martin Luther. Immerhin das Kapitel Mongolen bringt die Erkenntnis, dass unter Dschingis Khan das ins Zelt pinkeln mit der Todesstrafe geahndet wurde. Derartige Anekdoten machen das Buch zwar nicht zu einer tiefgründigen, aber zu einer anschaulichen und zu einer gut lesbaren, plastischen Lektüre. Ernst Reuß Dan Jones, Mächte und Throne. Eine neue Geschichte des Mittelalters Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, C.H.Beck Verlag, München 2023, 793 Seiten, 38 Euro.
Isabel Schayani kennt man von ihren Moderationen im Weltspiegel, aber auch von ihren Reportagen, die immer etwas anders sind als andere Reportagen. Unaufgeregt, aber sehr empathisch.
Ihr Buch „Nach Deutschland“ enthält fünf Reportagen von Flüchtlingen mit dem Ziel Deutschland. Nicht alle kommen dort an. Schayani, hat die Menschen über Jahre auf ihrem Weg begleitet und kann sich aufgrund ihres persischen Vaters und ihrer Religion gut in die Menschen hineinfühlen und deren Gefühle artikulieren. Vier davon sprechen persisch. Das hilft beim gegenseitigen Verstehen, denn Schayani spricht auch persisch, mit deutschem Akzent, wie sie schreibt. Die Migration nach Deutschland und Europa ist seit Jahren ihr wichtigstes Thema. Für ihre Berichte und Reportagen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Nur selten sieht man ihr bei den Reportagen die Erschütterung an, die sie empfindet bei dem was sie da sieht. Auch die fünf Fälle, die sie beschreibt sind erschütternd und enden keinesfalls als Erfolgsgeschichten, sondern berichten meist von zutiefst traumatisierten Menschen. Sicherlich keine „Asyltouristen“, wie sie von so manchen saturierten populistischen Politikern bezeichnet werden. Es geht um reale Verfolgungsschicksale und um Menschen, die ein besseres Leben suchen. „Game“ nennen sie ihren Versuch, unbemerkt in ein EU-Land zu gelangen. Mit „The Hunger Games“ gibt es ein literarisch verfilmtes Vorbild. Viele ertrinken bei dem Versuch mit einem Schlauchboot anzukommen. Die Gefahr ist ihnen klar, der Leidensdruck aber offensichtlich zu hoch. Safi schleppt sich im Winter zu Fuß über die Balkanroute und wird von Grenzpolizisten mißhandelt. Ruhi fliegt von Teheran zunächst nach Italien, bevor das in Teheran begonnene Martyrium mit bürokratischen und sehr belastenden Hemmnissen weitergeht. Beide verkraften die ganzen Strapazen nicht. Omid will nach Deutschland und landet mit seiner dreijährigen Tochter Nika dann doch in Calais. Mit dem Schlauchboot geht es über den Ärmelkanal nach England. Am selben Tag ertrinken auf dieser Route 27 Menschen, darunter ein Kind. Der Rezensent blättert nach vorne um zu sehen ob es Nika war. Sie war es nicht, andernfalls hätte er wohl nicht weiterlesen können. Man weiß zwar, dass das immer wieder passiert, aber es ist unterträglich. Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi hat sich tief in die Seele gebrannt. Schayani berichtet auch über Moria, wo die 9-jährige Melika mit ihren Eltern feststeckt. Wer ihre Reportagen aus Moria gesehen hat, weiß wie angefasst Schayani das vor Ort erlebte und mitfühlte. Dort herrschen Zustände, die allen europäischen Werten widersprechen. Melika und ihre Familie kamen, wahrscheinlich auch durch den Druck von Schayanis Reportagen, schließlich raus aus der „Hölle von Moria“. Sie landen in Luxemburg. Die Reportagen kann man im Netz abrufen. Last, but not least berichtet sie über Olena, die nach dem Krieg in der Ukraine von dort flüchten musste. Sie hatte es leichter nach Europa zu kommen, ein Notfallplan griff. Schayani reflektiert klug die unterschiedliche Behandlung von ukrainischen und sonstigen Flüchtlingen und geht in die Ukraine um zu erleben, was die Menschen zur Flucht antreibt. Sie schreibt: „Krieg ist, wenn alle Fenster verdunkelt sind mit Spanholz oder Latten, kein Licht dringt raus. (...) Krieg sind Raketen, die ziemlich akkurat nur eine Schule treffen. (...) Krieg sind alte Menschen, die nicht weg können (...) Krieg ist, wenn du als Journalistin besser geschützt bist als der Soldat. (...) Krieg ist eine Clusterbombe, und hinterher sieht es so aus, als seien die Menschen von einem Auftragskiller gezielt erschossen worden. Krieg (...) tötet die Nachbarin, die eben noch mit Gehhilfe etwas langsam in Richtung Kreuzung ging. (...) Krieg ist kein Schiff im Meer, keine Badenden, alles vermint. Krieg ist der Blick eines Soldaten, der die Angst, der nächste zu sein, den es erwischt, nicht mehr los wird. (...) Krieg ist, dein Leben riskieren, um anderen was zu essen zu bringen. Krieg ist ein Geruch, der dich nicht mehr schlafen lässt. (...) Krieg ist, die Sonne scheint und du schaust panisch gen Himmel, denn jetzt schicken sie die Drohnen los und keine Wolke schützt dich.“ Als über die Grenzen bekannte Journalistin, hat sie auch viele Telefonnummern von wichtigen Leuten wie Jean Asselborn, die sie am Schluss des Buches interviewt. Beim ungarischen Außenminister folgt ein offensichtlich notwendiger Faktencheck. Sehr lesenswert, auch wenn diejenigen, die es lesen sollten das nicht tun werden. Könnte ja das xenophobe Weltbild zerstören. Ernst Reuß Isabel Schayani, Nach Deutschland, FÜNF MENSCHEN. FÜNF WEGE. EIN ZIEL, Beck Verlag, München 2023, 319 Seiten, 26 €
„Sie war auf eine bissige Art brillant und dennoch vollkommen loyal, unprätentiös und unerbittlich gegenüber jeder Art von Augenwischerei. Sie war eine vollendete Künstlerin und ein vollendeter Clown, zugleich eine Hinterwäldlerin aus Upstate New York und eine kosmopolitische Grande Dame, kaltes, soigniertes fashion model und Wildfang.“, sagte ihr Kollege und kurzzeitiger Lebensgefährte David E. Scherman über sie.
Auf jeden Fall war Lee Miller eine außergewöhnliche und selbstbewusste Frau. Das Buch “Lee Miller. Krieg. Mit den Alliierten in Europa. 1944-1945. Reportagen und Fotos“ ist schon vor einigen Jahren im Verlag Edition Tiamat erschienen und enthält nicht nur Fotos von ihr, sondern auch aus historischer Sicht sehr faszinierende Texte. 1907 geboren, stand sie den Surrealisten nah und begann Ende der 1920er-Jahren eine Karriere als professionelles Modell. Sie hatte bei Man Ray das Fotografieren gelernt und war dessen - für ihn - irritierend selbstbewusste Geliebte. Sie galt als Supermodel und Ikone. Danach machte sich Lee Miller in New York ausgesprochen erfolgreich als Werbe- und Modefotografin selbstständig, bevor sie in Ägypten einen Tycoon heiratete und somit 1935 abrupt ihr Leben änderte. Anscheinend war ihr das aber bald zu langweilig, denn 1937 kehrte sie in die Pariser Surrealisten-Kreise zu ihren Künstlerfreunden Man Ray, Max Ernst und Jean Cocteau zurück. Sie verliebte sich 1937 in ihren späteren Ehemann Roland Penrose und ging 1939 endgültig zu ihm nach London. Dort begann sie erneut Mode zu fotografieren und die immer stärker bombardierte britischen Hauptstadt zu dokumentieren. Das reichte ihr aber anscheinend nicht aus, denn sie wollte ihren Beitrag leisten im Kampf gegen Nazi-Deutschland und akkreditierte sich 1942 als eine der wenigen Kriegsberichterstatterinnen in Europa. Sie arbeitete für „Vogue“ und „Vanity Fair“, eigentlich Modezeitungen, in denen aber auch ihre packenden Reportagen und Fotos erschienen. In Europa fotografierte sie Feldlazarette, zerstörte Städte und Konzentrationslager, wurde eine der neuen Stars des Journalismus und erwarb sich den Respekt der Frontsoldaten. Zu ihren Fotos schrieb sie brillante und sarkastische Berichte, die einen plastische erleben lassen, was der Krieg und das Leben kurz nach dessen Ende bedeutete. Lee Miller kam etwa drei Wochen nach der Invasion der Alliierten in der Normandie an, um über die Arbeit der Ärzte und Schwestern in einem Feldlazarett zu berichten. Kurz danach erlebte Miller die Befreiung von Paris und besuchte dort alte Freunde, wie Pablo Picasso. Danach ging sie nach Deutschland, wo sie in den Konzentrationslagern von Buchenwald und Dachau befreite Gefangene und die Gräueltaten der Nazis fotografierte. Ihr berühmtestes Foto war jedoch das vom 30. April 1945, auf dem sie selbst zu sehen ist. Ihr damaliger Lebensgefährte Scherman fotografierte sie nackt in Hitlers Badewanne, in dessen verlassenen Wohnung am Münchner Prinzregentenplatz. Vor der Badewanne standen beziehungsweise lagen ihre schmutzigen Armeeklamotten und die matschigen Soldatenstiefel, die sie kurz zuvor im Konzentrationslager Dachau getragen hatte. Dort hatte sie erst wenige Stunden zuvor Berge von Leichen gesehen. Auf dem Rand der Badewanne stand ein Fotoporträt des „Führers“, der sich ungefähr zur selben Zeit in seinem Bunker erschoss. Während sich Hitler jeder Verantwortung für seine Taten entzog, sollten Lee Miller die schrecklichen Bilder aus dem Krieg für den Rest ihres Lebens verfolgen. In München durchstöberte sie auch das Haus von Eva Braun: „Ich machte ein Nickerchen auf Evas Bett und probierte die Telefone aus, die mit „Berlin“, „Berchtesgaden“, „Wachenfeld“ gekennzeichnet waren. Es war bequem, aber auch makaber (...) ich döste auf dem Kissen eines Mädchens und eines Mannes, die jetzt tot waren, und ich war froh, dass sie tot waren, wenn es denn stimmte.“ Sie war im Gegensatz zu ihrem berühmten Kollegen Robert Capa keine Pazifistin gewesen. Sie schrieb: „Deutschland ist ein schönes Land – mit Dörfern wie Juwelen und zerbombten Stadtruinen – und es wird von Schizophrenen bewohnt. Es gibt blühende Landschaften und schöne Aussichten; auf jedem Hügel thront ein Schloss. Die Weinberge an der Mosel und die frisch gepflügten Felder sind fruchtbar. (...) Kleine Mädchen spazieren nach ihrer Erstkommunion in weißen Kleidern und Blumenkränzchen in der Hand herum. Die Kinder haben Stelzen, Murmeln, Kreisel und Reifen. Mütter nähen, putzen und backen; Bauern pflügen und eggen; alles ist wie bei richtigen Menschen. Aber das sind sie nicht. Sie sind der Feind. Dies ist Deutschland, und es ist Frühling.“ Was sie dort sah, verzieh sie den Deutschen nie. Am 30. April 1945 war Lee Miller im kurz zuvor befreiten Dachau angekommen. „In diesem Fall liegt das Lager so nah an der Stadt, dass es keinen Zweifel daran geben kann, dass die Einwohner wussten, was da vor sich ging.“, schrieb sie zurecht. Zwei Wochen zuvor hatte sie ja schon das Grauen im KZ Buchenwald mit eigenen Augen gesehen. Traumatisiert von ihren Erlebnissen, hörte sie bald mit dem professionellen Fotografieren auf. Nach dem Krieg zog sie wieder nach England, heiratete Roland Penrose und 1947 wurde ihr Sohn Antony geboren. Ungefähr 40 000 Negative verstaute sie in achtzehn großen Kisten auf dem Dachboden ihres Hauses. Für sie inzwischen bedeutungslose Arbeiten aus längst vergangenen Tagen. Miller wurde zur Alkoholikerin und verfiel in Depressionen. Erst nach ihrem Tod 1977 barg ihr Sohn die Schätze und gab verdienstvollerweise mehrere Bücher mit Lee Millers Fotos und Berichten heraus. Verdienstvoll auch, dass das bereits 1992 auf Englisch erschienene Buch mit den eloquenten Miller-Reportagen auf Deutsch übersetzt wurde. Es verdient eine große Öffentlichkeit. Dem Faszinosum Lee Miller ist auch die italienische Moderatorin und Autorin Serena Dandini erlegen, die den Lebensweg und viele Beziehungsdetails Millers romanhaft und recht blumig nacherzählt. Ihr Buch „Die Frau in Hitlers Badewanne“ ist eine Hommage an Lee Miller, die damals als eine der modernsten Frauen der Welt galt und mit ihrem aufregenden Leben beeindruckt. Lee Miller ist eine Frau, die sich ihrer Wirkung auf Männer bewusst ist und äußerst selbstbewusst durch das Leben schreitet. Sie wählt allerdings nicht den einfachsten Weg , um sich selbst zu verwirklichen und ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Die deutsche Übersetzung des Buches ist gerade bei btb erschienen. Hochinteressant bleibt natürlich der im Kölner Greven Verlag herausgegebene Bildband Lee Miller Deutschland 1945. Darin sind rund 150 Fotos aus Deutschland im Frühling 1945, als Miller mit den US-Truppen vorrückte. Sie zeigen die letzten Kriegswochen des Jahres 1945. Laut Verlag sind es größtenteils unveröffentlichte Aufnahmen. Es sind jedenfalls sehr beeindruckende Fotografien von Köln bis Berchtesgaden. Idyllische Fotos von Kindern, die Gänse hüten. Eher nachdenkliche Fotos, die Frauen beim Zuschaufeln der von Männern geschaffenen Schützengräben zeigen. Aber auch Bilder von Leichen in Buchenwald und Dachau, oder von Naziführern, die sich selbst umbrachten, als die Krieg verloren war. Lee Miller fotografierte auch das Zusammentreffen mit der Roten Armee in Torgau. Ferner sieht man Hitlers eher spießbürgerliches Schlafzimmer, aber auch das berühmte Bad in seiner Badewanne. Es gibt Fotos von verprügelten und toten KZ Wärtern, aber auch von denjenigen, die sich Häftlingsklamotten anzogen um unterzutauchen. Den Kontext zu den Fotos schildert der amerikanische Geschichtswissenschaftler Richard Bessel, ein ausgewiesener Kenner Nazi-Deutschlands, - mit vielen Veröffentlichungen zum Thema. Historisch ausgesprochen spannend vermittelt der Bildband ein plastisches Bild des Kriegsendes in dem Land, das den verheerenden Krieg entfachte und dem viele Millionen Menschen aus der ganzen Welt zum Opfer fielen. Ernst Reuß Lee Miller, „Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945“. Reportagen und Fotos. Herausgegeben von Antony Penrose. Aus dem Englischen von Andreas Hahn und Norbert Hofmann. Paperback, mit zahlreichen Fotos, Edition Tiamat, 2. Auflage Berlin 2015, 336 Seiten, 20 €. Serena Dandini, Die Frau in Hitlers Badewanne, Aus dem Italienischen von Franziska Kristen, Originaltitel: La Vasca del Fuhrer, Paperback, btb, München 2023, 320 Seiten, 15 € . Richard Bessel, Lee Miller Deutschland 1945, Gebunden mit Schutzumschlag, Greven Verlag, Köln 2018, 140 Seiten, 25 €.
Der Aufstand im Warschauer Ghetto - nicht zu verwechseln mit dem Warschauer Aufstand, mehr als ein Jahr später - war ein Aufstand der jüdischen Bewohner gegen die Liquidierung des Ghettos und ihrer Deportation ins Vernichtungslager.
Mehr als ein Jahr nach der Kapitulation der polnischen Hauptstadt Warschau war das Ghetto am 15. Oktober 1940, errichtet worden. Auf 2,4 % der Fläche Warschaus sollten zusammengepfercht über 450 000 Menschen in katastrophalen Umständen leben und sterben. Ab Juli 1942 wurde mit der so genannten "Endlösung der Judenfrage" begonnen. Täglich wurden mehr als 6 000 Menschen abtransportiert, in erster Linie nach Treblinka. Schon bis Ende 1942 sollen 300 000 der Ghettobewohner in die Vernichtungslager deportiert worden sein. Die jüdischen Widerstandsorganisationen beschlossen ein Zeichen zu setzen und sich mit Waffengewalt zu wehren. Getragen wurde der Aufstand von der Jüdischen Kampforganisation Zydowska Organizacja Bojowa (ŻOB) unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz. Unter seinem Kommando erhoben sich mehrere hundert der völlig unzureichend bewaffneten Ghettobewohner am 19. April 1943 gegen die weit überlegenen SS-Truppen. Ein aussichtsloser Kampf. Die meisten der am Aufstand Beteiligten hatten mit ihrer Familie und vielen Freunde oft alles was ihnen persönlich wichtig war verloren. Sie wollten sich nicht widerstandslos wie „Lämmer zur Schlachtbank“ führen lassen. Am 19. April 1943 gegen 3 Uhr begannen die Deutschen, das Ghetto zu umstellen um es liquidieren zu können. 850 Männer der SS marschierten drei Stunden später hinein, wo sie sofort beschossen wurden und sich wieder zurückziehen mussten. Während der rund vier Wochen dauernden Kämpfe wurden tausende Juden von SS- und Polizeieinheiten getötet oder in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nur wenigen gelang die Flucht. Das Areal, auf dem sich das Ghetto befunden hatte, wurde Häuserblock für Häuserblock gesprengt. Am 16. Mai erklärte die SS die Kämpfe für beendet und ließ am am gleichen Tag die Große Synagoge sprengen. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fertigte Marek Edelman, einer der wenigen Überlebenden und ein Kommandeur des Aufstands, eine unvollständige Liste der Aufständischen an. Jahrzehnte später hatte die polnische Journalistin Hanka Grupińska die Liste in einem Londoner Archiv wiederentdeckt. Sie machte es sich zur Aufgabe, den Lebenswegen der zumeist jungen Kämpferinnen und Kämpfer nachzugehen. Durch ihre Recherchen sind Kurzbiografien - oft mit Bildern - von 308 namentlich bekannten Aufständischen entstanden. Marek Edelmann bezeichnet es in seinem Vorwort als Friedhof aus Buchstaben. Nun liegt diese Erinnerung, die in Polen bereits 2003 erschienen war, auch auf Deutsch vor. Eine Erinnerung an diejenigen, deren Gebeine irgendwo unter dem Schutt Warschaus liegen und nie ordentlich bestattet worden waren. Zwei der Kurzbiographien betreffen Mordechaj Anielewicz und seine Freundin Mira Fuchrer, die sich zuletzt im Kommandobunker aufhielten. Am 7. Mai wurde der von den Deutschen entdeckt. Die Insassen überlebten nicht. Die genauen Umstände ihres Todes ist unbekannt, da keine überlebenden Augenzeugen bekannt sind, und die Toten auch nicht offiziell geborgen wurden. Teilweise wird von einem kollektiven Suizid ausgegangen, von anderen wird angenommen, dass die im Bunker Eingeschlossenen durch von den Deutschen eingeleitete Abgase erstickten. Anielewicz galt als mutig und war erst im 24. Lebensjahr als er starb. Die ein Jahr jüngere Fuchrer galt laut ihrer Kurzbiographie als hübsch, warmherzig, stark und geheimnisvoll. Ernst Reuß Hanka Grupińska, Die Liste lesen. Erzählungen über die Warschauer Aufständischen der Jüdischen Kampforganisation, Aus dem Polnischen von Andreas Volk, Studien zu Holocaust und Gewaltgeschichte, Band 6, Metropol Verlag, Berlin 2023, 239 Seiten, 26 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juli 2024
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