Der angesehene Arzt Dr. Erich Mühe betreibt im Juni 1932 eine gutgehende Praxis in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg als er plötzlich und unerwartet über Nacht verschwindet. Da Mühe sehr gut verdient, leben die Eheleute sehr komfortabel. Mühe ist 34 Jahre alt und seit gut acht Jahren verheiratet. Sein Sportwagen wird verlassen am Ufer eines Sees bei Berlin entdeckt. Eine Leiche wird nie gefunden. Bis heute ist der Fall nicht aufgeklärt. Ein spektakulärer Cold Case also.
Der Historiker Oliver Hilmes hat die Akten dieser Vermisstensache anscheinend im Berliner Landesarchiv entdeckt. Badeunfall, Selbstmord, Mord oder hatte Dr. Mühe einfach genug von seinem Leben und wollte verschwinden? Mühes Konto ist jedenfalls leergeräumt. Das Umfeld von Dr. Mühe wird eindringlich befragt. Seine Frau, die ein Verhältnis hat und vom Tod ihres Mannes ausgeht, stirbt wenig später. Es scheint als ob Mühe etwas mit diesem Tod zu tun gehabt hat. Der dubiose Liebhaber seiner Gattin, ein gescheiterter Komponist, war Nazi und macht nach 1933 eine steile Karriere in der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer. Hatte er etwas mit Mühes Verschwinden zu tun? Mit der Vielzahl unterschiedlicher und sich teilweise widersprechender Zeugenaussagen aus den Akten setzt Hilmes ein fiktives mysteriöses Puzzle zusammen, bei dem eine Spur nach Barcelona führt und weitere Menschen sterben. Der zuständige Kommissar Keller ermittelt über einen ungewöhnlich langen Zeitraum und erst als eine Nazi Polizeipräsident wird steigt - aus politischen Gründen - der Druck, den Fall Mühe endlich abzuschließen. Offiziell ist die Akte geschlossen, aber auch noch nach Mühes Pensionierung und nach dem Krieg, versucht die Schwester von Dr. Mühe etwas über das Verschwinden ihres Bruders herauszufinden und besucht ihn Nachkriegsberlin. Neue Einzelheiten werden bekannt. Ein Kriminalroman, laut Autor inspiriert von einer wahren Geschichte. Ernst Reuß Oliver Hilmes, Das Verschwinden des Dr. Mühe, Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre, Penguin Verlag, München 2020, 241 Seiten, 20 €
Zwei Bücher des Elsengold Verlages zeigen Berlins dunkle Seite. In „Morde im preußischen Berlin“ von Udo Bürger werden 59 mit einer Hinrichtung endete Fälle aus Berlin und Umgebung kurz beschrieben. Im Zeitraum von 1815 bis 1918 handelte es sich dabei meist um Raubmorde, aber es gab auch Attentate. Für die Hinrichtungen war das Beil vorgesehen, einige der Täter wurden allerdings auch gerädert und zum Richtplatz geschleift. Wollte man gnädig sein, begann das Rädern oben, damit der Tod schneller eintrat. Hatte der Täter nach Ansicht der Richter einen besonders grausamen Tod verdient, fing man zuerst damit an die unteren Extremitäten mit dem Wagenrad zu malträtieren. Das heißt ihnen wurde noch vor dem Tod mit einem großen Wagenrad die Knochen gebrochen. Der Scheiterhaufen war nach der letzten Verbrennung 1813 abgeschafft worden. Einer der zuständigen Scharfrichter ritzte in sein Richtbeil die Namen der Exekutierten. 55 Namen waren es, bevor er offenbar in Notwehr einen seiner Gehilfen erschlug und die Justizbehörden von nun an lieber auf seine Dienste verzichtete.
Erschreckend dabei, dass das sensationslüsterne Volk mitunter schon Tage zuvor am Hinrichtungsplatz kampierte, um besonders nahe am Geschehen zu sein. 1839 brach eine extra dafür gebaute Zuschauertribüne durch den Ansturm der Schaulustigen zusammen. Um diesen Volksfestcharakter zu vermeiden, gab es ab 1851 - mit Einführung des Preußischen Strafgesetzbuches - Hinrichtungen nur noch in Gefängnissen. Trotzdem lungerten viele Menschen am Gericht herum und warteten auf den Abtransport des Delinquenten zum Richtplatz im Gefängnisinnenhof von Moabit oder später Plötzensee. Dies geschah mit der grün gestrichenen Polizeikutsche, kurz Grüne Minna genannt. Für einige Zuschauer gab es dort als staatsanwaltschaftlich genehmigte Augenzeugen Platz. Trotzdem drängelten sich noch viele Schaulustige in den Innenhof, um ihrer Sensationslust zu frönen. Regina Stürickows Buch wiederum behandelt 20 derartiger Verbrechen zwischen 1933 und 1945. Zwar wurden während der Nazizeit politische Morde durch die Nazis selbst nicht mehr unbedingt verfolgt, aber es gab auch „normale Morde“. Die Fälle, von denen einige bis heute nicht gelöst sind, werden mit vielen Fotos illustriert und plastisch beschrieben. Gemordet wurde aus Gier, Hass, Wut oder Eifersucht. Eigentlich hätte es derartige Morde nicht geben dürfen, denn die Kriminalität war ja angeblich in der neuen „Volksgemeinschaft ohne Verbrechen“ ausgerottet, so dass eine öffentliche Fahndung erst nach Kontaktierung des Propagandaministeriums eingeleitet werden konnte und daher oft ausgeschlossen war. Angebliche „Berufsverbrecher“ und „Arbeitsscheue“ waren weggesperrt worden. Die Polizei wurde „gesäubert“. Der dafür zuständige neue Polizeipräsident hatte als vormaliger Leiter der Berliner Müllabfuhr von Polizeiarbeit zwar keine Ahnung, war aber ein strammer SS-Mann. Fortan zählte weniger die Kompetenz, als die Linientreue - auch bei der Kriminalpolizei. „Recht und Ordnung“ war nun vermeintlich wieder hergestellt, genau das was ein amerikanischer Präsident heutzutage täglich auf Twitter fordert. Stürickow erklärt neben den geschilderten Mordfällen auch fundiert die politischen Hintergründe dieser Jahre, die angeblich auf eine vermeintlich „verweichlichte“ und „verjudete“ Weimarer Republik folgten. An der immer noch vorhanden Kriminalität änderte sich indes wenig. Allerdings war es nun gefährlich nicht der „arischen Norm“ zu entsprechen. Das konnte tödlich sein. Während des Krieges stieg die Kriminalität, während sich das Personal bei der Polizei ausdünnte. Viele Beamte mussten in Polizeibataillons hinter der Ostfront „säubern“, sprich morden. Am Ende des Krieges herrschte Chaos. Gemordet wurde trotzdem, aber angesichts der vielen Toten werden wohl viele Morde unentdeckt geblieben sein. Ein drittes Buch des VBB Verlages zu aktuellen Mordfällen in Berlin darf da natürlich auch nicht fehlen. Mehr als eine halbe Million Straftaten wurden 2016 in Berlin angezeigt. Das Spektrum reicht von Taschendiebstahl über Drogenhandel und Schlägereien bis zu Mord. Der Autor, einer der besten Kenner der Berliner Justizgeschichte, hat spektakuläre Fälle aus den beiden letzten Jahrzehnten ausgewählt. Es handelt sich ausschließlich um Tötungsdelikte – darunter der Mord an Hatun S., die 2005 mitten auf der Straße erschossen wurde, ein „Ehrenmord“, der eine politische und gesellschaftliche Debatte auslöste, wie auch der Fall eines Dänen, der 2011 seine beiden minderjährigen Töchter bei lebendigem Leibe verbrannte, um sie nach verlorenem Sorgerechtsstreit nicht seiner Ex-Frau überlassen zu müssen. Zwei weitere Fälle haben die Öffentlichkeit 2012 monatelang beschäftigt: der von Jonny K., der am Alexanderplatz von einer Gruppe Jugendlicher zu Tode geprügelt wurde, und das Mordkomplott, dem die junge Pferdewirtin Christin R. aus Lübars zum Opfer fiel. Der Verfasser ruft Kriminalfälle ins Gedächtnis, die illustrieren, dass Berlin nicht nur im politischen Sinne Hauptstadt ist ........... Ernst Reuß Udo Bürger: Morde im preußischen Berlin 1815-1918. Elsengold Verlag, Berlin 2020. 232 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 20 Euro. Regina Stürikow: Morde im braunen Berlin. Eine Kriminalitätsgeschichte 1933 - 1945. Elsengold Verlag. Berlin 2019. 160 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 24 Euro. Ernst Reuß: Mord und Totschlag in Berlin. Neue spektakuläre Kriminalfälle. vbb, Berlin 2018. 180 Seiten, 18 € oder als e-book 9,99 €.
Geert Mak veröffentlichte 2005 sein Buch „In Europa“. Er tourte dafür durch das Europa des Jahres 1999 und beschrieb die Euphorie zu Beginn des neuen Millenniums. Viele seiner Interviewpartner von damals hat Mak nun erneut besucht, um herauszufinden, was inzwischen vom damaligen Enthusiasmus übrig geblieben ist.
Wo stehen wir heute, zwanzig Jahre später, heißt es daher nun in seinem neu erschienenen Buch: „Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums (1999-2019)“. Erneut eine Bestandsaufnahme Europas, in der Mak einen zum Zerreißen gespannten Kontinent beschreibt. In Kirkenes einer der nördlichsten Punkte Europas mit einem strategisch wichtigen Hafen an der Grenze zu Russland beginnt er und schreibt zu Beginn, dass man noch Ende des Jahrtausends geglaubt habe, die westliche Freiheit und Demokratie würden langsam den Osten und den Rest der Welt erobern. Leider gehe die Entwicklung jedoch inzwischen eher in die andere Richtung. Mak meint: „Europa ist desorientiert, gespalten und geschwächt. Russland ergreift jede Gelegenheit, neue Zwietracht zu säen, China nutzt die entstehenden Lücken (...) Weiter im Westen gibt es nun einen amerikanischen Präsidenten, der im Großen und Ganzen die gleiche Destabilisierungspolitik betreibt wie die Russen und der innerhalb kurzer Zeit die Regeln und Institutionen der Nachkriegsweltordnung aushebelt.“. Er fragt sich, wie das alles nach der großen Euphorie 1999 geschehen konnte. Mak legt dar, dass man in Westeuropa übersehen habe, welche Bedeutung Souveränität und nationale Identität für zahlreiche Osteuropäer hatten. Die sahen die Geschichte des 20. Jahrhunderts häufig anders als im Westen wahrgenommen wurde, da in Osteuropa das Jahr 1945 in erster Linie für den Wechsel von einer Diktatur zur anderen stand und 1989 das alles entscheidende Jahr gewesen sei. Mak versteht es Geschichten plastisch zu erzählen. Mit Protagonisten, die subjektiv vom Erlebten berichten, stürzt er von einer Katastrophe in die nächste. Es geht um Populismus, um die Griechenland- und die Bankenkrise, um den Ukrainekrieg, Klimawandel, Migrationsbewegungen und um den Brexit. Der Epilog behandelt schließlich die Coronapandemie. Mit einem pessimistischen Rück-, wie Ausblick beendet er seine Arbeit an dem Buch im Mai 2020. Ein alter Journalist und ehemaliger Widerstandskämpfer habe ihm einmal gesagt: „Ihr habt leicht reden, ihr seht alles im Licht von heute. Aber was konnten wir tun, in den dreißiger Jahren? Wir tappten im Dunkeln, eine Kerze in der Hand, tastend und stolpernd, in einem völlig fremden Haus.“ Nun gehe es ihm genauso, meint Mak. Er selbst taumle mit einer solchen Kerze in der Hand umher. All das ist schön zu lesen und ein hervorragender Bestandsaufnahme des Zustands des heutigen Europas, bringt aber keine neuen Erkenntnisse oder ernsthafte Lösungsansätze. Ernst Reuß Geert Mak: Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums (1999-2019). Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Siedler-Verlag, München 2020, 640 Seiten, 38 Euro.
Ein Sachbuch, wenn auch kein historisches, so doch ein ergreifendes Sachbuch.
Ende August 2015 hat Anja Caspary Vertragsverhandlungen bei Radio 1. Nach 26 Jahren freier Mitarbeit wird sie dort zur Musikchefin berufen und freut sich sehr darauf. Doch vorher muss sie noch zur Mammographie. Reine Routine, dachte sie. Doch alles kommt anders. Sie hat Krebs in beiden Brüsten. Die Vertragsverhandlungen danach steht sie dennoch durch. Krebs ist das Schicksal, das jeden Menschen jederzeit plötzlich und unerwartet treffen kann und alles verändert. So wie bei Anja Caspary. Bis zu jenem Tag lebte Caspary glücklich und erfüllt, seit zwanzig Jahren zusammen mit ihrer großen Liebe und zwei gemeinsamen Kindern. Ihre große Liebe Hagen ist Musikjournalist und war in der Anfangszeit das dritte Mitglied der Ärzte. Sie berichtet in ihrem Buch ohne jegliche Tabus über ihr Leben und die Liebe zu ihrem „Babe“. Ein Leben das sich viele wünschen würden, mit After-Show-Parties, roten Teppichen und der Bekanntschaft von Stars. Caspary lässt sich nach der Krebsdiagnose beide Brüste amputieren. Eine ihrer vielen unkonventionellen Entscheidungen, die sie auch gegen den Rat der Ärzte trifft. Ärzten vertraut sie nur bedingt und die haben es offensichtlich mitunter ziemlich schwer bei vermeintlich kritischen Patienten durchzudringen. Caspary ist der Ansicht, dass das so sicherer wäre. Eine Entscheidung, die man verstehen kann. Hagen jedenfalls stellt die Entscheidung nicht in Frage. Angelina Jolie hatte die Blaupause geliefert, schon bevor es eine Krebsdiagnose gab. Allerdings war ihr Brustkrebsisiko aufgrund genetischer Veranlagung sehr hoch. Kaum hat Caspary dieses Unglück halbwegs verarbeitet, geschieht der nächste gnadenlose Schicksalsschlag. Ihr geliebter Hagen hat einen Hirntumor und stirbt ein Jahr nach ihrer Brustkrebsdiagnose. All das geschah innerhalb eines Jahres, ein Jahr das alles veränderte. „In meinem Herzen steckt ein Speer“ heißt das Buch, in dem sie ihre Geschichte erzählt und den interessierten Leser durchaus demütig zurücklässt, ihm aber auch Kraft geben kann, denn ein Leben kann auch nach solchen Schicksalsschlägen noch ausgesprochen lebenswert sein. Ernst Reuß Anja Caspary, In meinem Herzen steckt ein Speer: Das Jahr, das alles veränderte, Ullstein Berlin 2020, 288 Seiten, 16,99 €
Simon Winder ist kein professioneller Historiker, aber Cheflektor beim englischen Penguin Verlag mit einer flotten Schreibe. Für sein frisch auf Deutsch übersetztes Buch „Herzland“ sammelte er unterhaltsam amüsantes Material aus dem Herzen Europas, aber auch persönliche Anekdoten.
Winder lässt auf seinen Reisen „Lotharingien“ wieder auferstehen, ein mittelalterliches Nachfolgekönigreich des karolingischen Riesenreiches. Er reist kreuz und quer durch das untergegangene Reich. Dabei kommt er an tristen Vororten vorbei und entdeckt in vergessenen Provinzmuseen Abseitiges und Bizarres. Karl der Große, ist der Ausgangspunkt für Winders Geschichte. Die Aufteilung seines Fränkischen Reichs ging auf den Erbfolgestreit zurück. Seine Enkel „Karl der Kahle“ und „Ludwig der Deutsche“ erhielten den Osten und den Westen des riesigen Frankenreiches. Die einzelnen Teile entwickelten im Laufe der Zeit unterschiedliche Sitten, Bräuche und Sprachen. Später sprach man daher von einem West- und Ostfränkischen Reich. Lothar I. behielt das Mittelteil - Lotharingien („das, was Lothar gehört“). Es reichte von Friesland bis nach Rom, was er wiederum unter seinen drei Söhnen aufteilte. Ludwig II. erbte Italien, Karl erhielt die Provence und Lothar II. erhielt den Rest - ein Mischmasch, der als Lotharingien bekannt wurde. Im Jahre 869, als Lothar II. ohne Nachkommen starb, teilten seine mächtigen Onkel im Osten und Westen das Reich auf. Mit der erneuten Teilung kann man schon Frankreich und Deutschland erkennen. Winders immer tiefer gehenden historischen und persönlichen Exkurse, lassen - bei den vielen Namen und Anekdoten - nur schwer eine rote Linie erkennen. Auch wegen der riesigen Menge seines Sekundärwissens übertreibt es Winder mitunter mit seiner Detailverliebtheit. Sein Buch ist eine Synthese aus mehr als tausend Jahren europäischer Geschichte. Dynastische Drehungen und Wendungen sind oft nur schwer nachzuvollziehen. Eine Chronologie und einige Stammbäume wären daher durchaus nützlich gewesen. Es ist eine Aufeinanderfolge von Kriegen und Auseinandersetzungen, meist unter Verwandten. Die heftigsten Verwerfungen gab es schließlich vor nicht allzulanger Zeit im 20. Jahrhundert, nicht nur in diesem Teil der Welt. Winders schreibt: „Wir alle erschauern beim Gedanken an die Mongoleneinfälle, dabei haben wir selbst ganze Kontinente erobert, einen Großteil ihrer Einwohner umgebracht und die Gebiete anschließend vollständig neu besiedelt, und zwar in einem Ausmaß, von dem die Mongolen nur träumen konnten.“ Damit hat er durchaus recht. Ernst Reuß Simon Winder Herzland: Eine Reise durch Europas historische Mitte zwischen Frankreich und Deutschland, Übersetzung Nathalie Lemmens, Siedler Verlag, München 2020, 560 Seiten |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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