Wer kennt schon John Wyclif, Wat Tyler und John Ball, deren Schicksal der Autor kurz streift. Jan Hus dagegen hat man wohl schon mal gehört.
Alles Vorgänger von Thomas Müntzer dessen Leben und dessen Bauernkrieg in Thüringen im schnell zu lesenden Büchlein „Der Krieg der Armen“ geradezu atemlos dargestellt wird. Müntzer wurde mitsamt seinem Bauernheer in der Schlacht bei Frankenhausen vernichtend geschlagen, eingekerkert und wie sein Vater hingerichtet. Er ist eine Ikone des Widerstands und der theologischer Gegenpart von Martin Luther. Als Revolutionär war er eine beliebte Figur der DDR Geschichtsschreibung gewesen. Müntzer war zwar zuerst ein Anhänger und Bewunderer Martin Luthers, wendete sich aber von ihm ab. Auch Luther distanzierte sich wegen dessen sozialrevolutionärer Bestrebungen von Müntzer, denn der predigte Gewalt um eine gerechten Gesellschaftsordnung zu erreichen. Bei ihm wurden Klöster aufgelöst, Räume für Obdachlose geschaffen und eine Armenspeisung eingerichtet. Er hatte nichts anderes als den Sturz der Obrigkeit im Sinn, was ihm allerdings nicht bekommen sollte. Müntzer wurde am 27. Mai 1525 gefoltert, öffentlich enthauptet und sein Leichnam aufgespießt. Kein historisches Sachbuch im engeren Sinn, aber der Autor setzt dieser außergewöhnlichen historischen Figur mit wenigen furiosen Seiten ein literarisches Ehrenmal. Für den historisch interessierten Feinschmecker. Ernst Reuß Éric Vuillard: „Der Krieg der Armen“. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 66 S., geb., 16, €
Am 10. Juli 1941 fand im polnischen Jedwabne ein Massaker statt. Die jüdischen Einwohner der Kleinstadt wurden von ihren katholischen Mitbürgern mit Knüppeln, Äxten und Messern zusammengetrieben, auf dem Marktplatz stundenlang misshandelt und anschließend in einer Scheune verbrannt. Ihr Besitz wurde von den lieben Nachbarn geplündert und übernommen. Nur wenige Juden überlebten.
Erst 2001 geriet das Thema in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, nachdem ein polnischstämmiger, in den USA arbeitender Historiker das Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“ veröffentlicht hatte. Fortan galt er bei den national gesinnten Polen als Nestbeschmutzer und Verräter. Die PiS-Regierung verabschiedete, als Reaktion auf die Veröffentlichung des Buches, ein Gesetz, das jeden, der „die polnische Nation öffentlich der Teilnahme, Organisation oder Verantwortung für kommunistische oder nationalsozialistische Verbrechen bezichtigt“ mit einer bis zu dreijährigen Haftstrafe bedrohte. Nachdem das Gesetz vom Verfassungsgericht aufgehoben worden war, wurde es 2018 mit ähnlichen Wortlaut novelliert. Jedwabne war zur Zeit des Massakers von den Deutschen besetzt, nachdem es zuvor, aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes, von der Sowjetunion besetzt gewesen war. Die Juden galten danach als vermeintliche Nutznießer der sowjetischen Okkupationsherrschaft und das Massaker jahrzehntelang als ein Pogrom der deutschen Nazis, obwohl es im Nachkriegspolen einen Prozess gegen einige Täter gab. Ein trotzdem aufgestelltes Denkmal auf der 1 600 Opfer durch die Nazis beklagt worden waren, wurde erst 2001 beseitigt. Dem Verfasser des Buches „Nachbarn“, der von dieser Opferzahl, aber von anderen Tätern ausging, wurde nun auch aus wissenschaftlichen Kreisen wegen der Übernahme der damals von Behörden festgestellten Opferzahl Unredlichkeit vorgeworfen. Die Zahl der grausam ermordeten Opfer ist nämlich bis heute nicht genau verifizierbar. Ähnliche Pogrome wie in Jedwabne ereigneten sich zuvor auch in Nachbarorten, denen sich die Autorin Anna Bikont in ihrem nun auf Deutsch erschienen Buch ebenfalls widmet. Die Journalistin nahm um die Jahrtausendwende unbezahlten Urlaub und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Sie reist immer wieder nach Jedwabne und beleuchtet in ihrem schon 2004 auf polnisch erschienenen und äußerst akribisch recherchierten Buch „Wir aus Jedwabne“, die schwierige Geschichte eines Landes und das Porträt einer Stadt, die sich der Erinnerung bis heute weitgehend verweigert. Mit ihren Recherchen zeigt Bikont auch den heutigen Antisemitismus, der mittlerweile „den polnischen Mainstream“ erreicht hat. Bikonts Rekonstruktion des Verbrechens und seiner Vorgeschichte ist eine erschütterndes Werk. Geradezu verstörend sind die Tagebuchaufzeichnungen der Autorin, in denen sie ihre Versuche beschreibt mit Augenzeugen und Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Auch 60 Jahre danach wagen es viele Juden immer noch nicht, sich öffentlich zur Religion ihrer Vorfahren zu bekennen. Auch die Polen, die damals geholfen haben Leben zu retten, bekennen sich nicht zu ihrem Mut, denn das bringt immer noch Nachteile. Man hat Angst vor den Reaktionen der Nachbarn. Bikont fühlt sich in Jedwabne von einem „Meer des Antisemitismus überschwemmt“. Bei den Bewohnern von Jedwabne war die Autorin nicht willkommen. Ein Bewohner, eher die Ausnahme, meint resigniert: „Der Pfarrer ist so wie damals, die Leute sind so wie damals, das einzige Problem ist, dass es keine Juden mehr gibt, um sie zu ermorden.“ Er sagte auch: „Vor sechzig Jahren sind die jüdischen Einwohner von Jedwabne, die genauso Polen waren wie wir, von ihren Nachbarn umgebracht worden. Und die Nachkommen der Mörder hetzen jetzt gegen uns, weil wir die Wahrheit sagen.“ Er und die Autorin des Buches galten jetzt auch als Vaterlandsverräter. Nationalistische, antisemitische Parteien und die katholische Kirche und somit deren Presseerzeugnisse hetzten schon vor der deutschen Okkupation hemmungslos gegen Juden. So hieß es 1936 in einer Zeitung: „Nicht ohne Grund hat sich die Überzeugung verfestigt, dass die Juden Parasiten sind. In der Tat gleicht unsere emotionale Einstellung zu ihnen derjenigen, die wir gegenüber Flöhen und Wanzen haben. Töten, vernichten, loswerden. Nur dass der Jude etwas völlig anderes ist als der Floh. Das jüdische Problem kann auch dann noch bestehen, wenn es keinen Juden mehr gibt.“ Auch nach dem Krieg wurden überlebende, zurückkehrenden Juden von ihren katholischen Nachbarn ermordet. Man fürchtete die geplünderte Beute wieder zurückgeben zu müssen oder sie galten bei Mitgliedern der immer noch glorifizierten Heimatarmee als sowjetische Spitzel, auch wenn nur lästige Zeugen von zuvor begangenen Verbrechen beseitigt werden sollten. Dazu zählten offenbar auch Kinder, wie die Autorin in einem Fall feststellen musste. 2001 fand in Jedwabne eine Gedenkfeier statt, die von der Mehrheit der Einwohner abgelehnt und boykottiert wurde, denn dadurch wäre das gesamte polnische Volk besudelt. Der damalige Bürgermeister von Jedwabne, der sich stark für die Gedenkfeier eingesetzt hatte, wurde von nun ab verfemt und emigrierte anschließend in die USA. Die Ehrung einer Bäuerin, die sieben Juden vor dem sicheren Tod rettete, lehnte der Stadtrat ab. Ein außergewöhnliches Buch in dem - wie in Polen üblich - immer zwischen Polen und Juden unterschieden wurde. Besser wäre gewesen Christen und Juden zu unterscheiden, denn alle waren Polen - sowohl Opfer als auch Täter. In ihrem Nachwort zur jetzigen deutschen Ausgabe schreibt Bikont: „Die Aufdeckung des Verbrechens von Jedwabne war eine Revolution. Heute ist die Zeit der Konterrevolution gekommen.“ Die polnische Geschichte wird inzwischen neu geschrieben. Auf der Internetseite von Jedwabne hieß es laut Bikont zum Zweiten Weltkrieg lediglich, dass sich die örtliche Bevölkerung „durch einen besonders starken Patriotismus“ ausgezeichnet habe. Zwar wäre es möglicherweise ohne die Anwesenheit der Deutschen nicht zu diesen Pogromen gekommen, aber bisher wurden laut Bikont „keine deutschen Dokumente gefunden, die es erlauben würden festzustellen, worin der deutsche Anteil bestand." Ernst Reuß Anna Bikont: Wir aus Jedwabne. Polen und Juden während der Shoah. Aus dem Polnischen von Sven Sellmer. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2020. 699 S., 34 Euro.
Ein Historiker promoviert zu einer bekannten Mahn- und Gedenkstätte und stellt fest, dass die vor Ort weit verbreitete Legende so nicht ganz stimmt. Mark Homann stieß als Praktikant in der Gedenkstätte auf diesen Mythos. In der DDR nahmen dort tausende Menschen jährlich an den Kundgebungen zum Tag der Opfer des Faschismus teil und zahlreiche Schulklassen mussten die Geschichtsausstellung in den früheren Häftlingsbaracken besichtigen.
Im Jahr 1974 hatte die SED in der Harzer Kleinstadt Wernigerode ein über Jahrzehnte als Pflegeheim weitergenutztes Buchenwald-Außenkommando in eine Mahn- und Gedenkstätte umgewandelt und dabei die Geschichte ausgebreitet, dass eine Gruppe kommunistischer Häftlinge dort die Lebensbedingungen ihrer Mithäftlinge verbessert und den Widerstand gegen die SS organisiert hatten.. Das stellt ich nun als Mythos heraus, wie in der Dissertation eindringlich beschrieben wird. Die vor Ort tätigen kommunistischen Kapos waren privilegierte Häftlinge und mussten auch mit der SS zusammenarbeiten. Einer der Protagonisten war maßgeblich daran beteiligt seinen eigenen Heldenstatus zu zementieren. Hugo Launicke wurde dadurch zu einer Ikone des kommunistischen Widerstands und nach dem Ende des Krieges Bürgermeister einer Kleinstadt und bald darauf erster Landrat. Launicke, Mitglied der Geschichtskommission des Bezirks Magdeburg, war vor der Gedenkstättengründung in der SED nicht als Organisator des Widerstands im Außenkommando aufgefallen, vielmehr war nicht nur sein Verhalten als Kapo bis 1961 Gegenstand mehrerer Ermittlungsverfahren. Er wurde aus der SED ausgeschlossen, aber auch wieder rehabilitiert. Launicke konnte danach seine ziemlich dubiose Rolle erfolgreich verschleiern und wurde dabei von seinen ehemaligen Mitkapos gedeckt. Die SED und die DDR konnten schließlich Helden gebrauchen. 1973, zwei Jahre vor seinem Tod, erhielt er den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Gold. Nach seinem Tode wurde in Magdeburg eine Straße und in der Umgebung Schulen nach ihm benannt. In der im Metropol Verlag erschienenen Arbeit „Jenseits des Mythos - Die Geschichte(n) des Buchenwald-Außenkommandos Wernigerode und seiner ‘roten Kapos’“ wird die wahre Rolle der Kapos im Außenkommando des KZ´s Buchenwald dargestellt. Dabei werden Denunziations- und Tötungsvorwürfen untersucht, mit denen die kommunistischen Kapos des Außenkommandos in Verbindung standen. Launicke kann nachgewiesen werden, dass er mehrfach Mitgefangenen bei der SS denunzierte. Zusammen mit einer weiteren kommunistischen Widerstandsikone namens Kurt Wabbel, sorgte er auch für die einzige öffentliche Hinrichtung durch die SS im Außenkommando, bei der 1943 sechs Menschen ihr Leben verloren. Wabbels angeblicher Suizid im Lager und Launickes Rolle dabei bleiben allerdings auch nach dieser Untersuchung rätselhaft. Ein in mehrfacher Hinsicht interessanter Einblick in die deutsche Geschichte. Ernst Reuß Homann‚ Mark, Jenseits des Mythos - Die Geschichte(n) des Buchenwald-Außenkommandos Wernigerode und seiner „roten Kapos“, Metropol Verlag, Berlin 2020, 320 Seiten, 24 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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