„Kennen Sie einen Juden?“ heißt Birgit Lahanns neues Buch. Sie kennt aufgrund ihrer jahrzehntelangen journalistischen Tätigkeit viele interessante - auch jüdische - Menschen aus dem Kulturbereich, die sie in diesem Buch sehr einfühlsam porträtiert. Die kulturaffine Lahann, die selbst mal Regieassistentin bei Peter Zadek war, hat ihnen zugehört und die faszinierenden Begegnungen aufgezeichnet.
Es sind ausgesprochen lesenswerte Porträts aus ihrem langjährigen Fundus. Wunderbar aufgeschrieben, wie beispielsweise die Besuche bei Johannes Mario Simmel oder bei Elisabeth Bergner, für das sie 1978 den Theodor-Wolff-Preis bekam. Bemerkenswert auch das Porträt und der Besuch bei Lea Fleischmann, aufgewachsen nach dem Krieg in Föhrenwald und später nach Israel ausgewandert. Dort veröffentlichte sie ihren Bestseller „Dies ist nicht mein Land“, in welchem sie mit Deutschland abrechnete. Lahann berichtet aber auch von Theaterinszenierungen, von Schauspielern und von Interpretationen des Shylock im „Kaufmann von Venedig“, von Peter Zadek und von anderen Regisseuren. Sie erinnert an Joseph Roth und Walter Mehring. Stefan Heym findet sie arrogant. Mit Wolf Biermann dagegen unterhält sich sich erstaunlicherweise sehr angeregt und man erfährt Interessantes. Sie spricht auch mit Martin Walser, Ralph Giordano und Ignaz Bubis über Walsers missglückte Friedenspreis-Rede und über die Debatte zum Holocaust Mahnmal in Berlin. Sie erinnert sich auch an ein unangenehmes Gespräch mit einem einst geschätzten Redaktionskollegen, der vorher ein Nazitäter war. Der Titel des Buches ist zurückzuführen auf einen Selbstversuch von Barrie Kosky, der 2018 am Brandenburger Tor Leute fragte, ob sie einen Juden kennen. Er war ja selbst einer. Inzwischen kennt man ihn nicht nur in Berlin, auch er wird im letzten Kapitel von Lahann porträtiert. Die Sammlung von spannenden Gesprächen und unterschiedlichen Porträts sind ein Lesegenuss. Ernst Reuß Birgit Lahann, „Kennen Sie einen Juden?“ Lauter Künstler von A wie Alejchem bis Z wie Zadek, J. H. W. Dietz Verlag, Bonn 2023, broschiert, 272 Seiten, 26 Euro.
Nicht erst seit dem 24. Februar 2022 herrscht in der Ukraine Krieg, sondern bereits seit 2014, wie das Buch „Ich höre keine Sirenen mehr“ von Daniel Schulz einmal mehr beweist. Der preisgekrönte taz Redakteur schreibt seit vielen Jahren über die Ukraine, er kennt das Land gut und hat dort viele interessante Kontakte.
Seit Putins brutaler Aggression im Februar 22 ist Schulz erneut mehrfach in die Ukraine gereist, auch in die besonders von Kampfhandlungen betroffenen Regionen im Osten des Landes. Er trifft dort viele Menschen, die mit dem Krieg seit vielen Jahren leben müssen und zeichnet ein beeindruckendes Bild ihres schwierigen Lebens im jahrelangen Ausnahmezustand. Nicht alle seiner Bekannten aus den letzten Jahren leben noch. Schulz arbeitet in seinen Gesprächen gut heraus, was der schon Jahre währende militärische Konflikt mit den Menschen in der Ukraine macht. Die Annexion der Krim und der Kampf im Osten wurden in Europa jahrelang kaum wahrgenommen und rückten erst mit der Kriegserklärung vom Februar 2022 wieder in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Man beobachtet seither einen verlustreichen Dauerkonflikt und eine für viele Beobachter überraschend gut organisierte und schlagkräftige Gegenwehr der ukrainischen Armee gegen die russischen Invasoren. Schulz wird Zeuge von unzähligen Luftalarmen, die in der Bevölkerung zumeist mit stoisch-fatalistischer Ruhe zur Kenntnis genommen werden. Meist gibt es nicht mal einen sicheren Platz wohin man gehen könnte, um den todbringenden russischen Bomben zu entkommen. Ernst Reuß Daniel Schulz, Ich höre keine Sirenen mehr, Krieg und Alltag in der Ukraine, Siedler Verlag, München 2023, 272 Seiten, 24,00 €.
Erstmals auf Deutsch erschienen ist das bereits 2011 verfasste Buch „Odessa“ des Professors für internationale Politik Charles King, der bereits mehrere Bücher über Osteuropa verfasst hat.
Auch heute ist Odessa - wie so oft - wieder von Zerstörung bedroht und deshalb ist es auch essentiell sich mit der Vergangenheit der berühmten Hafenstadt zu beschäftigen. Die Gelegenheit bietet sich in diesem aufwändig und gut recherchierten Buch. Charles King erweckt die Geschichten der Russen, Juden, Türken, Griechen, Italiener, Deutschen und Rumänen zum Leben, die die Stadt Odessa (auf ukrainisch Odesa) und seine wechselvolle Geschichte ausmachen. Vom Begründer der modernen russischen Literatur Alexander Puschkin bis hin zum Filmemacher Sergei Eisenstein mit seinem legendären Film „Panzerkreuzer Potemkin“ erfährt man auch von vielen anderen illustren Persönlichkeiten, wie den Herzog von Richelieu und Potjomkin, den Liebhaber der Zarin, die alle an der Entwicklung Odessas beteiligt waren. Das Buch enthält auch den ersten detaillierten Bericht über die Zerstörung der jüdischen Gemeinde der Stadt während des Zweiten Weltkriegs. Dies geschah im Rahmen des Holocausts durch rumänische Truppen unter Anleitung der Deutschen, nachdem Odessa im Oktober 1941 von der Roten Armee geräumt werden musste. Etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Odessas konnte die Stadt verlassen, zurück blieben etwa 80.000 Juden. Daraufhin wurde Odessa von 1941 bis 1944 von rumänischen und deutschen Truppen besetzt. Die Stadt wurde Sitz des rumänischen Hauptquartiers von Transnistrien. Bei einer von Partisanen initiierten Explosion in diesem Hauptquartier starben circa 70 Besatzer. Der rumänische Ministerpräsident gab daraufhin den Befehl, als Vergeltung für jeden getöteten Offizier 200 und für jeden Soldaten 100 Juden oder Kommunisten zu töten. Daraus entwickelte sich ein Massaker, bei dem etwa 30.000 Juden getötet wurden. Während der Besatzungszeit wurden noch weit mehr Einwohner ermordet oder deportiert, die meisten waren Juden. In den umliegenden Städten sowie in ganz Transnistrien geschah ähnliches. Die Überlebenden Juden Odessas wurden ghettoisiert und 1942 in Lager deportiert. Am 10. April 1944 musste nach 907 Tagen Besatzung die Wehrmacht, die nach dem Sturz der Militärdiktatur in Rumänien inzwischen die einzigen Besatzer waren, Odessa räumen und sich hinter den Fluss Dnister zurückziehen. Mit dem Verlust zeichnete sich das Ende der deutschen Besatzung in der Ukraine ab. Als die Sowjets zurückkamen wurden noch 48 Juden gezählt. Ein lesenswertes Buch! Ernst Reuß King, Charles, Odessa, Leben und Tod in einer Stadt der Träume, Critica Diabolis 314, Paperback, aus dem Englischen von Mark Feldon, Edition Tiamat, Berlin 2023, 392 Seiten, 32.- Euro |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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