Karl Härter vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte verfasste ein Buch zur Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit. Der Band gibt einen Überblick über die einschlägigen Quellen und Methoden und die damit verbundenen Themenfelder, sowie über Konzepte und Kontroversen der Kriminalitätsforschung. Eher ein Leckerbissen für den an der Strafrechtsgeschichte sehr interessierten Juristen. Wer die Kriminalitätsgeschichte aber plastisch erzählt haben möchte, wird von der Abstraktheit des Buches eher enttäuscht sein. Beginnend mit einem Überblick über die Forschungsgeschichte, über den Verweis auf Quellen und Methoden, kommt Härter zu Problemen und Perspektiven der Forschung. Ein Lehrbuch für denjenigen, der sich ausgehend von diesem Band intensiver mit der Materie beschäftigen möchte. Ernst Reuß Karl Härter, Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit (methodica, Band 5) Gebundene Ausgabe, 214 Seiten, De Gruyter Oldenbourg 2017, 24,95 €
Liest man das anschaulich und spannend geschriebene Buch „Kriegspilger“ von Peter Frankopan, einem profilierten englischen Historiker, der unter anderem in Harvard, Cambridge, Yale und Princeton gelehrt hat, fühlt man sich in die von Kritikern hochgelobte und kommerziell äußerst erfolgreiche Fernsehserie „Game of Thrones“ hineinversetzt. Es geht um Intrigen, Verrat, Macht, Besitz, Gewalt, Grausamkeit, Brutalität und religiöse Eiferei. Im Gegensatz zur TV-Serie basiert das Buch auf reale Geschehnisse. Es handelt vom ersten Kreuzzug im Jahr 1096 und dessen Hintergründe.
Der inzwischen heiliggesprochene Papst Urban II hatte am 27. November 1095 bei einer Synode in Clermont zum Kreuzzug aufgerufen, um das Christentum und vor allem Jerusalem zu befreien. Muslime, „ein fremdes Volk, ein ganz gottfernes Volk“ trieben dort ihr Unwesen predigte der Papst und beschrieb anschaulich die Gräueltaten, die im Osten von ihnen begangen worden sein sollen. Seine Rede ist nicht wortwörtlich überliefert, soll aber so oder so ähnlich gelautet haben: „Sie beflecken die Altäre mit ihren Abscheulichkeiten und stürzen sie um; sie beschneiden die Christen und gießen das Blut der Beschneidung auf die Altäre oder in die Taufbecken. Denen, die sie schändlich misshandeln und töten wollen, schlitzen sie den Bauch auf, ziehen den Anfang der Gedärme heraus, binden ihn an einen Pfahl und treiben sie mit Geißelhieben so lange herum, bis die Eingeweide ganz herausgezogen sind und sie am Boden zusammenbrechen. Sie binden manche an Pfähle und erschießen sie mit Pfeilen. Sie ziehen manchen den Hals lang, gehen mit bloßem Schwert auf sie los und versuchen, ob sie sie mit einem Streich köpfen können. Was soll ich von der ruchlosen Schändung der Frauen sagen? Davon reden ist schlechter als schweigen.“ Die Erlösungsverheißung des Papstes, der seinen Rittern versicherte, dass jemand der auf dem Kreuzzug stirbt „ganz gewiss Nachsicht für seine Sünde erfahren wird und am ewigen Leben teilhaben wird“, erinnern an heutige Ereignisse, auch wenn damals nicht von Jungfrauen die Rede war. Frankopan schreibt: „Da das Interesse an Jerusalem Ende des 11. Jahrhunderts ein fast schon manisches Ausmaß angenommen hatte, gingen Berichte über die Gefahr für die Christen und das Heilige Land trefflich einher mit der wachsenden Angst vor der bevorstehenden Apokalypse. Überflutungen, Hungersnöte, Meteoriteneinschläge und Sonnenfinsternisse schienen allesamt auf die einzig plausible Schlussfolgerung hinzudeuten, dass das Ende der Welt nahe sei.“ Anders als in den vielen eurozentristischen Berichten, Erzählungen und Rittersagen, rückt Frankopan jedoch nicht den Papst und seine Kreuritter ins Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern Alexios, den Kaiser des Byzantinischen Reiches. Dieser werde meist falsch dargestellt, habe aber mit seinem Hilfegesuch an den Papst die „Büchse der Pandora“ erst geöffnet. Alexios sei, wenn auch ungewollt, der eigentliche Initiator des Kreuzzuges gewesen, und nicht, wie gemeinhin angenommen, der römische Papst. Dabei hatten sowohl der Papst, als auch der byzantinische Kaiser vor allem eigene Machtinteressen im Blick. Urban hatte den Gegenpapst Clemens III zu fürchten und hätte gerne die orthodoxen Christen wieder mit der römisch-katholischen Christenschar vereint. Alexios wollte seine Macht gegen die Feinde im Inneren und gegen die Seldschuken, einer muslimisch-türkischen Fürstendynastie, festigen. Alexios und Urban spielten ein riskantes Spiel, denn ihre Hetze fiel auf fruchtbaren Boden. Beide hatten wenig Freude an den Exzessen der Kreuzritter, die massenhaft in Konstantinopel einfielen. Anders als von Alexios geplant kamen selbständige Ritterheere und keine leichter zu kontrollierende Söldner. Bis zu 80 000 Mann sollen es gewesen sein. Obwohl der Papst den Beginn des Kreuzzugs für den 15. August 1096 terminiert hatte, war zuvor schon eine Armee von Kleinbauern und niederem Adel ausgezogen um Nichtchristen das Fürchten zu lehren. Da der Papst Ablass und Immunität versprochen hatte, mischten sich all diejenigen darunter, die nichts mehr zu verlieren hatten. Unter ihnen auch tausende als Kämpfer unausgebildete Männer, Frauen und Kinder. Ein charismatischer Mönch namens Peter der Einsiedler war der geistliche Führer der Bewegung. Der stets barfüßige Peter ritt auf einem Esel durch das Rheinland und verbreitete Schreckensgeschichten über Andersgläubige. Auf dem Weg nach Jerusalem wurden daher auch gleich Juden gemeuchelt, vor allem im Rheinland. Jerusalem erreichten sie nicht. Die meisten wurden vorher schon von Türken getötet und ihre Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft. Die wenigen Überlebenden wurden von Alexios nach Konstantinopel zurückgeführt, entwaffnet und in einem Stadtviertel von Konstantinopel einquartiert, wo sie auf die Ankunft des Hauptheeres des Ersten Kreuzzugs warteten, das auf unterschiedlichen Wegen dort eintraf und dem sie sich dann anschlossen. Nach dem Zwischenaufenthalt in Konstantinopel zogen sie schließlich im Frühjahr 1097 zusammen los um Jerusalem zu befreien. Die Kämpfe unterwegs, aber auch Krankheiten und Seuchen, forderten einen hohen Blutzoll. Dennoch stand der arg dezimierte Rest im Juni 1099 vor den Mauern Jerusalems. Es soll nur noch ein Drittel der Kreuzzügler übriggeblieben sein. Dieser heruntergekommene Haufen war nun wild entschlossen Jerusalem zu nehmen, was ihnen wider Erwarten am 15. Juli 1099 auch gelang. Für die Ritter des Ersten Kreuzzugs war die Eroberung Jerusalems der Höhepunkt. Das nachfolgende Blutbad soll selbst die kaltblütigsten Augenzeugen erschüttert haben. Nichtsdestotrotz wurden die nach Europa zurückkehrenden Ritter gefeiert und Heldenepen geschrieben. Der Kreuzritter galt als stattlich, tapfer, abenteuerlustig, selbstlos und war auf dem adligen Heiratsmarkt sehr begehrt. Einer von ihnen sammelt nun Truppen um Konstantinopel einzunehmen und Alexios abzusetzen, dem man Verrat vorwarf, scheiterte aber kläglich. Aber auch das war noch lange nicht das Ende der Geschichte. Rückeroberung und weitere Kreuzzüge folgten, was viele weitere anregende und lehrreiche Bücher von Peter Frankopan verspricht. Papst Urban II erreichte die Meldung von der Einnahme der Stadt nicht mehr, da er am 29. Juli 1099 starb. Für Kaiser Alexios war der Kreuzzug weitaus erfolgreicher, denn die Kreuzritter hatten für Byzanz viele wichtige Gebiete zurückzuerobern. Er blieb bis zu seinen Tod als 70-jähriger im Jahre 1118 Kaiser von Byzanz. Frankopan resümiert zum Schluss: „Der Hilferuf aus dem Osten sollte die mittelalterliche Welt neu gestalten, indem er den geographischen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Horizont Europas drastisch erweiterte. Nach über neunhundert Jahren im Schatten sollte Alexios auf die Bühne der Geschichte des Ersten Kreuzzugs zurückkehren.“ Ernst Reuß Peter Frankopan, Kriegspilger, Der erste Kreuzzug, aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Berlin 2017, 392 Seiten, 26,95 €.
Terror von selbst ernannten religiösen Heilsbringern erschüttert seit geraumer Zeit auch die westliche Welt. Wenig erstaunlich, dass sich mehrere Bücher renommierter Verlage damit beschäftigen. Sie enthalten mancherlei Theorien über die Ursachen des Terrors. Meist wird von gesellschaftlicher Frustration, vom Kampf gegen den Kolonialismus oder von der Politisierung eines radikalen Islam ausgegangen.
Sascha Adamek, der als Journalist und Filmemacher für die Politikmagazine „Kontraste“und „Monitor“tätig ist, folgt dabei in seinem Buch der „Spur des Geldes“. Im Vorwort schreibt er: „Im Zentrum dieses Buches steht das Geld – Geld, das Ideologie, religiösen Wahn, aber auch Waffen transportiert; Geld, das Menschen ermöglicht, zu den Waffen zu greifen.“ 58 Milliarden Euro betrage die deutsche Handelsbilanz mit Staaten, deren Rechtssystem auf der Scharia beruht. Adamek nennt das schlicht „Scharia-Kapitalismus“. Er spitzt es dergestalt zu, dass wir damit den Kampf gegen unsere eigene Freiheit selbst finanzieren und uns erpressbar machen. So verweist er auf das Beispiel der USA, wo saudische Drohungen, US-Staatsanleihen in erheblichem Umfang zu verkaufen, die Veröffentlichung des Berichts über saudische Hintermänner des Anschlags vom 11. September verhinderten. Der Autor schreibt, dass auch in deutschen Firmen Investoren aus islamischen Staaten mit nennenswerten Anteilen vertreten sind. Das wäre alles kein Problem, wenn dieselben Investoren nicht auch großzügig für Moscheen und Druckerzeugnisse spenden würden, womit wiederum Jugendliche radikalisiert werden und dem Terrorismus Vorschub geleistet wird. Die Türkei finanziert Moscheen von Erdogans Gnaden. Saudi-Arabien spendet geschätzte 80 Milliarden Dollar für den weltweiten Islamismus. Kuwait investiert nicht nur in Daimler, sondern auch in radikale Moscheen, Katar in VW und salafistische Publikationen. Dadurch versuchen einige dieser Staaten, sich vor dem Terrorismus vor der eigenen Haustür freizukaufen, so Adamek. Islamische Vereine werden als gemein- nützig gefördert, ohne dass geschaut wird, wohin das Geld fließt. Adamek nennt Namen undNetzwerke undzeigt Zusammenhänge auf. Er kritisiert Rüstungsexporte und die mangelnden Finanzkontrollen durch die Politik, die nach seiner Ansicht im Kampf gegen den Terror wirksamer wären als etwa Flugzeugträger. Bei aller berechtigten Kritik vermengt er das alles jedoch zu einem eher alarmistischen Weltbild, das so manchem islamophoben AfD-Anhänger das Herz schneller schlagen lassen wird. Gleichwohl werden interessante Lösungsansätze verfolgt. Er plädiert beispielsweise für einen „Wandel durch Abgrenzung“, denn Länder wie Saudi-Arabien oder Katar legten viel Wert auf ihr eigenes Ansehen im Westen. In erster Linie ginge es ihnen nämlich um den Profit und eher weniger um den Glauben. Er kommt deshalb zum Schluss: „Wer, wenn nicht der Westen, ist in der Lage, die weltweiten Geldströme zu kontrollieren? Wenn wir die Kanäle von Extremisten und Terroristen und ihrer Geldgeber ohne Rücksicht auf unsere eigenen Geschäfte trockenlegen, wäre ein entscheidender Schritt getan.“ Einen gänzlich anderen Ansatz vertritt der französische Autor und Islamismusexperte Olivier Roy. In seinem Buch mit dem Titel „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“beschäftigt er sich eindringlich mit den Selbstmordattentätern, die längst auch europäische Großstädte heimsuchen und dort für Angst und Schrecken sorgen. Neu am derzeitigen Terror sei dabei der explizite Todeswunsch des Attentäters, der so nicht im Islam verankert sei – selbst Salafisten verdammten den Selbstmord. Roys interessanter Ansatz ist der, dass die Hinwendung zum „Dschihadismus“eher eine Jugendbewegung sei, die sich außerhalb des religiösen und kulturellen Bezugsrahmens der Eltern abspielt. Ein besonders heftig ausgetragener Generationenkonflikt junger Männer, der meist mit Todessehnsucht und Erlösungsfantasien gepaart ist. Die meisten der Attentäter waren bislang psychisch labile, nichtreligiöse Kleinkriminelle, die Alkohol tranken und sich äußerst rasant radi- kalisierten. Roy spricht daher von einer „Islamisierung der Radikalität“und eben nicht von einer „Radikalisierung des Islam“. Kaum ein Selbstmordattentäter rechtfertigt sich mit seinem eigenen Lebenslauf, sondern eher damit, was er im Internet gesehen hat. Roy schreibt von einer No-Future-Generation, die nicht am wirklichen Leben der Gesellschaft teilnimmt und sich an einer „Ästhetik der Gewalt“berauscht: „Die unermessliche Wüste, die man im Geländewagen durchquert, mit im Wind flatternden Fahnen und langem Haar, gezückten Waffen und einer oft nach dem Vorbild der Ninjas gestalteten, durch Uniformen zur Schau gestellten Brüderlichkeit. Die kleinen Loser aus den Vorstädten sind schön geworden, bei ihrem Anblick auf Facebook werden die Mädchen schwach. Aus dem Videospiel wird ein Epos, das sich auf einem riesigen Spielfeld entfaltet.“ Der IS bringt laut Roy den Terror nicht hervor, sondern schöpft aus einem vorhandenen Reservoir. Das mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist Roy ein äußerst kenntnisreicher Berichterstatter, der mit vielen interessanten Details aufwartet. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang noch das bereits 2015 erschienene, aber unverändert aktuelle Buch von Lamya Kaddor, „Zum Töten bereit. Dafür erhielt die Autorin im vergangenen Jahr den Preis „Das politische Buch“der Friedrich-Ebert-Stiftung. Über 550 deutsche Dschihadisten, der jüngste von ihnen dreizehn Jahre alt, waren bei Drucklegung des Buches bereits in Richtung Kriegsgebiet ausgereist. Die als Kind syrischer Eltern in Deutschland geborene Islamwissenschaftlerin Kaddor beklagt das, doch sie beschreibt Lösungsansätze, um derlei künftig zu verhindern. Kaddor arbeitete in Dinslaken als Religionslehrerin. Sie schreibt: „Ich musste erleben, dass unter ihnen auch fünf meiner ehemaligen Schüler waren. Diese jungen Menschen hatten sich der sogenannten ,Lohberger Brigade’ angeschlossen. Als ich davon erfuhr, empfand ich es als eine persönliche Niederlage. Denn sie kämpften nicht nur im Land meiner Eltern, in dem zurzeit einer der schlimmsten Bürgerkriege dieser Welt wütet. Es sind auch fünf mir eigentlich gut bekannte und sympathische Menschen, die ich in gewissem Sinne verloren habe. Mir ist bewusst, dass ich sie wahrscheinlich nicht hätte aufhalten können, und dennoch stelle ich mir die Frage, ob ich es voraussehen oder irgendetwas hätte anders machen können.“ Die Autorin appelliert dabei auch an ihre Glaubensgenossen, mehr zu tun, um diese Fanatiker zu stoppen. Zugleich beklagt sie die zunehmende Islamfeindlichkeit: „Wenn wir den Frieden in der Gesellschaft bewahren wollen, dann müssen wir uns salafistischen und islamfeindlichen Tendenzen gleichsam und gemeinsam entgegenstellen. Salafismus und Islamhass sind zwei Seiten einer Medaille.“ Drei verschiedene Ansätze also, sich dem Problem des islamistischen Terrors und dessen Bekämpfung zu nähern. Eines steht fest: Es gibt keine umfassende Erklärung, und es kann und wird keine einfachen Lösungen geben. Ernst Reuß Sascha Adamek: Den Kampf gegen unsere Freiheit finanzieren wir selbst. Econ Verlag, Berlin 2017. 320 S., 18,00 €. Olivier Roy: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“. Der Dschihad und dieWurzeln des Terrors. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Siedler Verlag, München 2017. 176 S., 20 €. Lamya Kaddor, Zum Töten bereit, Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen, Frankfurt 2015, 256 Seiten, 14,99 €
Der Protagonist des Buches Michael Hansen, ein junger amerikanischer Offizier mit deutschen Wurzeln, soll kurz vor Ende des Krieges in Deutschland herausfinden, welche Rolle ein bedeutender Wissenschaftler während der Nazizeit gespielt hat. Bei dem Wissenschaftler handelt es sich um Alfred Ploetz, den Begründer der Eugenik und Großvater der Frau des Autors Uwe Timm. Der Begriff der „Rassenhygiene“ ging auf ihn zurück, führte zur Ermordung von Menschen mit Behinderungen während des „Dritten Reiches“ und letztendlich auch zu Auschwitz. Hansen will herausfinden, wie der kommunistische Student Ploetz zu dem wurde was er schließlich war. In Gesprächen mit einem Zeugen, einem ehemaligen Freund von Ploetz, den wegen seines Widerstands im Dritten Reich ein ganz anderes Schicksal ereilte, blickt er auf die Geschichte Deutschlands zurück und erlebt in einem anderen Handlungsstrang die unmittelbare Nachkriegsgeschichte mit, einschließlich einiger Liebeleien. Die Städte liegen in Trümmern und in Deutschland will keiner dabei gewesen sein bei der Nazibarbarei. Der Protagonist schaut als Außenstehender auf seine frühere Heimat, aus der seine Eltern zusammen mit ihm aus beruflichen Gründen ausgewandert waren.
Der Nationalsozialismus und die eigene Herkunft sind immer wieder die Themen des erfolgreichen Autors. Uwe Timm bleibt der brillante Erzähler, der auch diesen Stoff in verschiedenen Ebenen umsetzen kann. Sein neuer Roman heißt Ikarien, so wie der Name eines Staates in dem, laut eines 1842 erschienen utopischen Bestsellers, vollkommene Gleichheit und Gütergemeinschaft herrscht. Die Ikarier um den Schriftsteller Étienne Cabet selbst, wollten diesen Zukunftstraum Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika praktisch umsetzen, scheiterten aber an ihren gegensätzlichen Vorstellungen. Auch Ploetz war einst von der Idee der Ikarier begeistert und lebte bei ihnen für ein halbes Jahr. Danach wollte er mittels „Rassenauslese“ einen besseren Menschen schaffen - mit den bekannten Folgen, auf die Timm immer wieder hinweist. Timm treibt die Frage um, wo die Verantwortung der Wissenschaft liegt. Das sei Teil unserer Geschichte, derer man sich bewusst sein sollte, insbesondere angesichts der momentanen Forschungen im Bereich der Genetik. Auch dieses Mal gelingt es ihm, einen fesselnden 500-seitigen Roman zu schreiben. Ernst Reuß Uwe Timm, Ikarien, Kiepenheuer&Witsch, Köln 2017, 512 Seiten, 24 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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