Ein im Elsengold Verlag gerade erschienenes Buch zur Kulturgeschichte Berlins in den 1920er Jahren heißt „Vulkan Berlin“ und nimmt Bezug auf den vielbenutzten Titel „Tanz auf dem Vulkan“. „Die Millionenstadt Berlin war auf einzigartige Weise in ständiger Bewegung, Unruhe, Veränderung – wie ein aktiver Vulkan.“, heißt es in der Einleitung.
Es sei ein subjektiver Blick auf seine Heimatstadt, schreibt der Autor Kai-Uwe Merz. Ein studierter Historiker und Germanist, der nun im Presse- und Informationsamt des Landes Berlin arbeitet. Entstanden ist das Buch aus einer Vortragsreihe zur Berliner Kulturgeschichte. Der Autor streift kurz die politische Entwicklung und erwähnt die politischen Morde an Erzberger und Rathenau. Etwas ausführlicher berichtet er über die Literatur der damaligen Zeit, insbesondere der von Alfred Döblin und Bertolt Brecht. Auf die Frage eines Journalisten nach seinem schwierigen Anfang als Schriftsteller meinte letzterer: „Ich habe angefangen zu schreiben, weil ein sehr junges Mädchen von mir ein Kind erwartete und ich unbedingt Geld brauchte. Ich beschloß, einen Reißer zu schreiben (…) Das Stück ‚Trommeln in der Nacht‘ brachte mir 1. den Kleistpreis und 2. eine Rente von einem großen Verlag für zwei Jahre. Mein Anfang war alles andere als schwierig.“ Berlin in den „Goldenen Zwanzigern“ war eine Stadt der Gegensätze, die der Autor in seinen verschiedenen Kapiteln einzufangen versucht. „Arm aber Sexy“ sei die Stadt gewesen, in der es Amüsement aber auch Verbrechen gab. 1928 erschienen in Berlin 147 politische Tageszeitungen, teilweise mit mehreren Ausgaben täglich. Dazu mehrere tausend Zeitschriften und Presserzeugnisse. Merz streift die Architekturgeschichte, interpretiert Georg Grosz bekanntes Bild „Die Stützen der Gesellschaft“, des gleichnamigen Skandalstücks von Henrik Ibsen, mit dem die Volksbühne eröffnet wurde und streift an Hand von Anekdoten die „Automobilstadt“ Berlin und das Liebesleben bekannter Einheimischer wie Lion und Marta Feuchtwanger, oder Brecht. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die ganze Welt einen Aufschwung. Die „Roaring Twenties“ gab es auch anderswo. Allerdings dauerten die „Goldenen Zwanziger“ gerade mal knapp sechs Jahre. Sie begannen 1924 und schon mit dem Schwarzen Freitag im Oktober 1929 begann der Niedergang. Trotzdem, Berlin „hat die übrige Welt auf Jahre und Jahrzehnte befruchtet. Berlin war die Essenz der neuen Zeit; es lieh ihr den unverfälschtesten Ausdruck“, zitiert er den Autor Peter de Mendelssohn, resümiert aber: „‘Das ‚Goldene‘ der Berliner 1920er-Jahre ist insgesamt ein aus der Retrospektive entstandener kulturgeschichtlicher Mythos.“ Hitler und die Nazis beendeten die „Goldenen Zwanziger“ und den Vulkan Berlin. Sie entfachten ein ganz anderes Inferno. Berlin als anziehende und facettenreiche Kulturmetropole der Freiheit war Vergangenheit. Ein amüsanter Rundumschlag, keine tiefgründige Analyse, die es laut des Autors auch nicht sein sollte. Ernst Reuß Kai-Uwe Merz, Vulkan Berlin, Eine Kulturgeschichte der 1920er-Jahre, Elsengold Verlag, Berlin 2020, 208 Seiten, 25,00 €
Jürgen Gückel, ein in Rente gegangener langjähriger Gerichtsreporter des Göttinger Tageblatts, hatte nun die Zeit, sich mit seiner eigenen Geschichte zu befassen. Seit der Schulzeit beschäftigte ihn das Erlebnis, dass sein Lehrer scheinbar von Polizisten aus dem Unterricht abgeholt worden war. Gückel lebt heute wieder in seiner alten Heimat, dort wo sein erster Klassenlehrer Artur Wilke war, ein deutscher Massenmörder. Wilkes Name ist untrennbar mit abscheulichen Kriegsverbrechen verbunden. Er war in Weißrussland Befehlsgeber und kein Befehlsempfänger. Er durfte selbständig entscheiden, welches Dorf abgefackelt und wo die Bevölkerung massakriert wurde. Von diesem „Recht“ hatte er ausgiebig Gebrauch gemacht.
Artur war unter dem Namen seines im Krieg gefallenen Bruders Walter ins Dorf zurückgekommen. Zwar sei es seltsam gewesen, dass Walter als Handballer in den Krieg gezogen und als Fußballer zurückgekommen war, aber die Dorfgemeinschaft schwieg. Angeblich schöpfte niemand Verdacht. Seine „Nachkriegsfrau“ war die beliebte Landärztin. Er heiratet sie 1949, obwohl er schon verheiratet war und bei seinen Urlaubsbesuchen während des Krieges vier Kinder gezeugt hatte. Mutter und Kinder lebten inzwischen in der DDR. Als die Mutter starb, holte Wilke die Kinder zu sich, nun als Onkel. Kurz darauf gab er sie zur Adoption frei. Das beredte Schweigen im Dorf endete auch dann nicht, als Wilke 1961 von der Polizei abgeholt wurde. In einem anderen Prozess waren er und seine Taten aufgeflogen. In Rheinland-Pfalz hatte man nämlich den Bock zum Gärtner gemacht und Georg Heuser zum Leiter des Landeskriminalamts ernannt. Er war dabei auch für die Fahndung nach NS- Verbrechern zuständig. Man kann sich vorstellen, was das zu bedeuten hatte. Jedenfalls war das nicht untypisch für den juristischen und politischen Umgang mit der Vergangenheit in der Nachkriegsbundesrepublik. Nachdem der Massenmörder Heuser angeklagt worden war, suchte man nun auch nach dessen ehemaligen „Kameraden“ Artur Wilke und fand ihn als Volksschullehrer unter falschem Namen in seinem Heimatort Stederdorf, nun ein Ortsteil der Stadt Peine in Niedersachsen. Als er schließlich 1963 wegen Mordes an mindestens 6600 Menschen zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, wurde im Dorf nicht groß darüber geredet, obwohl es im „Spiegel“ und in der „Zeit“ ausführliche Reportagen gab. Späte, nach seiner Begnadigung, kehrte Wilke in sein Dorf zurück und lebte dort bis zu seinem Tod 1989. Bis zum Schluss zeigte er keinerlei Reue. Am Ende fühlte er sich als eine Art Märtyrer. Nicht er, aber elf seiner Opfer wurden vom Papst inzwischen als Märtyrerinnen selig gesprochen. Bei seinen Gesprächen mit Zeitzeugen machte Gückel die traurige Erfahrung, dass selbst heute kaum jemand über die Vergangenheit reden will. Ernst Reuß Jürgen Gückel, Klassenfoto mit Massenmörder, Das Doppelleben des Artur Wilke, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag , Göttingen 2019, 295 Seiten, gebunden, 25 Euro
Wieder ist im Elsengold Verlag ein großformatiger Bildband erschienen, der die Berliner Alltagsgeschichte wunderbar visualisiert.
Diesmal wurden Farb- und Schwarzweißfotografien aus Ost- und Westberlin zwischen 1956 und 1978 abgedruckt, aus einer Zeit, an die sich viele Leser noch erinnern werden können. Trotzdem wirkt vieles fremd. Gegliedert ist das Buch nach den einzelnen Stadtbezirken. Es beginnt mit dem alten Bezirk Mitte und dem Brandenburger Tor. Man sieht die 1970 noch mit Bäumen und Büschen zugewucherte Nikolaikirche. In der Stalinallee kostete das „genaue Wiegen“ 10 Pfennige. Eine Frau mit Schürze und Kopftuch überwacht den Ablauf und kassiert den begehrten Groschen. Der Bildband ist dem Berliner Fotografen Jürgen Grothe zu verdanken. Grothe hat sich trotz Mauerbaus unermüdlich in seiner Heimatstadt umgesehen. Er schreibt selbst in seinem Vorwort: „Die Aufnahmen sind keine Schnappschüsse, sondern kontrollierte Augenblicke. Sie zeigen bewusst das Stadtbild mit seinen durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Wunden, Ruinen und dem ersten Wiederaufbau. Mir ist es auch immer um die Menschen gegangen, um das Leben auf den Straßen und Höfen, in den Häusern der verwundeten Stadt.“ Der 1936 in Berlin geboren Fotograf übernahm 1980 die Leitung des Fotoarchivs des Landes Berlin und beschäftigt sich seit Jahrzehnten in Zeitungsartikeln und Büchern mit der Geschichte Berlins. Das 1956 eröffnete Metro-Goldwyn-Meyer Kino, zeigt dort, wo heute der Zoo-Palast steht, Tom und Jerry. VW Käfer und aus heutiger Sicht schicke Oldtimer parken davor. Ein älterer Mann im Sonntagsstaat blickt im August 1963 durch ein Loch im Bauzaun auf die neueste Großbaustelle Berlins, das Europacenter. An der Brandmauer der Baustelle wird mit einem Wandbild groß für „Sinalco“ geworben. Man kann sich anhand der Passanten gut vorstellen, dass der Kudamm damals noch eine elegante Flaniermeile war. Das hat sich wie so vieles verändert. Vor dem Betreten der Gedächtniskirche wir mittels eines „Vorsicht Einsturzgefahr – Schild“ noch 1957 gewarnt. Da wo heute Hochbeete sind fährt noch 1964 eine Straßenbahn vom Wittenbergplatz in Richtung Gedächtniskirche. Auch den frisch restaurierten und umgebauten Ernst-Reuter-Platz umrundete noch 1967 eine Straßenbahn. Leider wurden später die Schienen entfernt. Man glaubte das Heil im individuellen Autoverkehr zu finden. Ein Foto zeigt die feierliche Verabschiedung der letzten Straßenbahn am 2. Oktober 1967. Pferdefuhrwerke sind in der Stadt auch in den 70ern noch präsent und transportieren beispielsweise Bierfässer der Engelhardt Brauerei. Auch zwischen den Hochhausschluchten des damals neu errichteten hochmodernen Märkischen Viertels sind Pferdefuhrwerke und Leiterwagen unterwegs. Dort wo heute gigantische und an Satellitenschüsseln reiche Wohnblocks zu finden sind, stand der Sportpalast, der noch 1965 ziemlich imposant wirkt. 1973 wurde er abgerissen. Die Ruine des berühmten „Haus Vaterland“ in der Nähe des Potsdamer Platzes erlitt 1976 das gleiche Schicksal. Leider auch die Kreuzberger Kneipe „Zum nassen Dreieck“. Selbstverständlich ist auch der Tag des Mauerbaus am 13. August 1961 dokumentiert und die Patrouillen fahrenden Jeeps der Alliierten. Die Versöhnungskirche in der Bernauer Straße stand noch bis 1985 im Todesstreifen. Die „Bockwurst Emmy“ war 1968 noch am Eingang des beliebten Wochenmarkts an der Schloßstraße zu finden, wo heute das Forum Steglitz steht. Eine ausgesprochen angenehme nostalgische Reminiszenz an die jüngere Vergangenheit. Ernst Reuß Jürgen Grothe, Berlin: Fotografien aus Ost und West 1957–1978, Gebundenes Buch, Elsengold Verlag Berlin 2019, 232 Seiten, 36,00 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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