Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, hat eine bemerkenswerte Dokumentation geschrieben. Er belegt 69 relativ unbekannte Todesurteile des Kammergerichts Berlin.
Als einziges deutsches Gericht, das auf eine mehr als 500-jährige Geschichte zurückblicken kann, wurde das Kammergericht bisher zumeist als einen Hort richterlicher Unabhängigkeit und Liberalität gefeiert. Dem war wohl nicht so! Das schön layoutetet Buch enthält viele Originaldokumente und Bilder. Erstmals wurden sechs Anklageschriften und 19 Todesurteile des Kammergerichts in Faksimile dokumentiert.
Die 1885 in Hagen geborene Luise Meier, eine katholische Hausfrau aus Berlin, half bis zu ihrer Festnahme 28 Berliner Juden zur Flucht. Die vierfache Mutter, deren Mann 1942 gestorben war, wohnte in einem Haus im Grunewald. Dort befand sich auch eine Pension, in der - bis zur zwangsweisen Schließung - Juden lebten und auf ihre Ausreise hofften. Die Witwe hatte Mitleid mit ihren Nachbarn, half ihnen und begleitete sie auf ihrer Fahrt Richtung Schweiz. Als gläubige Katholikin lehnte Luise Meier das Regime ab, obwohl einer ihrer Söhne der „Leibstandarte-SS Adolf Hitler“ angehörte. Vor Ort an der Schweizer Grenze wurde ihr von Josef Höfler, einem jungen Handwerker aus der Gegend und seiner Frau Elise geholfen.
Als ein Fluchtversuch im Mai 1944 scheitert, wurden Josef Höfler und Luise Meier inhaftiert, während Elise flüchten konnte. Ihr Fall wurde nach Abschluss der Ermittlungen wegen „fortgesetzter Beihilfe zur illegalen Auswanderung von Juden nach der Schweiz“ an den Volksgerichtshof in Berlin abgegeben. Zu einer Verurteilung der beiden kam es in der Agonie des „Dritten Reiches“ aber glücklicherweise nicht mehr. Sie überlebten daher und wurden von den Alliierten nach Kriegsende aus dem Gefängnis befreit. Im Juli 2001 wurde Luise Meier zusammen mit Josef Höfler und dessen Frau Elise von der Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern anerkannt. Ernst Reuß
„Luise Meier und Familie Höfler, um 1952", Privatbesitz Gertrud Eisele
Band 5 der Publikationen der „Gedenkstätte Stille Helden“ enthält den Bericht von Else Krell, einer in Berlin untergetauchten Jüdin, den sie wenige Jahre nach Kriegsende verfasst hat. Auf der Flucht vor der Gestapo lebte sie mit ihrer Tochter monatelang in Berlin und Umgebung, bis ihnen schließlich - mit Hilfe einer katholischen Hausfrau, namens Luise Meier - die Flucht in die Schweiz gelingt.
Asyl in der Schweiz zu bekommen war allerdings nicht so einfach, denn nachdem 1938 mehrere Tausend österreichische Juden in die Schweiz geflohen waren, wurde die Asylpolitik restriktiver. Das Boot ist voll hieß auch dort die Parole. Ab August 1942 wurden die Grenzen geschlossen und die Bewachung verstärkt. Gelangten jüdische Flüchtlinge dennoch illegal ins Land, mussten sie mit ihrer Auslieferung nach Deutschland in den Tod rechnen. Diese inhumane Politik wurde erst im Juli 1944 wieder geändert. Else Krell und ihre Tochter hatten – anders als viele andere - jedoch Glück. Sie durften bleiben. Erschreckend aktuell. Ernst Reuß Else Krell, Wir rannten um unser Leben, Illegalität und Flucht aus Berlin 1943, Herausgegeben von Claudia Schoppmann, Publikationen der Gedenkstätte Stille Helden, Band 5. Berlin 2015, Metropol Verlag, ISBN: 978-3-86331-238-1, 229 Seiten, 19,00 Euro
Heinrich und Maria List waren ein knapp über 60 Jahre altes Bauernehepaar. Sie lebten in Ernsbach in Hessen, einem kleinen Dorf im Odenwald. Als Ferdinand Strauß, ein jüdischer Bekannter, sie Ende 1941 um Hilfe bat, zögerten sie nicht. Sie gewährten ihm Unterschlupf.
Leider wurden sie von einem Nachbarn beim Bürgermeister denunziert, der eine Untersuchung gegen den Landwirt einleitete und seinen ansonsten unbescholtenen Mitbürger der Gestapo auslieferte. Heinrich List wurde nach dreimonatiger Gestapo-Haft in das KZ Dachau verlegt, wo er kurz danach starb. Offiziell an den Folgen einer Infektion, wahrscheinlich jedoch an Misshandlungen während der Haft. Ferdinand Strauß hatte rechtzeitig über die Schweizer Grenze entkommen können. Er überlebte. Wie in vielen Orten, wurde nach dem Krieg auch in Ernsbach über die Vorkommnisse geschwiegen. Erst die Nachforschungen von Schülern und Lehrern des nahe gelegenen Gymnasiums brachte die Geschichte ans Licht. Ende 1992 wurde List gemeinsam mit seiner Frau Maria als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Wiederum zehn Jahre später wurde im Ort ein Weg nach Heinrich List benannt. Ernst Reuß Die „Gedenkstätte Stille Helden“ in Berlin widmet sich der Erinnerung an jene Menschen, die sich dem Völkermord der Nazis durch „Untertauchen“ entzogen haben und ihren Helfern.
Laut Gedenkstätte überleben in Deutschland etwa 5.000 „Untergetauchte”, davon über 1.700 in Berlin. Täglich geöffnet!
Mit der sogenannten „Fabrikaktion“ Anfang 1943 sollten auch in Berlin die letzen bis dahin verschonten Juden ermordet werden. Hitler selbst hatte das angeordnet.
Die circa 15.000 jüdischen Berliner, die noch in Berliner Rüstungsbetrieben Zwangsarbeit leisten mussten, sollten nun auch deportiert werden. Marie Simon - einen von ihnen - tauchte unter. Sie war eine von 1.700 Juden, die in Berlin im Untergrund überlebten. 1933 hatten offiziell noch 160.000 Berliner jüdischen Glaubens in der Stadt gelebt. 90.000 waren emigriert, 62.000 wurden umgebracht und nicht wenige entzogen sich der Deportation durch Suizid. Marie Simon, die nach dem Krieg in der DDR eine Wissenschaftskarriere machte und international anerkannt war, erzählte ihrem Sohn in den letzen Monaten ihres Lebens ihre Erlebnisse während dieser Zeit und besprach 77 Tonbänder. Schonungslos gegen sich selbst berichtet sie, wie es ihr gelingen konnte davonzukommen. Sie tauchte in 19 verschiedene Wohnungen unter, wohnte sowohl bei Kommunisten als auch bei Nazis und musste sexuelle Übergriffe über sich ergehen lassen um zu überleben. Ein einzigartiges Buch! Äußert lesenswert! Ernst Reuß |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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