Gleich zwei neue Krimireihen beschert der Buchherbst. Einmal wird im Leningrad der Nachkriegszeit gemordet, das andere Mal im Hamburg der Zwischenkriegszeit.
Stalin spielte 1951 noch seine unrühmliche Rolle, als im gefürchteten bitterkalten russischen Winter fünf verstümmelte Leichen außerhalb von Leningrad an einer Bahnlinie gefunden werden. Da willkürliche Verhaftungen in jener Zeit an der Tagesordnung sind, betrifft das auch die lokale Polizeidienststelle, die wegen „Verrats“ kollektiv verhaftet worden war. Darum macht sich die Leningrader Volksmiliz an die Arbeit. Leutnant Revol Rossel übernimmt anfangs unwillig die Ermittlungen, doch relativ schnell nach der schwierigen Identifizierung stellt er fest, dass er die Leichen kennt. „Der kalte Glanz der Newa“ ist ein Thriller im winterlichen und stalinistisch geprägten Russland. Stalins gefürchtetes Ministerium für Staatssicherheit spielt dabei eine entscheidende Rolle. Das unter dem Pseudonym Ben Creed firmierende Autorenduo bedient sich dabei Horrorszenarien, die im Kalten Krieg entstanden sein könnten. Der Krimi ist ihr erstes gemeinsames Werk und der erste Fall für Leutnant Revol von der Leningrader Militärpolizei, daher kann man als zeitgeschichtlich interessierter Leser auf die Fortsetzung der angekündigten Trilogie gespannt sein. Der zweite Krimi spielt im Hamburg des Jahres 1928, genauer gesagt auf St. Pauli. Dort gibt es eine weibliche Kriminalpolizei, zu der auch bald eine junge, vorlaute Sekretärin gehört. Sie ähnelt sehr der Hauptdarstellerin aus „Babylon Berlin“. Im Gegensatz zu Charlotte Ritter aus Berlin kommt die Hamburgerin Paula Haydorn jedoch aus wohlhabenden Elternhaus, was bei der Aufklärung des Falles eine entscheidende Rolle spielen wird. Ihre Eltern haben kein Verständnis für ihren Berufswunsch und wollen es ihr verbieten. Sie selbst und ihre Kolleginnen müssen sich gegen die männlichen Vorgesetzten behaupten, die anfangs wenig begeistert sind von Frauen in ihrer Männerdomäne. Erste Spuren führen ins Rotlichtmilieu und in einschlägig bekannte Freudenhäuser, also in ein Umfeld, das Paula völlig fremd ist. Bald tauchen Parallelen zu den Taten von Jack the Ripper auf, der vor 40 Jahren in London ganz ähnliche Taten begangen hat. Auch auf St. Pauli werden Frauen grausam ermordet und verstümmelt. Ungeachtet der Ähnlichkeiten zu „Babylon Berlin“ beschreibt der Roman historische Begegebenheiten, zumindest was den Aufbau der weiblichen Kriminalpolizei in Hamburg betrifft. Er gibt außerdem Einblicke in das Prostituiertenmilieu auf St. Pauli und beleuchtet die Situation der dort oft aus purer Not arbeitenden Mädchen und Frauen. Spannend geschrieben. Man darf sich auf weitere Teile der Serie freuen. Ernst Reuß Helga Glaesner, Die stumme Tänzerin, Hamburg 2021, 364 S., 10 € Ben Creed, Der kalte Glanz der Newa: Thriller. Der erste Fall für Leutnant Revol Rossel (Die Leningrad-Trilogie 1), München 2021, 328 S. 14,99 €
Jenny Erpenbecks neuer Roman handelt von der Liebe einer jungen Frau zu einem wesentlich älteren Mann in der untergehenden DDR. Beide lernen sich am 11. Juli 1986 zufällig in einem Ostberliner Bus kennen und kommen in den nächsten sechs Jahren nicht mehr voneinander los.
Während der Mann, der Schriftsteller und überzeugte Sozialist Hans, selbstverständlich noch eine Ehefrau und andere Geliebte hat, gesteht er dies der jungen Frau nicht zu. Es wird zu einer, wie es heute heißt, „toxischen Beziehung“. Er ist Anfang 50, arbeitet auch beim Rundfunk und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in einer großzügigen Altbauwohnung in Ost-Berlin. Katharina ist 19 Jahre jung, macht gerade eine Ausbildung und wohnt bei ihrer Mutter. Erpenbecks Roman „Kairos“ ist ein Liebesroman und ein Roman über die späte DDR. Dort gab es eine Bohème, die zum Teil den Niedergang der DDR bedauerte. Beide Protagonisten bewegen sich in dieser Kunst - und Kultur - Bohéme, dementsprechend tauchen im Buch von Heiner Müller bis Christa Wolf etliche reale Namen und Örtlichkeiten auf. Auch die Autorin Jenny Erpenbeck und ihre Vorfahren entstammen diesen privilegierten Kreisen, so dass ihre Heldin Katharina durchaus auch autobiografische Züge trägt. Kein Schlüsselroman, aber Anspielungen und Symbole sind durchaus gewollt. Den Privilegien, das feste Einkommen, die garantierten Aufträge und der großen gesellschaftliche Bedeutung von Kultur stehen Zweifel gegenüber. Es geht hier um die Innensicht der etablierten Kulturszene der DDR, die sich innerhalb des Systems bewegte und von den Repressionen wenig zu spüren bekam. Das Buch spiegelt die Endzeitstimmung dieser Szene in den letzten Jahren der DDR wider. Der Titel des Buches stammt aus der griechischen Mythologie. „Kairos“ ist der Gott des glücklichen Augenblicks oder des günstigen Zeitpunkts und beschreibt zugleich den Zeitpunkt des Zusammentreffens der beiden Protagonisten, als auch die Wiedervereinigung. Katharina ist vom viel älteren Hans beeindruckt und lässt sich von ihm formen. Das mit dem historischen Glücksmoment stellt Jenny Erpenbeck mit ihrem Roman aber in Frage, sowohl in ihrer fatalen Liebe, als auch in der deutsch-deutschen Geschichte. Am Ende schaut sie sich Hans’ Stasiakte an. Ernst Reuß Jenny Erpenbeck, Kairos, Penguin-Verlag, München 2021, 379 Seiten, 22 Euro.
Jo Lendle, Autor und Verlagsleiter, vermischt in seinem Roman „Eine Art Familie“ die Biographie seines Großonkels Ludwig Lendle mit fiktiven Elementen. Jener 1899 geborene Großonkel, genannt „Lud“, war Pharmakologie-Professor, der zum Schlaf und zur Narkose, aber auch zu Giftgas forschte.
Der Roman ist eine Zeitreise vom Kaiserreich über die Nazibarbarei bis in die Nachkriegszeit in Ost- und Westdeutschland und ein persönlicher Blick auf eine spezielle Familie. Es geht um den Großonkel Ludwig und sein fast gleichaltriges Patenkind Alma, das ihre Eltern schon 1912 als elfjähriges Kind nach einem missglückten Attentat unglücklich verlor und danach zu verschiedenen Pflegeltern musste. Erst dann durfte sie zu Lud, der zuvor als zu jung erachtet wurde. Zusammen mit ihrer Haushälterin erleben sie von nun an zu dritt - als „eine Art Familie“ - die sehr wechselvolle Zeit. Alma fühlt sich zu ihrem Großonkel hingezogen, doch der fühlt sich eher zu einem ehemaligen Kriegskameraden hingezogen und ist als Eigenbrödler in seine Forschung vertieft. Seine Homosexualität lebt er nicht aus. Alma ihre Heterosexualität jedoch durchaus mit wechselnden Partnern, mit den sie keine ernsthafte Beziehung führt. Das tut sie aber mit Lud, auf ihre eigene platonische Weise. Mit ihm und der Haushälterin bilden die drei eine Art Familie, die trotz diverser Umzüge zusammenbleibt. Zu dritt überstehen sie die Nazizeit. Lud ist im Gegensatz zu seinem Bruder und seiner Mutter kein Nazi, lässt sich aber von diesen vereinnahmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Ludwig Lendle in Leipzig und ist an der Neugründung der Universität beteiligt. Er wurde Prorektor der Universität, ging dann aber nach Repressalien in den Westen, an die Uni Göttingen. Deutsche Geschichte. Lesenswert! Ernst Reuß Jo Lendle, Eine Art Familie, Penguin Verlag, München 2021, 368 Seiten, € 22,00
Kein historisches Sachbuch, aber „Glitterschnitter“ ist ein Kreuzbergroman, der das dortige Zeitgeschehen genau und ausgesprochen amüsant abbildet. Der Roman spielt 1980, knapp ein Jahrzehnt vor „Herr Lehmann“ und genauso lange vor dem Mauerfall.
Nach zuletzt „Wiener Straße“ und zuvor einigen weiteren „Lehmann-Romanen“, schreibt Sven Regener, Autor und Gründer der legendären Band „Element of Crime“, in „Glitterschnitter“ erneut über Herrn Lehmann und seine skurrilen Freunde. Alles spielt sich erneut in der Wiener Straße in Kreuzberg 36 ab. Im „Café Einfall“ (heute: Madonna ) und im „Intimfrisur“ (heute: Bar 11) tobt erneut der Wahnsinn mit irrsinnigen Dialogen und schrägen Gestalten. „Glitterschnitter“ ist eine neu benannte Band, deren Mitglieder in den Kneipen, neben Punks, Hausbesetzern und selbst ernannten Künstlern ihr Unwesen treiben. Milchkaffee, Österreich, Torten, eine Bohrmaschine und ein Kontaktbereichsbeamter spielen ebenfalls noch eine Rolle. Zwar gibt es dort heutzutage kaum noch Hausbesetzer oder Punks, denn die ehemaligen Hausbesetzer leben oft in ihren inzwischen legal übernommen Häusern und sind genauso wie die Punks alt geworden. In den Räumlichkeiten spielen sich jedoch noch heute die von Regener beschriebenen Alltagsszenen ab, denn das Klientel von „SO 36“ ist zwar älter geworden, hat sich aber irgendwie kaum geändert. Hier trifft man gehäuft Existenzen, die wohl woanders nicht bestehen könnten und man hört mitunter Dialoge und sieht Szenen, die aus Regeners Büchern abgekupfert sein könnten. Herr Lehmann, Karl, Erwin, H. R. Ledigt, Chrissie und Co. sind und bleiben in Kreuzberg 36 zuhause. Herrn Lehmanns Bruder erklärt das so: „Das ist nicht wie in Bremen. In Bremen bist du entweder immer schon da und dann geht’s, oder du brauchst ewig, damit die Leute dich akzeptieren. Hier ist das anders, hier kann jeder gleich mitmachen, kein Schwein denkt über dich nach und keiner nimmt dich ernst oder nicht ernst, ernstgenommen zu werden spielt hier überhaupt keine Rolle. Hier sind alle irgendwie gleich unwichtig oder gleich unernst oder wie auch immer.“ Bleibt zu hoffen, dass „Glitterschnitter“ nicht das letzte Buch in der „Lehmann-Reihe“ sein wird und das Kreuzberg 36 bis dorthin nicht vollkommen gentrifiziert ist, denn dann wäre es vorbei mit dem speziellen Flair dieses Kiezes. Ernst Reuß Sven Regener: „Glitterschnitter“, Berlin 2021, 470 Seiten, 24 Euro.
Atemlos berichtet der Autor und Journalist Uwe Wittstock über den ersten Monat nach Hitlers Machtübernahme. Chronologisch erzählt er Tag für Tag aus der Sicht berühmter Kunst- und Kulturschaffenden. Geradezu atemberaubend ist das Tempo, wie sich ihre Welt in diesem Monat veränderte. Schon im März 1933 sind viele der Protagonisten im Exil oder im Gefängnis.
Wittstocks Buch „Februar 33: Der Winter der Literatur“ beginnt mit dem letzten freien gesellschaftlichen Ereignis vor Hitlers Machtübernahme. Dort treffen sich am 28. Januar die Reichen, Mächtigen und Schönen beim Presseball. Das Kapitel ist mit „Der letzte Tanz der Republik“ betitelt und erzählt von zwei Ballgängern: Carl Zuckmayer und Ernst Udet. Zuckmayer schreibt später „Des Teufels General“ in Anlehnung an seinen Freund Udet, der sich den Nazis andiente. Noch ganz am Anfang des Monats schreibt der bereits nach Paris exilierte Joseph Roth an Stefan Zweig: „Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“ Viele bezweifelten zu diesem Zeitpunkt noch solche Dystopien, doch das Tempo der Veränderung war unglaublich. Thomas Mann schrieb in einem Grußwort: „Jeder Mensch von Gefühl und Verstand, auch jeder bessere Politiker, weiß, daß die Völker Europas heute nicht mehr einzeln und abgeschlossen für sich zu leben und zu gedeihen vermögen, sondern daß sie aufeinander angewiesen sind und eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Solcher Lebensnotwendigkeit irgendwelche völkische Natur-Romantik als Argument entgegenzustellen ist nichts als Quertreiberei.“ Trotzdem glaubte auch er noch lange Zeit, dass irgendwann wieder die Vernunft einkehren werde. Doch dem war nicht so. Es war bereits ziemlich gefährlich, derartige Gedanken öffentlich kund zu tun. Nazischlägertrupps trieben ihr Unwesen, gegen alles was nicht nazikonform war. Viele Journalisten, Verleger und Schriftsteller wurden zu diesem Zeitpunkt bereits überwacht und verfolgt. Wittstock schreibt: „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“ Wittstock zeigt was Bertolt Brecht, Joseph Roth, Alfred Döblin, Georg Benn, Thomas, Klaus, Heinrich, Erika Mann und andere erlebten. Er bleibt ganz dicht an den Kulturschaffenden dran, wobei erstaunlich enge Bindungen und Liebeleien zwischen den Protagonisten aus dem Kunst- und Kulturbetrieb zutage treten. Am Schluss des Buches wird der weitere Werdegang der Protagonisten beschrieben. Nicht alle überlebten. Mit kurzen Einschüben zur Infektionslage und zu politischen Morden, zeigt Wittstock Parallelen zur heutigen Zeit auf. Damals war die spanische Grippe durchaus noch virulent, politische Morde waren inzwischen an der Tagesordnung. Ein wunderbar erzähltes Buch, das anhand von persönlichen Schilderungen die Fragilität einer Demokratie und deren brutale Zerstörung unmittelbar erlebbar machen. Bleibt nur zu hoffen, dass das Erlebnis aufs Lesen beschränkt bleibt. Ernst Reuß Uwe Wittstock: „Februar 33: Der Winter der Literatur“, München 2021, 287 Seiten, 24 Euro.
Das Buch „Karrieren der Gewalt: nationalsozialistische Täterbiographien“ ist zwar schon vor längerer Zeit erschienen, aber immer noch aktuell.
Nicht alle der im Buch beschriebenen Täter sind öffentlich bekannt. Gerade deswegen sollte man sich die 23 Täterbiografien und ihre Namen merken. Sie hießen: Gustav Freiherr von Mauchenheim, Heinrich Bergmann, Adolf von Bomhard, Dr. Oskar Dirlewanger, Erich Ehrlinger, Hans Gaier, Curt von Gottberg, Heinrich Hamann, Georg Heuser, Ilse Koch, Hans Krüger, Gustav Lombard, Georg Michalsen, Walter Nord, Rudolf Pallmann, Walter Reeder, Heinz Seetzen, Gertrud Slottke, Ernst Szymanowski alias Biberstein, Will Tessmann, Christian Wirth, Paul Zapp und Egon Zill . Viele Massenmörder waren dabei, darunter erstaunlicherweise sogar ein Pastor. Wegen seiner Taten wurde er zum Tode verurteilt, als Geistlicher aber begnadigt und 1958 entlassen. Nach seiner Freilassung arbeitete er vorübergehend wieder in der Kirchenverwaltung. In ihrer Einleitung unterscheiden die Herausgeber fünf Tätertypen: Die Opportunisten aus Karrieregründen, die Weltanschauungstäter, die Exzesstäter, die Schreibtischtäter und die „Mischung aus Schreibtisch- und Direkttätern, aus Vordenkern und Vollstreckern“. Zum Massenmörder zu werden hatte nichts mit Befehlsnotstand zu tun, auch wenn das häufig behauptet wurde. Beispiele sind der 1906 geborenen Bäckergesellen Egon Zill, dem im KZ Dachau Gewalttätigkeit der Inbegriff der Männlichkeit zu sein schien oder der 1895 geborene Oskar Dirlewanger, der ich in den besetzten Gebieten an sadistischen Gewaltinszenierungen, Plünderungen, Massenvergewaltigungen und Morden ergötzte. Im Buch werden auch die Nachkriegskarrieren der Täter berücksichtigt. Einige nahmen eine neue Identität an. Die meisten kehrten allerdings in ihr altes Leben als Biedermänner zurück und machten mitunter Karriere. Viele der Täter waren bereits zur Zeit der Weimarer Republik in den Polizei- oder Militärdienst eingetreten und machten nach dem Krieg dort einfach weiter. So wurde Heinrich Bergmann 1955 beim Bundeskriminalamt wieder eingestellt und auch Walter Nord gelang nach einigen Umwegen 1956 die Rückkehr in den Polizeidienst. Wie Bergmann wurde Nord in den 60er-Jahren von seiner Vergangenheit eingeholt, als die Justiz Ermittlungen anstrengte. Georg Heuser wurde 1958 sogar Leiter des Landeskriminalamts von Rheinland-Pfalz, obwohl er in Minsk eigenhändig an der Vernichtung von Juden beteiligt war. Die beschriebenen 23 Täter waren sicherlich keine Ausnahmen im Nachkriegsdeutschland. Ernst Reuß Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul [Herausgeber]: Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013, 282 Seiten, 20 Euro.
Der Autor Joachim Wagner, ein Jurist und ehemaliger Fernsehredakteur, möchte mit seinem gerade erschienenen Buch „Rechte Richter“ auf das Problem von möglicherweise rechtsradikalen Richtern, Staatsanwälten und Schöffen aufmerksam machen.
Richter dürfen selbstverständlich in politischen Parteien sein, denn der Rechtsstaat vertraut darauf, dass sie auch in Robe politisch neutral handeln. Seitdem eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag eingezogen ist, scheinen diesbezüglich die Grenzen oft massiv überschritten zu werden. Einige Mitglieder der Judikative versuchen auch mittels der „dritten Gewalt“ Politik zu machen. Ein Rechtsanwalt dieser Partei hat es ja sogar tatsächlich geschafft zeitweilig Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags zu werden, wo er hauptsächlich mit Beschimpfungen und Beleidigungen von Andersdenkenden auffiel, bevor er abgelöst wurde. Wagner beschreibt einige Beispiele von „rechter Rechtsprechung“: Ein thüringischer Staatsanwalt leitete ein Ermittlungsverfahren gegen die Aktionskünstlergruppe „Zentrum für Politische Schönheit“ wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ ein, nachdem B. Höcke sie als solche bezeichnet hatte. Beleidigungsverfahren gegen rechte Hetzer stellte er vielfach mit absurden Begründungen ein, die auf eine rechte Gesinnung schließen lassen könnte. Er verglich dabei beispielsweise Auschwitz mit Waterloo. Seltsam, dass seine Vorgesetzten da nicht vorher hellhörig wurden. Nachdem in einem Facebook Chat darüber schwadroniert wurde Benzin für ein Flüchtlingsheim zu besorgen, urteilte ein sächsischer Richter „In diesem Zusammenhang ist nach Ansicht des Gericht die Entscheidung der Bundeskanzlerin, eine bisher nicht bekannte Anzahl von Flüchtlingen unkontrolliert ins Land zu lassen, viel mehr geeignet den öffentlichen Frieden zu stören, als der Facebook-Kommentar des Angeklagten.“ Ein hessischer Verwaltungsrichter, der den Slogan „Migration tötet“ als eine „empirisch zu beweisende Tatsache“ wertete, die deshalb nicht als „volksverhetzend zu qualifizieren“ sei, durfte weiterhin über Asylverfahren entscheiden. Befangenheitsanträge wurden lange abgelehnt. Das Verwaltungsgericht Gera fällt damit auf, sehr restriktiv über Asylbegehren zu entscheiden. Weniger Probleme hatte das Gericht, beziehungsweise dessen Richter, mit Freundschaften zu vom Verfassungsschutz beobachteten Personen. Erstaunlicherweise wurden aber martialische Fackelzüge zu Hitlers Geburtstag oder zur Reichspogromnacht genehmigt. Zwar ist die Urteilsschelte, ohne Kenntnis der gesamten Akten und Umstände, nicht immer nachvollziehbar und eine zwiespältige Sache, aber einem Juristen mit historischer Bildung, dreht sich bei solchen Urteilen der Magen um. Solche Richter gab es zwar auch schon früher, aber seit Aufkommen der AfD wagen sie es jedoch anscheinend immer häufiger völkisch zu argumentieren, denn sie glauben ja „das Volk“ zu sein und ein „Widerstandsrecht“ gegen den Staat zu besitzen - was sich auch bei den Corona Maßnahmen zeigte. Ob das alles einen erneuten „Radikalenerlass“ rechtfertigt, ist nach den diesbezüglich gemachten Erfahrungen eher zweifelhaft. Auf jeden Fall sollte man bei politisch motiviertem Missbrauch des Rechts, vor allem auf Vorgesetztenebene, wachsam bleiben. Der Autor versteht sein Buch als warnenden Fingerzeig im Sinne von „Wehret den Anfängen“. Für Juristen und nicht nur für die, trotz einiger langatmiger Passagen, sicherlich lesenswert. Ernst Reuß Joachim Wagner: „Rechte Richter. AfD-Richter, -Staatsanwälte und -Schöffen: eine Gefahr für den Rechtsstaat?“, Berlin 202, 194 Seiten, 29 Euro |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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