Nur wenige wissen, dass John F. Kennedy nicht nur 1963 in Deutschland war um seine Rede mit dem berühmten Zitat „Ich bin ein Berliner“ zu halten, sondern bereits dreimal zuvor. 1937, 1939 und 1945.
Der 20-Jährige John F. Kennedy und sein Freund Lem Billings besuchten Deutschland schon in Studienzeiten. Gemeinsam unternahmen die beiden abenteuerlustigen Studenten im Sommer 1937 eine zweimonatige Europa-Reise von Frankreich über Italien, Österreich, Deutschland, die Niederlande und Belgien bis nach England. Beide schrieben ihre Erlebnisse jeweils in ein Tagebuch, die nun vom DVB Verlag in Wien veröffentlicht wurden. DVB steht für „das vergessene Buch“. In der Tat wären die Reiseberichte vergessen worden, wenn nicht Kennedy 24 Jahre nach seiner ersten Reise zum 35. Präsident der USA gewählt worden wäre und seit seiner Ermordung eine Legende ist. Heute weiß man einiges besser als die beiden im Jahre 1937, die durchaus naiv mit dem Thema Faschismus umgingen. Aber Reisen bildet bekanntlich und die damals gemachten Erfahrungen flossen später sicherlich auch in Kennedys Außenpolitik ein. Kennedy und Billings waren in einem Ford-Cabrio unterwegs, das sie eigens auf dem Schiff mit überführt hatten. Einige Formulierungen ihrer Tagebüchern gleichen sich aufs Wort. Spaß mit Mädchen ist ein immer wiederkehrendes Thema der beiden jungen Männer. Streit hatten sie häufig mit ihren Zimmerwirten und hielten die Franzosen für betrügerisch und die Italiener unter Mussolini für straff organisiert. Offenbar hegte Kennedy für Letzteres eine gewisse Sympathie. Kennedys Vater Joseph war ein Demokraten und wurde Ende 1937 als US-Botschafter nach London berufen. Er war der Ansicht, dass sein Land sich aus europäischen Konflikten heraushalten solle. Sein Sohn zitiert in seinem Tagebuch einen Autor mit der Erkenntnis „Faschismus sei das Richtige für Deutschland und Italien, Kommunismus für Russland und Demokratie für Amerika und England.“ Die beiden Freunde nahmen oft Anhalter mit, offenbar gegen Benzinkostenbeteiligung, und glaubten dadurch einiges über das Land zu erfahren. Vermutlich hatte das Kennedys Blick getrübt, obwohl ihm der Zusammenhang zwischen der Propaganda und dem Zuspruch, den die Männer an der Spitze Italiens und Deutschlands erfuhren, an sich klar war. Über Deutschland schrieb er: „Die Städte sind alle sehr reizend, was zeigt, dass die nordischen Rassen den romanischen gewiss überlegen zu sein scheinen.“ 1937 lag nach den olympischen Propagandaspielen und noch vor der Eingliederung Österreichs, dem Münchner Abkommen und den antisemitischen Pogromen vom November 1938. Neben zahlreichen interessanten Archivfotos von den Reisen hat der Germanist und Herausgeber Oliver Lubrich ein aufschlussreiches Nachwort geschrieben, das sowohl die Hintergründe der Unternehmung im Jahr 1937 erläutert als auch von Kennedys Deutschland-Besuche der Jahre 1939, 1945 und 1963 berichtet. Zum Abschluss seines Tagebuchs stellt sich Kennedy die Frage, ob der Faschismus, wie er gelesen hatte „die krampfhafte letzte Zuckung des kapitalistischen Zyklus“ sei und „lediglich das Vorspiel zum Kommunismus wäre.“ Ernst Reuß John F. Kennedy, Kirk LeMoyne Billings: „Das geheime Tagebuch: Europa 1937“, DVB Verlag, Wien. 224 S., 22 Euro.
Der englische Historiker und BBC Drehbuchautor Dominic Sandbrock bemüht sich Geschichte und Geschichten fühlbar zu machen. Laut Verlagsempfehlung können die Bücher ab 10 Jahren gelesen werden. Es sind also historische Kindersachbücher. Die „Fühlbarmachung“ gelingt ihm dabei durchaus und kann auch für andere Altersgruppen ansprechend sein.
In Teil 1 seiner Weltgeschichten-Reihe erklärt er den Zweiten Weltkrieg. In Teil 2 zeichnet er das kurze Leben von Alexander dem Großen nach. Nicht nur Hitler und Stalin spielen eine Rolle in seinem Buch über den Zweiten Weltkrieg. Churchill und die englische Sichtweise sind natürlich wichtig. Daher wird nicht nur eurozentristisch berichtet, sondern aus der ganzen (kolonialen) Welt, wobei die Rolle Japans im Zweiten Weltkrieg sehr viel Beachtung findet. Mittels vieler realer Protagonisten macht Sandbrock Geschichte nachvollziehbar. Nicht nur Sophie Scholl und Anne Frank kommen vor, sondern auch ganz normale Menschen. Beispielsweise erlebt eine 10-jährige die Invasion Polens mit, ein dänische Student hilft zahlreichen Juden bei der Flucht und Widerstandskämpfer flüchten aus einem deutschen Hochsicherheitstrakt in die neutrale Schweiz. Daneben werden viele Schlachten und Heldenepen erzählt. In anderen Teilen der Erde meucheln die Japaner und marschieren in China ein. Eine australische Krankenschwester überlebt eines der japanischen Massaker. In Pearl Harbor kämpft ein Marinekoch, ein australischer Soldat befreit sich aus der Gefangenschaft im Dschungel und eine japanische Schülerin überlebt die Atombombe auf Hiroshima. Im zweiten Band widmet er sich dem größten Eroberer aller Zeiten. Im Gegensatz zum ersten Band Zweiten Weltkrieg verfällt er dabei offenbar einem brutalen Invasoren, der ohne Skrupel, auch gegenüber seinen eigenen Soldaten die ganze bekannte Welt erobern will. Sandbrock erzählt voller Bewunderung von einer antiken Welt voller mythischer Götter und sagenhafter Städte. Es geht um Alexander den Großen, der sich als Sohn von Zeus sieht. Es ist ein Heldenepos ohne kritische Hinterfragung eines offenbar ziemlich aggressiven und blutrünstigen Mannes, der schließlich unter mysteriösen Umständen mit nicht einmal 33 Jahren stirbt, nachdem er zuvor viele Menschen eigenhändig umgebracht und daher viele Feinde hatte. Trotzdem. Für denjenigen, der für unter den Weihnachtsbaum noch etwas braucht für Nichten, Neffen oder sonstig zu beschenkende jüngere Menschen, denen man neuere Geschichte oder die Antike näher bringen will. Dominic Sandbrook, Weltgeschichte(n) - Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg, Die Weltgeschichten-Reihe (1), cbj Kinderbücher, 368 Seiten. Dominic Sandbrook, Weltgeschichte(n) - König der Könige: Alexander der Große, Die Weltgeschichten-Reihe (2), 3cbj Kinderbücher, 336 Seiten. Deutsche Erstausgabe aus dem Englischen von Knut Krüger, die gebundene Ausgabe jeweils für 14 Euro. Der dritte Band zum Ersten Weltkrieg erscheint demnächst. Ernst Reuß
„Dieses Buch geht zurück auf eine mehrjährige Recherche für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) und das Handelsblatt. Was mit einem Fall von illegaler Polizeigewalt begann, auf den wir 2017 aufmerksam gemacht wurden, weitete sich schnell aus zu einer vertieften Langzeitbeobachtung. Denn recht bald wurde uns klar, dass hinter Polizeigewalt und anderem polizeilichem Fehlverhalten ein Systemversagen steckt.“ So beginnt das Buch „Tatort Polizei“ von zwei renommierten Journalisten vom Handelsblatt, beziehungsweise vom WDR.
Es ginge nicht darum die Polizei unter Generalverdacht zu stellen, sondern man wolle lieber dafür „streiten, das das Wirken der Polizei durch unabhängige Kontrolle gegen Zweifel und Vertrauensverlust schützt.“ schreiben die Autoren Jan Keuchel und Christina Zühlke in ihrem Vorwort. Es geht also darum Vertrauen zu generieren. Das Buch ist ein Plädoyer für unabhängige Ermittlungsbehörde auch gegen homophobe, rassistische und rechtsradikale Umtriebe. Es sind keine absolut spektakulären Fälle über die berichtet wird, sondern die eher unspektakulären, wie den einer gewaltsamen Festnahme am Christopher Street Day in Köln, der sich durch das ganze Buch zieht. Spektakulär wird der Fall erst mit der Vehemenz der Staatsanwaltschaft, die das Opfer und nicht die vermeintlichen Täter verfolgt. Erst nach Jahren und mehreren Prozessen, wird von einem nicht der Kumpanei verdächtigen Richter Recht gesprochen. Der Angeklagte wird freigesprochen, Polizei und Staatsanwaltschaft stehen am Pranger. Der Polizei wird ein schwerer Job, aber auch rechtswidriges Handeln attestiert. Die Staatsanwaltschaft gibt trotzdem nicht klein bei und erwirkt ein weiteres Verfahren - ebenfalls erfolglos. Die Ermittlungen gegen die Polizei gehen nur sehr, sehr langsam voran und enden nach Jahren mit einer Einstellung des Verfahrens gegen eine geringe Geldbuße. Ermittelt hatte dieselbe Staatsanwältin, die das Verfahren gegen das Opfer mit aller Vehemenz vorantrieb. Wenn Polizisten das Gesetz brechen, werden sie in den meisten Fällen nicht angezeigt, denn die Opfer fürchten zurecht die Ausweglosigkeit dieses Unterfangens. Bei Ermittlungen errichten Polizisten aufgrund des „Korpsgeistes“ oftmals eine „Mauer des Schweigens“. Aussagen werden verweigert und man deckt sich gegenseitig. Ein anderer Fall: eine Hinweisgeberin von rechtsradikalen Chats, wurde erst vom zuständigen Innenminister gelobt, dann vom Polizeipräsidium suspendiert. Die Verfasser der rechtsradikalen Chats erst mal nicht. Wer bei der deutschen Polizei intern aufbegehrt oder gar Kollegen anzeigt, büßt oft mit Schikane und Mobbing. Wenn wie im Ausgangsfall Polizisten beleidigen, drohen und schlagen, werden sie so gut wie nie bestraft. Nur selten kommt es zu einer Anklage. Zumindest nicht gegen die Polizeibeamten. Geht ein Verfahren gegen Polizisten doch einmal vor Gericht, dann sprechen Polizisten ihre Aussagen offenbar ab. In diesem Fall hatte eine Polizeischülerin nicht mitgemacht. Schnell wurde trotzdem auch hier ein „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ konstruiert und mit einer Gegenanzeige gekontert. Solche Fälle sind vielfach belegt. Die Staatsanwaltschaft hat eigentlich die Aufgabe nicht nur die belastenden, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände objektiv zu ermitteln und wird daher häufig auch als „objektivste Behörde der Welt“ bezeichnet. Mit der Wirklichkeit hat das nur zum Teil zu tun, denn Staatsanwaltschaft und Polizei arbeiten eng zusammen. Das „Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei“ ist ein Dauerthema der justiz- und kriminalpolitischen Diskussion in Deutschland. Offiziell gelten Polizisten als „Hilfsbeamte“ der Staatsanwaltschaft, auch wenn es oft umgekehrt scheint. Objektiv wirkt die Staatsanwaltschaft, wie in den im Buch beschriebenen Fällen, oftmals nicht. In anderen Ländern funktionieren Ermittlungen gegen Polizisten anders: Sie sind ausgelagert und unabhängig. Neutrale Ermittlungsbehörden helfen auch gerade der Polizei selbst, denn die stünde dann nicht mehr im Geruch des Korpsgeistes. Das würde ihnen in ihrem - gerade in der heutigen Zeit - äußerst schwierigen Job, letztendlich viel mehr nutzen, als Taten von schwarzen Schafen innerhalb der Behörde zu verschleiern. In Deutschland wehrt sich nicht nur die Polizeigewerkschaft gegen solche Pläne. Ernst Reuß Keuchel, Jan / Zühlke, Christina, Tatort Polizei, Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle, ein Report, München 2021, 219 S., 16 €
Zwischen März und November 1945 reiste der britische Autor George Orwell als Kriegsberichterstatter durch Deutschland und Österreich. Er schrieb für englische Zeitungen. Seine Reportagen schilderten frei von Triumph- oder Rachegefühlen, welche Zerstörung der Krieg über Städte, Länder und Menschen gebracht hatte. Teilweise zeigte er sogar Verständnis für die gebeutelte Bevölkerung und die gedemütigten Soldaten. Es ist zu vermuten, dass Orwells Urteil über die Deutschen härter ausgefallen wäre, hätte er auch eines der befreiten Konzentrationslager besucht. 1936 hatte er noch als Freiwilliger vergeblich auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft. Neun Jahre später hatte die Zerstörung unvorstellbare Dimensionen erreicht.
Orwell empfand die mangelnde Lebensmittelversorgung und die Zerstörung als bedrückend und war skeptisch, wie das gewaltige Trümmerfeld von der Normandie bis nach Stalingrad wiederaufgebaut werden könne. Er sah eine humanitären Katastrophe auf Europa zukommen. Millionen Displaced Persons irrten durch die Länder, hinzu kamen Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten. Unklar war auch, wie mit Deutschland und den Millionen deutschen Kriegsgefangenen zu verfahren sei. Die Texte aus jener Zeit sind nun unter dem Titel „Reise durch Ruinen“ erschienen. Seine Reportagen sind einige Jahre vor seinem wohl berühmtesten Roman „1984“ erschienen. Die „Animal Farm“ war noch nicht veröffentlicht. Laut Orwell wäre die Lösung für die Probleme eine multilaterale Welt, in der die Siegernationen auch künftig zusammenarbeiten müssten. Orwells Hoffnung setzte sich jedoch nicht so ganz durch. Spätestens mit dem Brexit, scheint sich auch in seiner Heimat das durchgesetzt zu haben, vor dem Orwell immer gewarnt hatte. Er fürchtete schon zu Beginn des „Kalten Krieges“ das Scheitern der multilateralen Nachkriegsverhandlungen. In seinem Erfolgsroman „1984“ malte er dies in den düstersten Farben aus. Ergänzt werden seine Nachkriegsreportagen von 1945 durch frühere Artikel. Noch im März 1940 hatte er geschrieben: „Nehmen wir mal an, dass Hitlers Programm tatsächlich umgesetzt werden kann. Was er sich vorstellt, das es in hundert Jahren ein zusammenhängendes Reich von 250 Millionen Deutschen mit jeder Menge ‚Lebensraum‘, das sich bis nach Afghanistan oder so ähnlich erstreckt. Ein schrecklich hirnloses Reich, in dem eigentlich nicht viel passiert, außer dass neues Kanonenfutter gezeugt wird und junge Männer zu Soldaten erzogen werden.“ Eins Nachwort des Historikers Volker Ullrich beschließt das Büchlein. Lesenswert! Ernst Reuß Orwell, George, Reise durch Ruinen, Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945, München 2021, 111 Seiten, 16 €
Das Gericht urteilte am 10. November 1943: „Der Angeklagte wird als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher wegen widernatürlicher Unzucht mit 18 Männern, meistens gegen Entgelts, wegen Diebstahls und Erpressung zum Tode verurteilt“
Verurteilt worden war der 21-Jährige Franz Doms, der drei Monate später - am 7. Februar 1944 - auf dem Schafott im Hinrichtungsraum des so urteilenden Landesgerichts Wien starb. Er wurde getötet, weil er schwul war. Der „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und „der Sittlichkeitsverbrecher“ verfielen laut Gesetz der Todesstrafe, „wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern.“ - ein Gummiparagraph. Franz galt als hoffnungsloser Fall, da er immer wieder „rückfällig“ wurde. Für die Nazis war er ein „bevölkerungspolitischer Blindgänger", der „die Seuche der Homosexualität" verbreitete. Sein Freund war ein „Schlurf“, so nannte man damals junge Leute mit langen Haaren und überlangen Koteletten, die von den Nazis ebenfalls als potentielle Oppositionelle verfolgt wurden. Franz beging das „Verbrechen“ sich auf sein eigenes Schwulsein einzulassen, das er nicht verbergen konnte. Nicht nur er wurde deswegen verfolgt. Franz Doms war eines der vergessenen Opfer der NS-Justiz. Der Autor und ORF - Redakteur hat sich mit ihm intensiv beschäftigt, nachdem im Radio sein Feature „Mit einem Warmen kein Pardon“ gesendet wurde. Mit seinem Buch „Franz – Schwul unterm Hakenkreuz“ hat er ihm erneut ein Denkmal gesetzt. Ernst Reuß Jürgen Pettinger, Franz. Schwul unterm Hakenkreuz, Wien 2021, 192 Seiten, 22,00 €
„Ein Ereignis nach dem anderen stellte den Fortbestand der vertrauten Welt in Frage. Angela Merkel, die 1989/90 bereits den Zusammenbruch eines Systems und die Umwälzung ihres gesamten Alltagslebens erfahren hatte, war darauf womöglich besser vorbereitet als andere Politiker.“
So beschreibt der Autor Ralph Bollmann, ein Historiker und Journalist der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, in seinem 800-seitigen Buch „Die Kanzlerin und ihre Zeit“ Angela Merkel. Es ist die Biographie zum Ende ihrer 16-jährigen Amtszeit. In den ersten 100 Seiten widmet er sich ihrer Zeit vor der Politik, auch ihrer Phase als „Hausbesetzerin“ und „Backpackerin“. Es lässt viel von ihrem Wesen erahnen. Während der Wendezeit, mit 35 Jahren, dann ihr Sprung in die Politik. Bollmann beschreibt auch da detailliert die wichtigsten Momente. Vom Beginn im „Demokratischen Aufbruch“, zur stellvertretende Regierungssprecherin in der 1990 frei gewählten Regierung der DDR, zur Bundestagsabgeordneten bei der ersten gesamtdeutschen Wahl am 2. Dezember 1990. Die Blitzkarriere ging danach fast ungebremst weiter. Nur ein Jahr nach ihren ersten politischen Gehversuchen und ihres Eintritts in die CDU war sie Ministerin und Parteivize. Bundeskanzler Kohl förderte die für ihn vermeintlich ungefährliche Frau aus dem Osten. Es folgten Lehrjahre, aber schon 1998 war sie Generalsekretärin der CDU und im Jahr 2000 Vorsitzende der Partei, nachdem sie sich von Kohl nach dessen Spendenaffäre gelöst hatte. 2005 wurde sie dann Kanzlerin und niemand hätte gedacht, dass sie das in den nächsten 16 Jahren bleiben würde. Bollmann beschreibt ihren Werdegang sehr akribisch, mit allen Winkelzügen und parteipolitischen Intrigen. Erstaunlich aber, dass er bei der von Schröder initiierten vorgezogenen Neuwahl mit keinem Wort eine in Gründung befindliche neue Partei erwähnt, die möglicherweise auch zu Schröders Entschluss beigetragen hat. PDS und Linke sind für Bollmann kaum eine Erwähnung wert. Sein Blick richtet sich eher nach rechts. Die AfD, Hass und Hetze nimmt er ausführlicher wahr. Bollmann beschränkt sich bei seiner Analyse ansonsten hauptsächlich auf die von ihm wahrgenommenen Altparteien. Ein gewisses Verständnis für den „besorgten Bürger“ scheint der Autor möglicherweise zu haben, wenn er von einem „728-prozentigen Anstieg“ des Ausländeranteils in Thüringen zwischen 1991 und 2018 spricht. Weniger effektheischend und sachlich richtig wäre es gewesen, wenn man die weitaus weniger beeindruckende Anzahl von ausländischen Mitbürgern in Thüringen genannt hätte, wo vor der Wende kaum ein Ausländer lebte. Auch heute noch ist der Ausländeranteil in Thüringen der geringste aller Bundesländer. Einige Seiten lang beschäftigt er sich auch mit Merkels Frisur und Kleidung. Aber er zeichnet auch das Bild einer klugen und ruhigen Pragmatikerin, deren Gegner sich meist selbst erledigten. Ausführlich werden schließlich die Jahre der Krisen beleuchtet, in denen Merkel zur Weltpolitikerin und Krisenmanagerin reifte und sich in den Finanz-, Euro-, Ukraine-, Griechenland- und „Flüchtlingskrisen“ bewährte. Krisen über Krisen! Nicht zu vergessen dabei der Brexit, Donald Trump und Corona. Im Rückblick wird erst deutlich, welch immenses Pensum Angela Merkel geleistet hat und was es heißt derart lange Kanzlerin zu sein. Bollmann arbeitet Jahr um Jahr, Ereignis um Ereignis, Krise um Krise akribisch auf und eine weltweiten Riege von inzwischen wohl weitgehend vergessenen, sich überaus wichtig wähnende Politiker ziehen an einem vorbei. Das Buch zeigt eine außergewöhnliche Frau, die ein ganzes Zeitalter entscheidend mitgeprägt hat. Die Biografie endet mir dem Satz: „Einiges deutet darauf hin, dass sich viele Menschen nach dieser Stabilität bald zurücksehnen werden.“ Er meint damit Merkels sachliche, ruhige und unaufgeregte Politik. Möglicherweise wird das bald genauso sein. Ernst Reuß Ralph Bollmann, Angela Merkel, Die Kanzlerin und ihre Zeit, C.H. Beck Verlag, München 2021, 800 Seiten, 29,95 EUR |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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