Sobibor ist nicht nur der Namen eines furchterregenden Vernichtungslagers, sondern auch Synonym für den Widerstand der geknechteten und gequälten jüdischen Häftlinge. Am 14. Oktober 1943 kam es im NS-Vernichtungslager Sobibor zu einem Aufstand, bei dem mindestens 12 SS-Männer und 10 ukrainische Helfer getötet wurden. Danach wurde das Lager von den Nazis aufgegeben und die Spuren verwischt. Die Rote Armee war nicht mehr weit.
Für den Aufstand hatten sich ungefähr 50 Verschwörer zusammengetan, die noch als Arbeiter gebraucht wurden und daher nicht sofort vergast worden waren. Sie wussten jedoch was auch ihnen bevorstand, denn sie sahen die ankommenden Züge und erlebten was tagtäglich in den Gaskammern geschah. Unter dem Kugelhagel der alarmierten ukrainischen Wachleute wurde von den Häftlingen das Lagertor durchbrochen, um in den nahen Wald zu fliehen. Im Kugelhagel und im Minenfeld starben etliche schon beim Fluchtversuch. Danach begann eine mörderische Hetzjagd, der auch viele zunächst erfolgreich Geflüchtete zum Opfer fielen. Von den 550 Insassen zum Zeitpunkt des Aufstands sollten nur 53 die nächsten Monate überleben. Einer davon war der 1906 in Chełm/Polen, unweit der ukrainischen Grenze, geborene Kalem Wewryk. Bereits 1984 verfasste er auf jiddisch seine Autobiographie. Howard Roiter übersetzte sie ins Englische und veröffentlichte 1999, zehn Jahre nach Wewryks Tod, das Buch „To Sobibór and Back: An Eyewitness Account“ in Kanada. Es ist dem Metropol Verlag in Zusammenarbeit mit dem österreichischen bahoe Verlag und dem Bildungswerk Stanisław Hantz zu verdanken, dass es das Buch nun endlich auch auf Deutsch gibt. Kalem führte ein einfaches Dasein als Tischler und war seit 1934 mit Jocheved verheiratet. Sie hatten einen Sohn Jossele und eine Tochter namens Pesha. 1942 wurde seine Familie von den Nazis verschleppt. Danach hat Kalem Wewryk nie wieder etwas von seiner Frau und seinen beiden Kindern gehört. Die Mehrzahl der 12 000 Juden aus Chelm wurden in Sobibor ermordet. Kurz Zeit später wurde auch Kalem Wewryk nach Sobibor verschleppt. Als Tischler entging er der sofortigen Ermordung. Es war ein schreckliches Dasein, das jeden Tag mit dem Tod hätte enden können. Seine Ankunft beschrieb er so: „Als der Zug das Lager erreichte, konnten wir die SS brüllen hören. Wir rochen den Gestank von verbrennendem Menschenfleisch. Ein großes Tor wurde geöffnet, um den Zug in das Lager einzulassen, dann kam er zum Stehen. (...) Es gab viele Ukrainer in Sobibor - schreckliche Mörder. Außergewöhnliche Sadisten. Sie führten uns ab. Wir durften nicht gehen - wir mussten rennen. Die Ukrainer trieben uns wie Tiere vor sich her, peitschten und schlugen auf unsein, brüllten «Parshive zyd» (dreckige Juden) und beschimpften uns mit allen möglichen anderen Flüchen.“ Unter den Häftlingen herrschte nur wenig Solidarität, was ihre Bewacher nutzen konnten. Nur die, die alles machten was von ihnen verlangt wurde, konnten überhaupt überleben. Mancher konnte das nicht mit sich vereinbaren und beging Suizid. Während des Aufstandes im Oktober 1943 gelang Kalem die Flucht in die Wälder. Deutsche, polnische und ukrainische Verfolgern waren auf seinen Fersen. Die aus Sobibor entkommenen Juden wurden in der Umgebung nicht mit offenen Armen aufgenommen. Viele wurden noch nach der Flucht auch von Einheimischen ermordet. Sei es aus Angst vor den Nazis, aber auch weil sie sich am Vermögen der Rückkehrer bereichert hatten. Auch auf der Flucht hätte jeder Tag mit dem Tod enden können. Schließlich stieß Wewryk auf sowjetische Partisanen und schloss sich ihnen an. Auch über die Zeit mit ihnen berichtete er: „Lange war ich weniger als eine Kakerlake auf dieser Erde gewesen. Für fast jeden, ob Soldat oder Zivilist, war ich Freiwild gewesen. Mein Leben war ein von Verrätern und Banditen bevölkerter Albtraum gewesen. Und jetzt konnte ich zurückschlagen! Ja, ich könnte fallen, doch es wäre im Kampf, während ich den Deutschen und ihren Kollaborateuren eine überfällige Schuld zurückzahlte. Ich war zum ersten Mal seit Langem glücklich!“ Er meinte: „Lassen Sie sich nichts anderes einreden -Rache ist tatsächlich süß.“ 1946 heiratete er erneut und bekam mit der Auschwitz-Überlebenden zwei Kinder. In Polen fühlte er sich wegen des sich wieder manifestierenden Antisemitismus, wie zum Beispiel beim Pogrom von Kielce, nicht wohl und emigrierten 1956 nach Paris, von wo er mit seiner neuen Familie 1968 nach Kanada auswanderten. Ernst Reuß Kalmen Wewryk, Nach Sobibor und zurück, Herausgegeben vom Bildungswerk Stanisław Hantz, aus dem Englischen von Ekpenyong Ani, Metropol Verlag, Berlin 2020, 176 S., 14 € Mit einem Beitrag von Andreas Kahrs und Steffen Hänschen zum Ghetto Chełm und dem Vernichtungslager Sobibor Weitere Literatur zum Thema: Aleksandr Petscherski: Bericht über den Aufstand in Sobibor. Herausgegeben und übersetzt von Ingrid Damerow. Mit einem Beitrag von Stephan Lehnstaedt. Metropol Berlin 2018, 137 Seiten, 19 Euro Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Metropol Verlag, Berlin 2018, 608 Seiten, 29,90 Euro Sara Berger, Experten der Vernichtung, Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, 622 Seiten, Mit 23 Abbildungen, Hamburg 2013, 28 Euro Jules Schelvis, Vernichtungslager Sobibór, Unrast Verlag, Münster 2012, 360 Seiten, 20 Euro Thomas Tiovi Blatt, Sobibór – der vergessene Aufstand, Unrast Verlag, Münster 2004, 254 Seiten, 18 Euro Thomas Tiovi Blatt, Nur die Schatten bleiben, Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor, Aufbau Verlag, Berlin 2000, 335 Seiten
Nach Hitlers Tod ist der Krieg noch nicht zu Ende, aber es sollte nicht mehr lange dauern. Acht Tage danach kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Am frühen Morgen des 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Namen des deutschen Oberkommandos die Gesamtkapitulation aller Streitkräfte im Alliierten Hauptquartier in Reims. Am nächsten Tag wird die Zeremonie in Berlin-Karlshorst wiederholt.
Bereits am 28. April hatte Generaloberst Bersarin, der Militärkommandant der Stadt Berlin, bekannt gegeben, dass die gesamte administrative und politische Macht in Berlin auf ihn übergegangen sei. Doch erst als Hitler sich selbst umbrachte, fühlte sich General Weidling, der letzte verbliebene Kampfkommandant der Wehrmacht, nicht mehr an seinen Eid gebunden und gab auf. Sein Kapitulationsbefehl am 2. Mai lautete: „Am 30. April 45 hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm Treue geschworen hatten, im Stich gelassen [...]. Jede Stunde, die ihr weiterkämpft, verlängert die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung Berlins und unserer Verwundeten. Jeder, der jetzt noch im Kampf um Berlin fällt, bringt seine Opfer umsonst [...].“ Der Historiker und Journalist Volker Ullrich schildert diese letzten acht Tage des „Tausendjährigen Reiches“, indem er Ereignisse schildert, die an diesem Tage passiert sind. Tage in denen niemand wusste wie es weitergeht. Ein großes Durcheinander, bestehend aus deutschen Flüchtlingen aus dem Osten, KZ Häftlingen auf ihrem letzten Todesmarsch, bereits befreiten KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, sogenannten Displaced Persons. Ein „Ameisenhaufen“. Ullrich schreibt: „In den letzten Wochen des ‘Dritten Reiches’ war es ein alltägliches Bild: Tausende von KZ-Häftlingen schleppten sich, häufig wandelnden Skeletten gleichend, über Landstraßen durch Dörfer.“ Viele wurden noch in den letzten Kriegstagen vor Ort gemeuchelt, auch ohne Befehle von ganz oben. Ullrich berichtet mit wohltuend objektiven und vorurteilsfreien Blick aber nicht nur davon, sondern auch von Vergewaltigungen und Nachkriegsprostitution. Ergänzt wird die Schilderung der letzten acht Tage mit einem Prolog über Hitlers Selbstmord und einem Epilog. Dönitz, Speer und andere versuchen die Zeit zu nutzen, um vor dem Sieger gut dazustehen. Zu vielen von ihnen gelang das auch und sie führten nach dem Krieg ein gutbürgerliches Dasein. Ihre Reden und Handlungen sind damals ausgesprochen nationalistisch und selbstmitleidig. Über das von ihnen mitverursachte Massenmorden scheinen sie sich wenig Gedanken zu machen. Während Protagonisten des „Dritten Reiches“ versuchen ihre Haut zu retten, suchen Amerikaner nach Wissenschaftlern, wie Wernher von Braun, die sie sofort in die USA verfrachten. Die Rote Armee sucht währenddessen nach Adolf Hitler, dessen vollkommen verbrannte Leiche man schließlich anhand seines Gebisses identifiziert. Es sind keine spektakulären neuen Erkenntnisse, die Ulrich darlegt, aber es gelingt ihm wunderbar ein Bild der letzten Tage in ganz Deutschland zu zeichnen. Von Berchtesgaden, dem Hitlerrefugium am Obersalzberg bis nach Flensburg, dem Rückzugort der letzten Naziregierung unter Karl Dönitz. Außerdem geht die spannend erzählte Reise in einige besetzte Länder. Viele persönliche Dramen spielen sich ab. Erich Kästner schrieb in sein Tagebuch: „Leute laufen betreten durch die Straßen. Die kurze Pause im Geschichtsunterricht macht sie nervös. Die Lücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht irritiert sie.“ Ullrich schreibt nicht so sehr von den Erlebnissen des „Kleinen Mannes“, sondern es sind die Erlebnisse von Protagonisten des Nazireiches und von Menschen, die auch nach dem Krieg eine wesentliche gesellschaftliche Rolle spielten. Beispielsweise von Helmut Schmidt, der in der Wehrmacht auch an der Ostfront diente und noch in den 90er Jahren gegen die Wehrmachtsausstellung negativ eingestellt war. Sein Vorgänger als SPD-Vorsitzender Kurt Schumacher hatte 1932 in einer Rede im Reichstag gesagt: „Wenn wir irgend etwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann die Tatsache, dass ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist“. Zehn Jahre saß er danach im KZ, bevor er 1943 schwer krank entlassen wurde und nach dem Krieg als Invalide der SPD vorstand. Auch deren Nachfolger Willy Brandt wird beleuchtet, der in diesen Tagen nichts sehnlicher wünschte als nach Deutschland zurückzukehren. In einer Episode berichtet Ullrich von der wie Brandt des Vaterlandsverrats bezichtigten Marlene Dietrich, die ihre Schwester im Konzentrationslager Bergen-Belsen traf, allerdings unter ganz anderen Umständen als gedacht. Bis zum 23. Mai durfte Dönitz als Nachfolger Hitlers noch im Amt bleiben, dann wurde auch er verhaftet. Die Hitlerporträts hingen wahrscheinlich noch immer in seinen Amtsstuben, kurz zuvor hatte er sich noch geweigert sie abzuhängen. Mit Verbrechen des Naziregimes habe er nichts zu tun gehabt, erklärte er, wie so viele andere: Man hatte ja von nichts gewusst. „Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen.“ bemerkte eine Kriegsreporterin. Man jammerte hauptsächlich um das eigene vermeintlich ungerechte Schicksal. Mitgefühl mit den gemeuchelten Opfern zeigte man kaum. Ullrich schreibt zum Schluss: „Man muss (...) begreifen (...) welche Errungenschaft es bedeutet, heute in einem stabilen, freiheitlichen und friedlichen Land leben zu können. Vielleicht ist es an der Zeit, daran zu erinnern.“ Ein absolut lesenswertes Buch. Ernst Reuß Volker Ullrich: Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches. Verlag C.H. Beck, München 2020. 317 Seiten, 24 Euro.
Peter Brinkmann, der auf einer Pressekonferenz am 9. November 1989, die entscheidende Frage an Günter Schabowski stellte und damit Geschichte schrieb, veröffentlichte 2015 in der Eulenspiegel-Verlagsgruppe ein Buch über seine Erlebnisse.
Die Antwort auf seine Frage führte zur Öffnung der deutsch-deutschen Grenze. Schabowski, der Antwortgeber, behauptete zwar später, seine Antwort absichtlich so formuliert zu haben, um eine Änderung herbeizuführen. Daran kann man jedoch, genauso wie Brinkmann, seine Zweifel haben. Die Dimensionen des Schabowski-Satzes konnte damals wohl noch keiner erahnen. Erst als viele Ostberliner Bürger seine Antwort für bare Münze nahmen und zur Mauer strömten, geschah das, was wohl nicht mehr aufzuhalten war. Peter Brinkmann dokumentiert die dramatischen Ereignisse, die letztendlich zum Fall der Mauer und zur Wiedervereinigung führte, auf der Grundlage eigener Erlebnisse und Interviews. Brinkmann war später als erster Korrespondent der Bild in der DDR-Hauptstadt akkreditiert und auch in den Jahren danach hautnah dabei um die Folgen dieses Satzes zu beobachten. Das Buch beinhaltet viele mehr oder weniger aufschlussreiche Anekdoten, die die persönlichen Animositäten der handelnden Protagonisten gut beschreiben. Ein interessantes Interview mit Horst Teltschick und Lothar de Maizière rundet das Buch ab. Zur Frage ob der Westen wortbrüchig handelte, als er die NATO tief in den Osten ausdehnte oder ob jeder Staat frei beitreten durfte, obwohl das nicht im Sinne Gorbatschows war, lässt sich auch anhand dieses Buches nicht klären. Klar ist jedenfalls, dass sich Russland durch die ständige Osterweiterung der Nato bedroht fühlt. Eine interessante und kenntnisreiche Erzählung der „Wendezeit“, die nur durch den Umstand getrübt wird, dass der Autor jahrelang Bildzeitungskorrespondent war - nicht unbedingt der Ausbund von Seriosität. Ernst Reuß Peter Brinkmann, Die NATO-Expansion, Deutsche Einheit und Ost-Erweiterung, 256 Seiten, edition ost, Berlin 2015, 12,99 €
Heute vor 75 Jahren, am 16. Juni 1945, starb Nikolai Bersarin bei einem Motorradunfall in einem LKW-Konvoi in Berlin-Friedrichsfelde, an der Straßenkreuzung Am Tierpark/Ecke Alfred-Kowalke-Straße.
Der 1904 in St. Petersburg geborene Nikolai Erastowitsch Bersarin war als sowjetischer Generaloberst nach dem Zusammenbruch Nazi-Deutschlands sowjetischer Stadtkommandant von Berlin. Seine 5. Stoßarmee hatte am 21. April als erster sowjetischer Verband den östlichen Berliner Stadtrand bei Marzahn erreicht. Am 28. April wurde er daher von Marschall Schukow zum Stadtkommandanten von Berlin ernannt. Es war Militärtradition, dass derjenige Stadtkommandant wird, dessen Truppen zuerst die Ortsgrenzen überquerten. Bersarin machte sich umgehend an den Wiederaufbau Berlins. Im Jahr 1975 bekam er dafür postum die Ehrenbürgerschaft Ost-Berlins zugesprochen. Nach der Deutschen Wiedervereinigung wurde er in den vereinigten Ehrenbürgerlisten der beiden Berlinteile nicht übernommen. Am 11. Februar 2003 nahm ihn der Berliner Senat - nach heftigen politischen Debatten - jedoch wieder in die Liste auf und begründete dies mit den Verdiensten Bersarins beim Aufbau Berlins. Nachfolgend beschreibt dies ein Ausschnitt aus: Ernst Reuß, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern: Justizalltag im Nachkriegsberlin, erma, Berlin 2017, S. 16ff.: „Bis zum Einmarsch der anderen Alliierten im Juli 1945 war alleine die Sowjetunion für Berlin zuständig. Bereits am 28. April 1945 hatte der Militärkommandant der Stadt Berlin, Generaloberst Bersarin, mit dem Befehl Nr. 1 bekannt gegeben, dass die gesamte administrative und politische Macht in Berlin auf ihn übergegangen sei. Erst vier Tage später wurde dann in Tempelhof durch den letzten deutschen Kampfkommandanten für Berlin, General Helmuth Weidling, die Kapitulationsurkunde für die Reichshauptstadt unterzeichnet. Er, der bereits zuvor die Kapitulationsbedingungen sondiert hatte, aber gemäß Hitlers Weisung nicht kapitulieren durfte, hatte in den Morgenstunden desselben Tages den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen gegeben. Nach Hitlers Suizid war er nicht mehr an dessen Durchhaltebefehle gebunden und hielt sich vernünftigerweise auch nicht mehr daran. Er gab in den Morgenstunden des 2. Mai 1945 den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen. Generaloberst Bersarin, der bis zu seinem frühen Tod am 16. Juni 1945 die alleinige Befehlsgewalt in Berlin besaß, machte sich kurz danach, nicht nur daran die Trümmer des „1000-jährigen Reiches“ aufzuräumen und die Versorgung der Berliner Bevölkerung zu sichern, sondern organisierte auch Verwaltung, Polizei und Gerichte neu. Bereits am 8. Mai wurde eine Eheschließung registriert, die nach den NS-Rassegesetzen niemals möglich gewesen wäre. Ab 14. Mai verkehrten wieder die ersten U-Bahnzüge. Am 19. Mai begann der neue Magistrat seine Tätigkeit. Der Aufbau der neuen Gerichtsorganisation war zum 1. Juni abgeschlossen, was auch überaus notwendig war, denn in der ausgebluteten, ausgehungerten und zerbombten Stadt wurde geplündert, geraubt und gemordet.“
Die 1929 geborene Rywka Lipszyc begann ihr Tagebuch kurz nach ihrem 14. Lebensjahr. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie schon über drei Jahre im Ghetto von Litzmannstadt, beide Elternteile waren dort bereits gestorben. Rywka war die Älteste von den vier nun verwaisten Geschwistern, die von Verwandten adoptiert worden waren.
Rywka stammte aus einer angesehenen ortsansässigen jüdischen Familie. Ihr Vater, der von deutschen Herrenmenschen brutal zusammengeschlagen worden war, trug bleibende Gesundheitsschäden davon und starb infolgedessen am 2. Juni 1941. Die Mutter, die sich nun alleine um ihre vier gemeinsamen Kinder kümmern musste, überlebte ihren Mann jedoch nur knapp über ein Jahr. Sie starb am 8. Juli 1942, vermutlich an Unterernährung und Erschöpfung. Verhungern war eine der häufigsten Todesursachen im Getto von Lodz. Knapp zwei Monate nach ihrem Tod mussten auf Anordnung der deutschen Behörden 15 000 Ghettobewohner zur Deportation ausgeliefert werden. Es traf die Kinder unter 10 Jahren und Senioren, die älter als 65 Jahre waren. Mordechai Chaim Rumkowski, der oft arrogant und machtbewusst auftretende, sogenannte Älteste der Juden, musste dies organisieren. In einer Rede bat er die Bewohner, sie sollten das Undenkbare tun, um noch Schlimmeres vom Getto abzuwenden. Er beschwor die Eltern, dass „man Glieder amputieren müsse um den Körper zu retten“ und sagte: „Doch nun (…) muss ich meine Hände ausstrecken und bitten: Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Gebt mir eure Kinder!“. Der Judenälteste und seine Polizeikräfte sorgten dafür, dass die von den Deutschen erwünschte Anzahl von Deportierten erreicht wurde. Die Unglückseligen kamen ins Vernichtungslager Kulmhof und wurden dort umgebracht, was man im Ghetto zum Zeitpunkt des Aufrufs ahnte, aber nicht mit absoluter Sicherheit wusste. Zwischen 1941 und 1943 ermordete die SS in Kulmhof laut Schätzungen zwischen 150 000 und 350 000 Juden aus Lodz und Umgebung. Die Rote Armee fand im Januar 1945 nach der Einnahme der Stadt nur noch 877 überlebende Juden. Rywkas beim Onkel lebenden 10 und 5-jährigen Geschwisterchen Abramek und Tamarcia wurden bei der „Aktion“ im September 1942 deportiert und getötet. Rywka und die 1933 geborene Cipka, die - zusammen mit ihren drei Cousinen und einem weiteren Pflegekind - bei der Tante wohnten, entkamen vorerst der Deportation. Als auch die Tante, deren Ehemann bereits in Kulmhof ermordet worden war, am 11. Juli 1943 starb, übernahm deren älteste Tochter die Verantwortung für die jüngeren Kinder. Doch auch Rywka und Cipka entgingen einer Deportation letztendlich nicht. Es war nur ein Aufschub gewesen. Bei der Auflösung des Ghettos im August 1944 war es schließlich soweit und sie kamen nach Auschwitz. Während ihre kleinere Schwester sofort vergast wurde, überlebte Rywka – wenn auch todkrank - nicht nur Auschwitz, sondern später auch einen Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Am 15. April 1945 erlebte sie dort noch zusammen mit zwei übriggebliebenen Cousinen die Befreiung durch britische Truppen, die älteste der Cousinen war tragischerweise just an diesem Tag gestorben. Was mit Rywka geschah bleibt weitestgehend im Dunkeln. Ihre beiden schwerstkranken Cousinen wurden nur Genesung nach Schweden gebracht, Rywka blieb als nicht transsportfähig in ein Hospital am Timmendorfer Strand. Die Cousinen lebten fortan im Glauben Rywka hätte dort die nächsten Wochen nicht überlebt, bis sie im Jahr 2000 von Wissenschaftlern kontaktiert wurden. Offenbar überlebte Rywka auch diese Tortur, seitdem fehlt allerdings fast jede Spur. Das letzte Dokument mit ihrem Namen findet sich in einem Camp von Displaced Persons im September 1945. Ein Grab oder eine Sterbeurkunde gibt es nicht. Da nie wieder ein Lebenszeichen von ihr auftauchte, steht die Vermutung im Raum, dass sie letztendlich doch noch an den Folgen der von Deutschen begangenen Verbrechen verstarb. Das Tagebuch wurde im Frühjahr 1945 der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz von einer russischen Ärztin gefunden. Es wurde erst 1995 in ihrem Nachlass wiederentdeckt und 2014 in den USA erstmals veröffentlicht. Rywkas über 100 Seiten Aufzeichnungen machen ungefähr die Hälfte des Buches aus und betreffen den Zeitraum zwischen Oktober 1943 und April 1944. Ein bewegendes Dokument mit ausführlicher historischer Einordnung, Bildern und persönlichen Zeugnissen der überlebenden Cousinen und der das Schicksal Rywkas erforschenden Wissenschaftler. Das Buch endet mit einem Aufruf an alle Leser, sich zu melden falls sie etwas zum weiteren Schicksal von Rywka Lipszyc beitragen können. Ernst Reuß Rywka Lipszyc, Das Tagebuch der Rywka Lipszyc, Aus dem Polnischen und Englischen von Bernhard Hartmann, Suhrkamp 2015, 237 Seiten 22,95 €
Norman Davies ist ein britischer Historiker, der wie viele britische Historiker ein brillanter Erzähler ist. Er wurde mit umfangreichen Gesamtdarstellungen zur Geschichte Europas, insbesondere der britischen Inseln, bekannt.
Am Beispiel von Cornwall merkt Davies an, dass kein einziges angeblich „eingeborenes Volk“ dort ansässig gewesen ist, wo es heute lebt. Auch wer Stonehenge errichtet hat, weiß immer noch niemand. Es waren jedenfalls weder Kelten noch Engländer. Er schreibt: „Letzten Endes stammen wir alle von Immigranten ab, und das Konzept eines „ewigen Vaterlandes“ lässt sich - wenn überhaupt - nur als Ausdruck einer imaginären Rekonstruktion der Vergangenheit verstehen.“ Immer wieder stellt Davies auch auf seinen Reisen fest, dass die jeweilige dominante Migrantengruppe, die betreffende Gegend in der sie wohnen als ihr „angestammtes Vaterland“ betrachten und vormalige Immigranten zu „Eingeborenen“ machen, die meist gering geschätzt werden. So wie zum Beispiel auch in den von ihm bereisten Ländern Malaysia, USA, „Down under“ und anderen Staaten. Migration sei eine „Grundtatsache der Menschheitsgeschichte“, stellt er fest. Kluge Ansichten eines kenntnisreichen Kosmopoliten, der in seinem neuen Buch „Ins Unbekannte“ von seiner Weltreise berichtet, die er als Pensionär unternommen hatte. Er folgt den Reiserouten und den Berichten alter Seefahrer mit dem Flugzeug. Dafür hatte er ein „Round-the-World-Ticket“ erworben. Bei mangelnden Geographiekenntnissen lohnt es sich diese Reisen mit dem Finger auf der Landkarte nachzuvollziehen. Es ist ein Reisebericht der besonderen Art. Er umfasst die Geschichte und Geschichten des jeweiligen Landes, das er besucht. Davies ist ein historischer Spurensucher und eine unablässige Wissensquelle, nicht nur amüsanter Anekdoten. Aber wer weiß schon was der „Würgegriff von Singapur“ ist und das dort nach 23 Uhr das Pinkeln im Stehen verboten ist. Er reist über Baku und Abu Dhabi, wo man Goldbarren aus dem Automaten ziehen kann, nach Delhi. Er beschäftigt sich dort mit dem indischen Kastensystem. Ein unerbittliches, archaisches System, das „Unberührbare“ schafft und besonders Frauen zum Freiwild macht. Ein kurzer Blick auf die verschiedensten dort praktizierenden Religionen ergänzt das Ganze. Auf Tahiti und Mauritius macht er philatelistische und linguistische Studien, versucht das Rätsel des verschwundenen Flugzeuges MH370 zu ergründen und präferiert dabei erstaunlicherweise eine der Verschwörungstheorien. Davies ist den Aborigines in Tasmanien, als auch den Maoris in Neuseeland auf der Spur und befindet sich somit auch auf den Spuren des nicht nur britischen Kolonialismus. Auch die Geschichte von Texas und Manhattan dröselt er auf, wobei er auch hier sein Steckenpferd Linguistik nicht ganz vernachlässigt. Spannende Zeitzeugenberichte von den ersten Begegnungen mit den indigenen Völkern zeigen die Anfänge von Manhattan, zeigen auch wie aus dem dortigen Landstrich erst Nieuw Amsterdam und dann New York wurde. Zum Schluss ist er dann wieder in Europa und gewährt einen besonderen Blick auf die Umgebung des Frankfurter Flughafens, beziehungsweise auf die „Unterschweinstiege“. Seine Gedanken zum Imperialismus, Kolonialismus und der nationalen Geschichtsschreibung runden das Buch ab. Davies ist ein guter und scharfer Beobachter mit viel Humor. Seine anscheinend reichlich vorhandenen Sprachkenntnisse stellt er immer wieder gerne mit Originalzitaten dar. Er referiert auch über die Verhaltensmuster von Einheimischen und deren Moden, wie zum Beispiel in Malaysia und Singapur, wobei er, der sich nicht nur dort jeweils in der „upper class“ bewegt, die unteren Bevölkerungsschichten lediglich beobachtet und dabei mitunter die Überheblichkeit eines kolonialen Empire-Beamten an den Tag legt. Dennoch eine amüsante und spannende Lektüre für Weltenbummler. Es wäre wünschenswert, aber wohl zu viel verlangt, wenn alle Reisenden sich so intensiv mit den von ihnen besuchten Ländern beschäftigen würden. Ernst Reuß Davies, Normanm Ins Unbekannte, Eine Weltreise in die Geschichte, Aus dem Engl. v. Tobias Gabel u. Jörn Pinnow, wbg Theiss, Darmstadt 2020, mit 57 Farb- und 49 sw-Abb., 39 Karten, 896 Seiten, 39,95 €
Gabi war ein kleines deutsches Mädchen, das im Alter von nur fünf Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Ihre und zugleich die Geschichte ihrer Mutter, ihrer Tanten und Cousins erzählt Leo Hiemer in seinem Buch: „Gabi (1937–1943). Geboren im Allgäu – Ermordet in Auschwitz.“ Der Autor, ein bekannter Regisseur, dessen Mutter die kleine Gabriele noch selbst gekannt hatte, drehte bereits 1993 nach akribischer Recherche einen Film über Gabis Schicksal. Nun hat er noch viel mehr dokumentarisches Material zusammengetragen.
Gabis Mutter Lotte war eine von drei Töchtern des jüdischen Ehepaares Karl und Anna Schwarz, die in Augsburg ein Geschäft für Eisenwaren und Haushaltsartikel führten. Der Vater starb bereits 1926, die Mutter brachte sich kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs um. Ihnen blieb das erspart, was den meisten ihrer Kindern und Enkel geschah. Die blonde und blauäugige Gabi war „unehelich“. Lotte deren Ehemann zuvor verstorben war, hatte sich wohl mit einem verheirateten Mann eingelassen, verriet aber nie dessen Identität. Denn da der Mann wahrscheinlich ein „Arier“ gewesen war, galt diese Beziehung seinerzeit als „Rassenschande“. Das hätte für die Mutter Lotte und ihre Tochter gefährlich werden können, obwohl beide katholisch getauft waren. Gabi kam als Pflegekind auf den im Westallgäu gelegenen Einödhof des frommen Ehepaars Aichele, die es als fünftes Kind aufnahmen. Viele Fotos von dort belegen eine unbeschwerte Kindheit. Doch auch der Ortswechsel nutzte ihr letztendlich nicht. Ein „Judenbalg“ war zur damaligen Zeit immer in Gefahr und Lotte versuchte daher ihr Kind ins Ausland zu verschicken. Aber das glückte nicht, trotz eines prominenten Fürsprechers wie der Münchner Kardinal Faulhaber, der ein Bekannter von Lottes verstorbenem Ehemann war. Auch ihr selbst gelang die Emigration nicht mehr. Im September 1941 wurde Lotte am Arbeitsplatz verhaftet, ins KZ Ravensbrück überstellt und 1942 zusammen mit andern Jüdinnen in der „Nervenheilanstalt“ Bernburg vergast. „Euthanasie“ nannte man das. Ihre Schwester Hansi und ihre Cousine waren bereits einige Tage zuvor ermordet worden. Die genauen Todesdaten sind nicht bekannt, da das Standesamt die Totenscheine fälschte, um den Massenmord zu verschleiern. Nur ihre Schwester Emmy konnte rechtzeitig in die USA emigrieren. Hansis Sohn René überlebte ebenfalls. Er wurde von Wehrmachtsangehörigen als Übersetzer in Kroatien gebraucht. Nach der Ermordung der Mutter brachte ihre Bank den Stein ins Rollen. Die fragte beim Oberfinanzpräsidium an, ob nach Lottes Tod die regelmäßige Überweisung von monatlich 50 Reichsmark an Gabis Pflegeeltern weiterhin getätigt werden sollten. Die Anfrage landete ein halbes Jahr später beim Leiter des für Judenfragen zuständigen Angehörigen der Gestapo. Dieser verfügte: „Die Jüdin Charlotte Eckart, geborene Schwarz, deren Kind Gabriele sich bei Aicheles in Pflege befindet, ist in Ravensbrück verstorben. Da es jedoch nicht angeht, dass ein jüdisches Kind von katholischen Eltern erzogen wird, wir angeordnet, das Kind von dort abzuholen“. Die Tatsache, dass Gabi katholisch getauft war, nützte ihr nichts. Schon drei Tage danach wurde sie abgeholt, nach Auschwitz verschleppt und dort sofort nach ihrer Ankunft am 16. März 1943 ermordet. Ihr Erbe wurde „wegen Auswanderung“ an die Reichshauptkasse überwiesen. Nach dem Krieg angestrengte Verfahren gegen den Gestapobeamten und andere, die an der Verschleppung und Ermordung Gabis beteiligt waren, enden ergebnislos. Das auf vielen Briefen und Fotografien beruhende Buch berichtet nun umfassend über den kurzen Lebensweg des kleinen Kindes. Ein bewegendes Buch über eine schreckliche Zeit. Es bleibt unbegreiflich, dass Menschen so etwas tun können. Leider sind Rassismus und Antisemitismus auch heute noch existent. Geschichten wie die von Gabi, verdeutlichen, welche Aktualität manches hat, das für viele schon als Vergangenes abgetan wird. Ernst Reuß Leo Hiemer, Gabi (1937–1943), Geboren im Allgäu – Ermordet in Auschwitz, Metropol Verlag, Berlin 2019, 415 Seiten, 24 €
„Das Grauen hatte einen Namen: TREUHAND.“
So reißerisch bewirbt der Eulenspiegel Verlag das Buch „Das Treuhand-Trauma“ der in Leipzig geborenen und in der Schweiz tätigen Soziologin Yana Milev. „Im Fall der Übernahme der DDR durch die BRD ist die Kulturkatastrophe ohne einen Bürgerkrieg, also unblutig, verlaufen. Dennoch sind die Folgen ebenfalls traumatisch und kriegsgleich“, sagt sie. In ihrem Vorwort schreibt Milev. „Ich bin Opfer. (…) Ich wurde observiert und verfolgt. Physisch und psychisch. Ich erfuhr Unrecht. Ich teilte das Schicksal einer marginalen Minderheit von Ostdeutschen. Aber ich gehöre nicht zu dieser Spezies, weil ich meine Erfahrung nicht zur Perspektive aller erkläre. Denn ich bin Wissenschaftlerin, Soziologin. Ich unterscheide zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Reflexion und Realität.“ Inwieweit ihre Ansichten objektiv und wissenschaftlich belegbar sind, mag jede und jeder selbst beurteilten. Wo fängt die wissenschaftliche Aufarbeitung an und wo hört die Polemik auf, kann man sich beim Lesen durchaus fragen. Milev behauptet, die sogenannte friedliche Revolution sei keinesfalls friedlich gewesen, sondern es habe dabei psychische Gewalt „und andere Formen der Übernahme oder Konterrevolution“ gegeben, durch die es den DDR-Bürgern schlechter ging. Viele Politiker aus der DDR seien erpresst worden, um den Beschlüssen zur Währungs- und Wirtschaftsunion und zum Einigungsvertrag zuzustimmen, „sofern Opportunismus und Korruption nicht genügten“. Juristisch fragwürdig ist ihre Interpretation des Einigungsvertrages, der „nicht nur unrechtmäßig, sondern eine Staatensukzession zu Vollständigwerdung im Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich“ gewesen sei. Das erinnert stark an Reichsbürgerlogik. Auch ihre Ausführungen zum BGB und zum „Reichsstrafrecht der BRD“, welches seit 1990 auch für DDR-Bürger galt, lassen an der juristischen Sachkenntnis der Soziologin zweifeln. Der Einigungsvertrag sei ein „Enteignungsvertrag“ gewesen, der Beitrittsbeschluss der Volkskammer ein „Ermächtigungsgesetz“. Die „Wende“ sei ein Informations- und asymmetrischer Krieg gewesen, dessen „Frontenverlauf sich demokratisch und unmilitärisch durch die Zivilgesellschaft zieht.“ Diese Thesen sprechen für sich. Zwar habe der größte Teil der Volkskammerabgeordneten und der Bevölkerung den Einigungsvertrag jubelnd begrüßt, aber eigentlich wollten sie ihn nicht. Was sie wollten, weiß die Autorin. Das alles habe sie nur in der Schweiz erforschen können, weil es in Deutschland keine wissenschaftliche Einrichtung zur systematischen Forschungen in dieser Richtung gäbe. „Untersuchungen gesellschaftlicher Prozesse im Osten pflegen allenfalls dann Zuwendung und Unterstützung zu erfahren, wenn sie denn bereits postulierte Urteile und Thesen bestätigen.“ Dies alles beschreibt sie ausführlich in einem wüsten Themenmix. Das eigentliche Titelthema des Buches „Die Treuhandanstalt“ wird im Wesentlichen mit einer 80-seitigen Aufzählung aller liquidierten Betriebe abgehandelt. Es geht von der „VEB Biggi Waltershausen“ über den „VEB Sockenwerk »EXPORSO«, Brünlos (Herrensocken, Kindersöckchen)“ zur „VVB Altrohstoffe, Berlin, Thulestraße“. Erläuterungen zu den einzelnen Branchen und Betrieben gibt es nicht. Die Aufzählung ähnelt eher einer Liste von Gefallenen im Krieg. Laut Autorin erkläre all das auch den Rechtsruck in einer „psychosozial desorientierten“ Gesellschaft, wobei die Thesen des Buches wohl selbst Wasser auf die Mühlen eines falschen ostdeutschen Opfernarrativs sein dürften, das nur den Vereinfachern und Populisten dient. Ernst Reuß Yana Milev, Das Treuhand-Trauma, Die Spätfolgen der Übernahme, Verlag Das Neue Berlin 2020, 288 Seiten, 18 Euro
Hansgeorg Bräutigam leitete die Justizpressestelle und war auch später als Vorsitzender Richter des Berliner Landgerichts nah dran an spektakulären Prozessen. Drei davon hat Bräutigam, der später über Erich Honecker urteilte, herausgepickt und beschreibt diese in seinem Buch „Terroristen vor dem Kammergericht“.
Drei Prozesse aus den Jahren 1972, 1978 und 1993. Zwei Prozesse gegen Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ beziehungsweise gegen Mitglieder der „RAF“ und ein Prozess gegen ein vermeintliches Terrorkommando des iranischen Khomeini Regimes, dem sogenannten „Mykonos-Prozess.“ Spektakuläre, umstrittene Prozesse mit erheblichen Auswirkungen auf Innen- und Außenpolitik. Laut taz ist Bräutigam: „ein strammer Konservativer mit autoritären Neigungen und einschlägiger Berufspraxis gegen links“, der sich „bruchlos in die unangenehm - deutsche Traditionslinie politisch unterfütterter Rechtsprechung“ einzufügen scheint. Ob dem wirklich so ist, lässt sich anhand des Buches nicht beurteilen. Seine Ansichten sind jedoch eher konservativ und die Auseinandersetzung mit der Urteilsfindung eher weniger kritisch, anders als bei der Beurteilung von Anwälten. Angesichts des Horst Mahler Prozesses 1972, lässt der Autor an den ehemals linken Rechtsanwälten Hans-Christian Ströbele und Otto Schily kein gutes Haar. Mehrfach erwähnt er Schilys „schneidende Stimme“. Er schreibt: „Schily trug mit kalter, schneidender und manchmal mit ironischer Schärfe ein buntes Gemisch von begründeten und unbegründeten Anträgen vor, wobei er ständig zu den Journalisten und Zuschauern blickte, wie um von der Öffentlichkeit Beifall zu erheischen.“ Bräutigam trauert dem früheren Prozessklima hinterher, „das noch Anfang der 60er Jahre von der stillschweigenden Übereinkunft zwischen Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern geprägt war, einen fairen Prozess führen zu wollen.“ Als Pressesprecher muss man das wohl so sehen, als kritischer Beobachter der Justiz kann man das auch anders sehen. Zweifel an der Fairness einiger Prozesse hatten damals auch bekannte Juristen, genauso wie zuvor der an den alten Seilschaften in der Nachkriegszeit verzweifelnde Fritz Bauer. Man kann es daher auch als erfreulichen Fortschritt ansehen, dass es Anwälte gab, die diese „stillschweigende Übereinkunft“ durchbrachen. Ernst Reuß Hansgeorg Bräutigam: „Terroristen vor dem Kammergericht. Drei Berliner Strafprozesse nach 1968“. BerlinStory Verlag, Berlin 2020, 142 S., 16,95 Euro |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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