Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden nach Lettland deportiert, in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas erschossen und in 55 Massengräbern verscharrt.
Zwischen November 1941 und Januar 1944 fanden auch in Unterfranken sieben Deportationen von Juden statt. Von mehr als 2 000 Menschen, die in Würzburg und Kitzingen in die Züge getrieben wurden, sollten nur 60 den Holocaust überlebt haben. Am 27. November 1941 verließ der erste Transport mit 202 Jüdinnen und Juden aus Würzburg die Stadt. Viele von ihnen wurden am 26. März 1942 in Biķernieki ermordet. In Biķernieki existiert seit 2001 ein Mahnmal. Stelen aus Granit in unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern nun an die vielen Opfer und benennen die Orte, aus denen die Transporte kamen. Auf einem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch: „ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ Zwei Stelen erinnern an die Deportationen aus Würzburg und Mainbernheim. Opfer der ersten Deportation waren beispielsweise das Ehepaar Erna und Gustav Kleemann aus Würzburg. Erna wurde 1892 in Würzburg geboren und war das einzige Kind einer Kaufmannsfamilie. Sie führte nach dem Tod ihrer Eltern die elterlichen Firma „L. &. M. Rosenthal“ (Agenturen für Wein, Getreide und Landesprodukte) fort. Zusammen mit ihrem Mann Gustav sowie ihrem Schwager und dessen Tochter wurde sie im November 1941 nach Riga deportiert und mit ihrer Verwandtschaft am 26. März 1942 im Rigaer Wald von Biķernieki ermordet. Gustav Kleemann war 1881 in Werneck als Sohn eines Pferdehändlers geboren worden und dort aufgewachsen. Im Ersten Weltkrieg war er Kriegsteilnehmer und erhielt den Bayerischen Militärverdienstorden mit Schwertern, was ihm jedoch wenig nützen sollte. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde er schikaniert, verlor seine Geschäfte und wurde schließlich mit seiner Frau, seinem Bruder und dessen Tochter deportiert und ermordet. Ein anderes Opfer war der im unterfränkischen Schwanfeld geborene Gert Samuel Gutmann. Kurz nach seinem 10. Geburtstag wurde er in Biķernieki erschossen. Seine Mutter, die 1908 in Rimpar geborene Therese soll erschossen worden sein, nachdem sie ihr Kind mit ihrem Körper zu schützen versucht hatte. Ehemann und Vater Ludwig, ein 1902 geborener Landwirt, überlebte. Tragischerweise soll er jedoch nach dem Zusammenbruch der Ostfront von der Roten Armee als „deutscher Spion“ behandelt worden sein und wurde interniert. Er konnte erst 1956 mit anderen deutschen Kriegsgefangenen zurückkehren. Er kam zunächst nach Würzburg, 1960 dann nach Schwanfeld zurück. Er war der letzte in Schwanfeld geborene jüdische Einwohner und starb dort 1984 in seinem 82. Lebensjahr. Als Reichskommissar „Ostland“, dazu gehörten Lettland, Litauen, Estland und Weißruthenien, war der 1896 geborene Hinrich Lohse für das was in Biķernieki geschah an führender Stelle verantwortlich. Er war ein überzeugter Nazi und bereits seit 1925 Gauleiter von Schleswig-Holstein. Zwischen 1941 und 1944 pendelte er zwischen Riga und Kiel, um beide Ämter ausüben zu können. Von mindestens 500 000 im Reichskommissariat 1941 ansässigen Juden, lebten nach seiner Amtszeit keine 10 000 mehr. Zwar verbot Lohse per Erlass „die aktive Teilnahme von Amtsträgern der Ostverwaltung bei Exekutionen jeder Art“. Dies geschah jedoch nicht aus moralischen Gründen, sondern der bekennende Antisemit war der Ansicht: „Selbstverständlich ist die Reinigung des Ostlandes von Juden eine vordringliche Aufgabe; ihre Lösung muß aber mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang gebracht werden“. Man brauchte Arbeitssklaven. Mit dieser Ansicht stieß er jedoch auf taube Ohren. Nicht nur in Biķernieki kam es zu Massenerschießungen, sondern auch im nicht weit entfernten Wald von Rumbula geschah dies. Lohse selbst nahm an einer Massenerschießung teil, um sich ein „Bild zu machen“. Er überlebte den Krieg, im Gegensatz zu den Opfern der Massenerschießungen. 1948 verurteilte ihn ein Militärgericht zu zehn Jahren Gefängnis, aber man entließ ihn schon bald wegen „dauernder Haftunfähigkeit“. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Lohse dann erstaunlicherweise als Minderbelastet eingestuft. Ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt und Lohse erstritt sich in einer Klage gegen die Landesregierung von Schleswig-Holstein 25 Prozent seiner Pensionsansprüche. Zudem erhielt er vom Verlag der „Kieler Nachrichten“ das Gehalt eines Redakteurs und „forschte“ ausgerechnet zur „NS-Geschichte“. Er brachte allerdings nichts zu Papier, was vielleicht besser so war. Wie viele Täter starb Lohse unbescholten und weitgehend unbemerkt im Jahre 1964. Ernst Reuß
Als Sohn des damaligen Verfassungsschutzpräsidenten hat der Autor Stephan R. Meier die RAF-Zeit hautnah miterlebt. Nun hat er einen diesbezüglichen Politthriller verfasst.
Es geht um das Terrorjahr 1977, die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, die Flugzeugentführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ sowie um den Selbstmord der RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitstrakt Stuttgart-Stammheim. Dies alles wird aus verschiedenen Perspektiven der darin involvierten Personen erzählt. Bücher und Filme über diese Zeit gibt es bereits zuhauf. Doch, auch wenn die meisten der Fakten dem politisch interessierten Beobachter bekannt sind, bleibt das spannend. In die Amtszeit des Vaters des Autors fiel der sogenannte „Deutsche Herbst“, der Höhepunkt des RAF-Terrors. Sein Sohn will aus dessen Erzählungen viele Einzelheiten aus erster Hand in Erfahrung gebracht haben. Sein Buch hat den Titel: „44 TAGE - Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war.“ Am 5. September 1977 wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt und am 19. Oktober 1977 - nach genau 44 Tagen - tot im Kofferraum eines Wagens im französischen Mühlhausen aufgefunden. Er wurde mit drei Schüssen in den Hinterkopf hingerichtet. Die Entführung des Lufthansaflugzeugs war in Mogadischu nach der erfolgreichen Stürmung durch das Anti-Terror Kommando GSG 9 gescheitert. Die inhaftierten RAF-Terroristen brachten sich daraufhin in Stuttgart-Stammheim um. War es wirklich Selbstmord? Viele Mythen und Verschwörungserzählungen gibt es diesbezüglich. Stephan R. Meyer will wissen, dass man vom Selbstmordvorhaben durch grundgesetzwidriges Abhören wusste und es nicht verhindert hat. Die RAF war nun führungslos und der Staat hatte ein massives Problem weniger. So, oder so ähnlich könnte es damals gewesen sein. Ernst Reuß Stephan R. Meier, 44 TAGE - Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war, Penguin Verlag, München 2021, 464 Seiten, 16 €
Schon kurz nach ihrer Befreiung hatten sich jüdische Überlebende des Massenmords in lokalen Gruppen zusammengeschlossen. Damals wurden die von den Deutschen Verschleppten aus aller Herren Länder in den Camps der sogenannten „Displaced Persons“ gesammelt, um „repatriiert“ zu werden. Viele von ihnen waren im „Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Zone“ mit Sitz in München organisiert. Deren Historische Kommission, unter ihrem Leiter Moshe Feygenboym, sammelte Zeitzeugenberichte, aber auch Fotos, Witze, Gerüchte, Lieder und Anekdoten, die damals in den Ghettos und Lagern kursierten. Es gab Aufrufe, Fragebögen und Aufsatzwettbewerbe, mit denen die Überlebenden motiviert werden sollten auch über ihren Alltag, die Verfolgung und Ermordung in ihren Heimatorten und in zahllosen Gettos und Lagern Zeugnis abzulegen. Ein Plakat lautete: „Jude! Erfülle Deine Pflicht gegenüber den kommenden Generationen. Berichte der Historischen Kommission von Deinem Überleben der Konzentrationslager, im Versteck, über das Leben der Partisanen, sodass Deine Kinder den weg Deines Martyriums kennen werden.“ Der Holocaust sollte nicht nur von den Alliierten, sondern auch aus der Opferperspektive dokumentiert werden.
Gesammeltes Material wurde ab 1946 in der jiddischsprachigen Zeitschrift „Fun letstn Churbn“ (Von der letzten Zerstörung) veröffentlicht. Dort publizierte Israel Kaplan, selbst ein Überlebender, zahlreiche Zeitzeugenberichte. Er und seine Mitstreiter schufen somit ein Forum für die Opfer des Holocaust und würdigten dabei auch den jüdischen Widerstand. Der Schwerpunkt der Berichte lag auf den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas. Insgesamt erschienen bis 1948 zehn Ausgaben. Nach dem Krieg fanden sie jedoch nur wenig Verbreitung, was wohl daran lag, das man vorwärts und nicht rückwärts blicken wollte oder konnte - aber auch an der Sprache der Publikation. Vieles aus der Sammlung wurde in der Zeitung veröffentlicht, aber nicht alles. In der Zeitschrift gab es auch viele beeindruckende, bis heute weitgehend unbekannte, Fotos von Deportationen, Massakern und vom Alltag in den Ghettos. Das letzte Foto des Malers Maurycy Trębacz, kurz vor seinem Tod durch Verhungern im Ghetto, hatte nur noch wenig mit dem vor Kraft strotzenden Mann nur wenige Jahre zuvor gemein. Die nun übersetzten, oft vergessenen Zeitzeugenberichte aus vielen Ghettos und Lagern bleiben ausgesprochen wertvoll für die Wissenschaft. Es gibt Berichte aus vielen Ghettos, aber auch aus Vernichtungslagern wie Sobibor oder vom Massaker an 45 Kindern im polnischen Kielce. Gegen Ende der 1940er Jahre lösten sich die DP Camps auf, so dass auch die Historische Kommission im Januar 1949 ihre Arbeit einstellte. Die gesamte Sammlung wurde später nach Israel geschickt und in der Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem verwahrt. Die Sammlung blieb auch dort viele Jahre nahezu unberührt, da nur wenige Historiker über jiddische Sprachkenntnisse verfügten. Umso wichtiger daher, die nun ins Deutsche übersetzten, historisch kostbaren Zeugnisse des Grauens. Mehr als 70 Jahre musste es dauern, bis die Zeitschrift dankenswerterweise von den Herausgebern auf Deutsch übersetzt und kommentiert wurde und nun im Metropol Verlag erschienen ist. Ein wichtiger Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocaust. Ernst Reuß Frank Beer/Markus Roth (Hg.), Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun letstn Churbn“ der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946–1948, Metropol Verlag, Berlin 2020, 1032 Seiten, 49 €. Aus dem Jiddischen von Susan Hiep, Sophie Lichtenstein und Daniel Wartenberg
Jörn Leogrande war 15 Jahre bei Wirecard beschäftigt. Nun hat er ein Buch mit dem Titel „Bad Company. Meine denkwürdige Karriere bei der Wirecard AG“ geschrieben.
Leogrande war wohl nicht an krummen Geschäften des zuletzt im Dax notierten Unternehmens beteiligt, er war aber an führender Stelle dabei und hatte tiefe Einblicke in das Innenleben des Konzerns. Leogrande kannte die Protagonisten des Skandals Markus Braun und den untergetauchten Jan Marsalek aus nächster Nähe. Eine von Marsaleks Kernkompetenzen war Rechtschreibfehler auf Online Präsentationen zu finden. Der Autor scheint das und seinen Wiener Charme zu bewundern. Geld, Gier und Größenwahn bestimmten den Tagesablauf. Skurille Gestalten tauchen auf, für die Geld, Markenklamotten und teure Uhren anscheinend äußerst wichtige Statussymbole sind. Man zeigt gern, dass man viel Geld verdient. Ein Rassist und Nazi sitzt in der Chefetage, man spielt dort „Call of Duty“ und verdient anfangs sein Geld mit Onlinepornos und Onlinegambling. Kein Wunder, dass einige Anwälte der namentlich Benannten schon ihre Messer wetzen. Immer wieder neue Umsatzrekorde werden vermeldet, doch es stellt sich heraus dass Milliardenbeträge einfache Luftbuchungen sind um den Aktienkurs nach oben zu treiben. Im Sommer des Jahres 2020 kollabiert das System und leitende Manager werden verhaftet. Der Autor zeichnet Wirecard als „groteske Bumsbude“ und rechnet mit einzelnen Protagonisten scharf ab. Er selbst, der jahrelang mit den Leuten zusammengearbeitet hat, scheint nach seiner eigenen Erzählung die Ausnahme gewesen zu sein. Er beschreibt menschliche Abgründe und gemeinsame Besäufnisse. Es ist befremdlich, dass er andere Mitarbeiter immer an Hand der teuren Markenprodukte, die sie am Leib tragen, charakterisiert. Offensichtlich ist das in diesen Kreisen von ausgesprochener Wichtigkeit. So ganz scheint er dieser Statussymbolik selbst auch nicht abgeneigt zu sein. Erstaunlich, dass im Kapitalismus, in dem es um sehr viel Geld geht, mehr Schein als Sein und wenig Kompetenz vorherrscht. Dass Freiherr von Guttenberg für Wirecard als Lobbyist tätig war, verwundert daher nicht. Verwundern tut dann aber doch, dass staatliche Behörden das traurige Spiel nicht schneller durchschauten. Es waren Journalisten, die das Blendspiel aufdeckten. Ein Buch über Blender, Gier und Kapitalismus. Ernst Reuß Jörn Leogrande: Bad Company. Meine denkwürdige Karriere bei der Wirecard AG, Penguin Verlag, München 2021, 288 Seiten, 22 Euro |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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