Herschel Grynszpan verübte am 7. November 1938 ein Attentat auf den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath, was die Nazis zum Anlass für die sogenannte „Kristallnacht“ nahmen. Ein Motiv des Anschlags soll die Ausweisung seiner Familie aus Deutschland gewesen sein. Sie wurde bei der sogenannten „Polenaktion“ abgeschoben. Heute meist vergessen erfolgte am 28. Oktober 1938 deutschlandweit die Deportation von 17 000 Polen jüdischen Glaubens. Auch in Berlin wurden mehr als 1 500 jüdische Mitbürger frühmorgens aus ihrem Bett heraus verhaftet, durften nur das Notwendigste mitnehmen und wurden mit bewachten Sonderzügen an die polnische Grenze gebracht. Für die meisten Familien war der 28. Oktober der Tag, an dem sie auseinandergerissen wurden. Seit dem die Nazis die Macht in Deutschland übernommen hatte, waren Juden keine Reichsbürger mehr. Mit der „Polenaktion“ hatte man sich eines Teils des „Problems“ entledigt. „Polnische Juden unter Einsatz von Schusswaffen über die Grenze gezwungen“, schrieb die englische Presse. Marcel Reich-Ranicki, deutscher Literaturpapst in der Nachkriegszeit und damals frischgebackener Abiturient, war einer von ihnen.
Der im Metropol Verlag erschienene ausführliche Begleitband zu einer Ausstellung mit dem Titel „AUSGEWIESEN! Berlin, 28.10.1938“ zeichnet die Hintergründe der „Polenaktion“ und die Lebenswege von 15 Berliner Familien nach. Seit Jahrzehnten hatten sie in Berlin gelebt oder waren hier gegründet worden. Es waren häufig innerpreußische Migranten, beziehungsweise Migranten aus dem ehemals österreichischen Teil des jetzigen Polens. In den Jahren von 1772 bis 1795 hatten die Nachbarn Russland, Preußen und Österreich den Staatenbund aus Polen und Litauen unter sich aufgeteilt, so dass bis zum Ende des Ersten Weltkriegs für über 120 Jahre kein eigenständiger polnischer Staat existierte. Auch wenn man die Situation im Jahre 1938 nicht mit der „Flüchtlingskrise 2015“ vergleichen kann, gibt es dennoch erstaunlich viele Parallelen. Auf der Konferenz von Évian im Juli 1938 hatten die Vertreter von 32 Nationen und 24 Hilfsorganisationen schon zuvor ergebnislos über das Problem der rapide ansteigenden Flüchtlingszahlen von Juden beraten. Dieses moralische Versagen der westlichen Demokratien erinnert an heute. Während damals mit dem Zug abgeschoben wurde, ist es heute das Flugzeug. Und während damals die Abschiebung im Deutschen Reich gefeiert wurde, feiert heute ein christlicher Minister die Abschiebung von 69 muslimischen Afghanen. Es gab illegale Grenzübertritte, Auffanglager an den Grenzen und Schiffe voller Flüchtlinge, die in keinen Hafen einlaufen durften. Die heutige Nachrichtenlage ist ähnlich. Allerdings hatte die „Polenaktion“ eine Vorgeschichte, denn Polen war es, das am 31. März 1938 ein Gesetz verabschiedet, welches die Möglichkeit vorsah, allen polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Antisemitismus war auch in Polen stark verbreitet und die polnische Regierung wollte ihre eigenen jüdischen Mitbürger loswerden. Das Deutsche Reich kam ihnen mit ihrer Aktion zuvor. Die Zwangsausweisung am 28. Oktober kam für die polnischen Grenzbehörden überraschend, so dass man teilweise völlig überfordert war. An manchen Grenzorten konnten die Ausgewiesenen ungehindert weiterreisen, ohne namentlich erfasst zu werden. Im Auffanglager Zbąszyń hielten sich Ende 1938 trotzdem bis zu 8 000 Personen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen auf. Die Ausstellung „AUSGEWIESEN!“ ist noch bis zum 30. Dezember dieses Jahres im Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zu sehen. Sie zeigt das von Studenten und Studentinnen recherchierte Schicksal von sechs verschiedenen Berliner Familien. Ernst Reuß Bothe, Pickhan (Hrsg.), Ausgewiesen! Berlin, 28. 10. 1938, Die Geschichte der „Polenaktion“, Metropol Verlag, Berlin 2018, 296 Seiten, 20 Euro
Es war ein ungemütlicher Oktobertag, als ich vor fast zwanzig Jahren die Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht im Osten besuchte. Ein Foto berührte mich besonders. Es zeigte eine Erschießungsszene im Zweiten Weltkrieg. Am Rande einer Grube, bereits gefüllt mit Leichen, kniet ein Mann, ein Zivilist. Er blickt direkt in die Kamera des Fotografen, während ein deutscher Soldat von hinten die Pistole auf seinen Kopf richtet. Der Fotograf wird offensichtlich kurz vor der Hinrichtung des Mannes auf den Auslöser gedrückt haben. In der Bildunterschrift war der Ort angegeben, an dem dies geschah. Es war Winniza in der Ukraine.
Ich stutzte damals: Winniza? Diesen Namen hatte ich doch schon einmal gehört. In einer Erzählung über meinen Großvater. Er soll dort während des Krieges stationiert gewesen sein. Mein Großvater Ernst, nach dem ich benannt worden bin und der zu früh verstarb, so dass ich ihn nicht mehr fragen konnte. Er war zwar Mitglied der NSDAP, tat aber weit hinter der Front in einer Schreibstube seinen Dienst. So hieß es in der Familie. Vom Krieg soll er kaum etwas mitbekommen haben. Von da an interessierte mich brennend, was in Winniza geschehen ist. Doch erst Jahre später begann ich intensiver nachzuforschen und fand heraus, dass mein Großvater in der Kommandantur eines Lagers für sowjetische Kriegsgefangene in Winniza gearbeitet hatte. Ich las alles, was ich dazu auftreiben konnte, und erfuhr, dass in diesen Lagern entsetzliche Verbrechen geschehen sind. Erstaunt stellte ich fest, dass in Deutschland zwar viel über deutsche Kriegsgefangene in Sibirien geschrieben wurde, es aber kaum Publikationen über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gibt. Obwohl sie neben den Juden diejenige Opfergruppe waren, die das schlimmste Schicksal im Zweiten Weltkrieg erleiden musste. Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern starben 3,3 Millionen. Noch größer war mein Erstaunen, als ich bei meinen Recherchen darauf stieß, dass mein anderer Großvater, Lorenz, der kein Nazifreund war, mehrere Jahre als Gefangener in russischer Hand in eben diesem Lager in Winniza verbringen musste. Nachdem die deutschen Okkupanten vertrieben worden waren. Beide Großväter aus dem beschaulichen Unterfranken waren also in Winniza. Nun ließ mich das Thema erst recht nicht mehr los. Ich durchstöberte alle deutschen Archive, die etwas zu dieser Stadt in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges in ihren Beständen vermerkt haben. Ich wurde fündig. Gewiss, meine Rechercheergebnisse waren begrenzt, doch anhand von Originalakten konnte ich mir ein klareres Bild machen von zwei deutschen Soldaten an der Ostfront und unermesslich schrecklichen, zumeist ungesühnt gebliebenen Verbrechen. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion rückte die Front schnell an Winniza, auf ukrainisch: Winnyzja, heran. Spätestens am 21. Juli 1941 hatten die deutschen Truppen die 500 Kilometer von der sowjetisch-polnischen Grenze entfernte Stadt besetzt. Die Divisionen rollten alsbald weiter ostwärts, die Stadt wurde ins deutsche Reichskommissariat Ukraine eingegliedert. Später, nachdem der »Blitzkrieg« gescheitert war, gewann Winniza aufgrund seiner geografischen Lage an Bedeutung. Ab Mitte November 1941 wurde nördlich der Stadt in einem Wald das Führerfeldhauptquartier »Werwolf« gebaut. Schon wenige Tage nach der Besetzung der Stadt hatte die Ermordung von Juden begonnen. Das Morden wurde offiziell mit der »Beseitigung potenzieller Unruhestifter« begründet. Anfang September begann auch der Mord an Patienten der städtischen psychiatrischen Klinik. Drei größere Lager wurden in Winniza errichtet. Von Juli bis September 1941 existierte ein Ghetto für die jüdische Zivilbevölkerung, in der 7000 Menschen gepfercht und mindestens 2000 bereits vor der Deportation in die Vernichtungslager ermordet wurden. Es gab ein Zwangsarbeitslager für männliche Juden, von 1941 bis 1944 von der SS verwaltet. Als die Arbeitskräfte nicht mehr gebraucht wurden, hat man auch sie »eliminiert«. Für das dritte Lager, das Kriegsgefangenenlager Stalag 329, war die Wehrmacht zuständig. Dort wurden zwischen Oktober 1941 und September 1943 bis zu 20 000 sowjetische Soldaten und Offiziere gefangen gehalten. Stalag 329 war vielleicht nicht das schlimmste deutsche Lager auf okkupiertem sowjetischen Territorium. Aber auch dort fanden regelmäßig Aussonderungen, »Sonderbehandlungen« und Hinrichtungen statt. Da sich die Ukraine heute wieder im Krieg befindet kann man das ehemalige Stalag 329 in militärischem Sperrgebiet nur mit einer Sondergenehmigung aufsuchen. Fotografieren ist in der Regel nicht erlaubt. Vom Kriegsgefangenenlager blieb eine Baracke erhalten. Am Ort eines Massengrabes steht ein Mahnmal für die Toten. Erst 2008 wurden die sterblichen Überreste der dort verscharrten Kriegsgefangenen exhumiert und würdig bestattet. Im nahe gelegenen frei zugänglichen Teil des Stalags 329 befindet sich ebenfalls ein Denkmal. Auch außerhalb der drei Lager wurde gemordet. Laut städtischer Registrierung hatten 33 150 Juden 1939 in Winniza gelebt, sie stellten 35,6 Prozent der Einwohner. Als die Deutschen im Juli 1941 in die Stadt einmarschierten, trafen sie noch auf 18 000 jüdische Bürger. Die anderen waren vor den Deutschen geflohen, wissend was ihnen blühen würde. Allein an einem einzigen Tag, am 19. September 1941, wurden mehr als 10 000 Juden durch das 45. Reserve-Polizeibataillon erschossen. Und am 15. April 1942 noch einmal knapp 5000 Juden vor den Toren der Stadt. Ungefähr 1000 als unabkömmlich geltende jüdische Handwerker ließ man zunächst noch am Leben. Am 20. März 1944 wurde Winniza von der Roten Armee befreit. Es sollen damals nur 74 jüdische Überlebende gezählt worden sein. Heute ist lediglich ein Prozent der Bevölkerung jüdisch. Die Stadt ist gewachsen, hat sich vergrößert und verschönt. An den Stätten der Massenmorde bietet eine private Gärtnerei Obstbäume, Sträucher und Blumen an. Drei von jüdischen Organisationen errichtete kleine Denkmäler weisen auf die einstigen Verbrechen hin. Ansonsten scheint die Geschichte ausgelöscht. Die Massaker wie auch Stalag 329 scheinen in der Ukraine heute weitestgehend vergessen. Eines der drei bescheidenen Denkmäler erinnert an die ermordeten Kinder, die ihren Müttern entrissen und vor den Augen ihrer Eltern als erste erschossen und in die Grube gestoßen worden sind. Da die Mahnmale sich auf einem Privatgelände befinden, ist der Zugang nicht immer gewährleistet. Mein Großvater Ernst muss von den Verbrechen gewusst haben, auch wenn er wahrscheinlich nicht direkt involviert gewesen ist. Wir haben uns nicht kennengelernt. Er ist mit 42 Jahren 1950 an einem Herzleiden gestorben, das er sich während des Krieges zugezogen hatte. Bedrückte ihn die Last der Verbrechen? Mein anderer Großvater, Lorenz, ist Ende Januar 1942 in die Wehrmacht eingezogen und bereits einige Wochen später an die Ostfront ins Kubangebiet geschickt worden. »Kanonenfutter« nannte man die im Eiltempo militärisch ausgebildeten jungen Männer. Da sie keinerlei Kampferfahrung besaßen, war ihre Lebenserwartung an der Front nicht sonderlich hoch. Nur wenige aus dem Regiment von Großvater Lorenz überlebten den Zweiten Weltkrieg. Er hatte Glück im Unglück, wurde bei Noworossijsk im Juli 1943 bei einem Granatenangriff schwer verletzt. Nach seiner Genesung musste er allerdings wieder ran, die Reichshauptstadt verteidigen. Am 2. Februar 1945 schrieb er zum letzten Mal an seine Frau: »Man könnte aus der Haut fahren, wenn man dieser ekligen Zeit gedenkt. Zwölf Jahre Haß und Elend und wie lange wird es noch dauern?« Solche Ansichten und Einsichten schriftlich weiterzuleiten, war damals gefährlich. Gefreiter Lorenz hatte abermals Glück. Am 16. April 1945 geriet er in der Nähe von Berlin in sowjetische Gefangenschaft. Am 10. Mai, zwei Tage nach der Kapitulation Nazideutschlands, kam er in der Ukraine an und wurde in Lager Winniza, dem früheren Stalag 329, interniert. Dort sollte er erst einmal bis Ende Juli 1947 bleiben. Danach ging es für ihn weiter in ein Lager in Kiew, wo es ihm nach eigenem Bekunden bis zum Ende seiner Kriegsgefangenschaft im Mai 1949 als Lagerfriseur nicht schlecht ging. Er litt allerdings zeit seines Lebens an den im Krieg erlittenen Verletzungen. Aber immerhin, er war einer von etwa zwei Millionen der insgesamt 3,1 Millionen deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, die wieder in die Heimat zurückkehren konnten. Ein Drittel starb in den Lagern – oder auf dem Weg dorthin. Die häufigsten Todesursachen waren, vor allem nach der Stalingrader Schlacht, Auszehrung, Erschöpfung, miserable körperliche Konstitution, aber natürlich auch die allgemein schlechte Lebens- und Versorgungssituation in der ausgebluteten Sowjetunion, wo man sich ansonsten, im Großen und Ganzen, an die Genfer Konvention hieß. Darin lag der beträchtliche, nicht zu vergessende Unterschied im Umgang mit Kriegsgefangenen auf deutscher und sowjetischer Seite. Die Nazis waren mitnichten an einer menschenwürdigen Behandlung der »slawischen Untermenschen« interessiert. Die Leiden der überlebenden Rotarmisten hatten auch nach dem Krieg kein Ende. Bereits am 16. August 1941 wurde die Gefangenschaft bei den Deutschen durch Stalins Befehl Nr. 270 mit Verrat gleichgesetzt. Von den sowjetischen Kriegsgefangenen, die heimkehrten, wurden vier Fünftel verurteilt oder als Zwangsarbeiter in entlegene Gegenden geschickt. Erst 1957, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, kamen sie im Rahmen einer Amnestie frei, blieben aber bei der eigenen Bevölkerung häufig geächtet. Wen man heute in deutschen Städten wieder junge Männer »Heil« und »Nationaler Sozialismus« skandieren hört, Bundestagsabgeordnete wieder stolz sind auf die Leistungen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg und das mörderischste Regime auf deutschen Boden als »Vogelschiss in der Geschichte« bezeichnen, kann man das Grauen bekommen. Ernst Reuß
Nachdem seit Mai 1945 der noch von den Sowjets eingesetzte Magistrat – mit sechs kommunistischen Mitgliedern, je zwei Sozialdemokraten und Parteilosen sowie sieben dem bürgerlichen Lager zuzurechnenden Mitgliedern – die Stadt mitregierte, fand am 20. Oktober 1946 die erste Wahl seit dem 12. März 1933 statt. Es sollte zugleich die letzte Wahl für ganz Berlin bis zum 2. Dezember 1990 sein, an die bis zum Fall der Mauer an jedem runden Jubiläumstag durch Sondersitzungen des Westberliner Abgeordnetenhauses erinnert wurde. 2,3 Millionen Bürger waren wahlberechtigt, wovon aufgrund des Krieges 1,5 Millionen Frauen waren. Die Wahlbeteiligung lag bei 92,3 Prozent.
Anders als in der nur von den Sowjets verwalteten Besatzungszone hatte sich die SPD in Westberlin unter dem Schirm der Westalliierten der Verschmelzung von SPD und KPD erfolgreich widersetzen können. Am 31. März 1946 war in den Westsektoren eine – im Osten verbotene – Urabstimmung über die Vereinigung durchgeführt worden. Die ziemlich suggestiv gestellten Fragen lauteten: „Bist du für den sofortigen Zusammenschluß beider Arbeiterparteien?“ „Bist du für ein Bündnis beider Parteien, welche gemeinsame Arbeit sichert und Bruderkampf ausschließt?“ Liest man die Fragen, ist es eigentlich relativ einleuchtend, dass die zweite Variante eher Zustimmung fand als die erste. 82 Prozent der abstimmenden SPD-Mitglieder wandten sich daher gegen die Vereinigung mit der Kommunistischen Partei und nur 62 Prozent sprachen sich für eine Zusammenarbeit mit der KPD aus. Insgesamt war bei dieser ersten Wahl, aufgrund der von den Sowjets finanzierten aufwendigen Propaganda, ein Sieg der SED erwartet worden. Das war ein Irrtum. Anders als in der nur von den Sowjets verwalteten Besatzungszone siegte in Berlin die SPD. Die SPD erreichte 48,7 Prozent, die CDU 22,2 Prozent, die SED 19,8 Prozent und die LDP 9,3 Prozent. Von der SED-Landesleitung Berlin wurde – nach der Wahl – selbstverständlich eine ganz andere Einschätzung vorgenommen: „Unter dem lähmenden Druck der westlichen Besatzungsmächte kamen die Wahlen vom 20. Oktober 1946 zustande, die im Zeichen einer wüsten Hetze gegen die führende demokratische Kraft, die SED, standen. Dennoch ergaben die Wahlen eine eindeutige Mehrheit der SPD und SED. Eine fortschrittliche, demokratische, den Interessen der Berliner Bevölkerung dienende Politik wäre möglich gewesen, wenn die SPD-Führer sich zu einer solchen bereitgefunden hätten.“ Die 130-köpfige Stadtverordnetenversammlung konstituierte sich daraufhin am 26. November 1946. Der im Mai 1945 von den Sowjets eingesetzte Magistrat wurde nach der Wahl durch einen Allparteien-Magistrat abgelöst, in dem die SED nur noch drei der nun 19 Mitglieder stellte. Oberbürgermeister wurde Dr. Otto Ostrowski (SPD), der jedoch schon bald wegen innerparteilichen Streitigkeiten zurücktrat. Grund dafür war die Tatsache, dass er sich auf Gespräche mit der SED eingelassen hatte, was im „Kalten Krieg“ nicht gern gesehen wurde. Das Amt übernahm geschäftsführend Louise Schroeder (SPD), da der eigentlich von der Stadtverordnetenversammlung mit 89 von 108 abgegebenen Stimmen gewählte Nachfolger Ernst Reuter (SPD), der vorherige Verkehrsstadtrat, sein Amt infolge eines Vetos der Sowjets nicht antreten durfte. Reuter, der nach der Oktoberrevolution Lenins Beauftragter für die Wolgadeutschen und Stalins unmittelbarer Untergebener war, wurde 1921 Generalsekretär der KPD. Man schloss ihn aber bereits ein Jahr später aus der Partei aus, da er der Moskauer Parteilinie nicht folgte. Ein Abtrünniger als Oberbürgermeister von Berlin? Für die Sowjets undenkbar. Die Alliierten waren zu dieser Zeit schon so zerstritten, dass sie sich nicht mal über die Bekanntgabe der Nichtbestätigung einigen konnten. Das sowjetische Veto, durfte nicht als solches bekannt gegeben werden. Später äußerte sich Stadtkommandant Kotikow folgendermaßen: „Herr Reuter [...] wird nicht zugelassen werden. Diesen Posten kann nur eine Persönlichkeit bekleiden, die fähig ist, mit allen vier alliierten Besatzungsmächten zusammenzuarbeiten [...]. Reuter ist keine solche Persönlichkeit. Erstens hat es Reuter während seiner Anwesenheit in Berlin fertiggebracht, sich durch seine antisowjetischen verleumderischen Ausfälle zu empfehlen. Reuter ist einer der Initiatoren und Leiter der schmutzigen antisowjetischen Kampagne [...]. Zweitens ist die politische Vergangenheit Reuters recht dunkel und zweifelhaft.“ (Ausschnitt aus Ernst Reuß, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern, S. 130 ff.)
Timothy Snyder, ein US-amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University, ist seit seinem Buch „Bloodlands“, ein gefeierter Star, der aber auch wegen der Gleichsetzung Stalins und Hitler stark kritisiert wird. „The Road to Unfreedom“ erschien im Frühjahr dieses Jahres. Nun gibt es das Buch auch auf Deutsch. Es heißt hier genauso: „Der Weg in die Unfreiheit. Russland - Europa – Amerika“.
Der Tenor seines Buches: Mutter allen Übels ist Wladimir Putin, der die Institutionen des Westens mit allen Mitteln – von der Finanzierung des Rechtspopulismus in Europa bis zum Cyberwar – untergraben will. Trump, der mit Russen viel Geld verdient, ist Putins Geschöpf und sein größter Erfolg. Den Brexit hat Putin mit seiner „Kampagne zur Untergrabung der Faktizität“ verursacht. Putin versucht die europäische Integration zu zerstören. Snyder meint, dass die russische Politik die Schwächen der europäischen Politik erkannt und ausgenutzt habe, weswegen unsere Demokratie in großer Gefahr sei. Der Wahlsieg von Kaczynskis PiS in Polen, die Erfolge der AFD in Deutschland und die des Front National in Frankreich sind weitere Belege für seine These. Hinter all dem mag die Wahrheit stecken, trotzdem überschätzt Snyder anscheinend Putins Erfolge und die Möglichkeiten seines Propagandaapparats. Wüsste man nicht, dass es sich beim Autor um einen wohlbekannten und ehrbaren Professor handelt, könnte man das Buch in die lange Liste der Verschwörungsliteratur einordnen. Beispielsweise setzt er die „Flüchtlingskrise“ in Deutschland mit der bewussten russischen Bombardierung Syriens in unmittelbare Beziehung. Putin wollte Flüchtlinge gegen Angela Merkel produzieren um Panik unter den Europäern zu schüren. Als ob es nicht auch andere Gründe für das russische Bombardement gegeben haben könnte. Ernst Reuß Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit, Russland - Europa – Amerika, Aus dem Englischen von Ulla Höber und Werner Roller, C. H. Beck Verlag, München 2018, 376 Seiten, 24,95 Euro
„‘Warum kommen die ganzen Syrer hierher, haben die denn zu Hause keine Armee, die sie beschützt?‘ Mock nickt. Man stelle sich vor, sagt er, die deutschen Männer wären damals im Krieg alle geflohen, anstatt für ihr Land zu kämpfen, das wäre doch in einer Katastrophe geendet. Kurze Pause. Nein, er merkt es nicht.“
Schon alleine wegen so einer Beobachtung aus Freital ist das Buch lesenswert. Man könnte über so viel Dummheit herzhaft lachen, wenn einem das Lachen darüber nicht schon längst im Halse steckengeblieben wäre. Sicher, die im Buch beschriebenen Ereignisse gab es ähnlich auch in anderen Landstrichen, aber Sachsen war und ist nun mal sehr häufig der Brennpunkt von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit. In „Unter Sachsen“ legt der Christoph Links Verlag eine bemerkenswerte Studie zu den sächsischen Verhältnissen vor. Mehr als 40 Autorinnen und Autoren haben sich damit auseinandergesetzt wie es dazu kommen konnte, dass gerade Sachsen immer wieder zum Ausgangspunkt von xenophoben Angriffen wird. Schlüssige Analysen, Interviews und Kommentare wechseln sich im Buch ab. Es handelt von abwiegelnden Politikern, der Bagatellisierung des Hasses gegen Andersdenkende, von blankem Rassismus und von Dummheit. Beleuchtet werden beispielsweise der Zustand der sächsischen CDU sowie die Hintergründe von Pegida und AfD in Sachsen. Reportagen zeigen die Verhältnisse vor Ort, in Leipzig oder Dresden, aber auch in kleinen Gemeinden, die wegen der dortigen Vorkommnisse in aller Munde waren und sind. Dort gibt es rechtsfreie Räume mit rechtem Terror und untätigen Polizisten. Manchmal stockt einem der Atem beim Lesen der Reportagen. Selbst vor Morden schreckte man nicht zurück, wobei es nicht nur Ausländer traf. Es genügte schon anders zu sein als der rechte Mob im Dorf, der von „besorgten Bürgern“, die ihre Hände in Unschuld waschen und sich für „das Volk“ halten, noch befeuert wird. Eine Chronik seit 1990 beschließt das Buch. Ein lesenswertes, kritisches Buch, das die, die es lesen sollten nicht erreichen wird, dem aber trotzdem eine große Leserschaft zu wünschen ist. Ernst Reuß Heike Kleffner, Matthias Meisner (Hrsg.), Unter Sachsen, Zwischen Wut und Willkommen, Berlin März 2017, 312 Seiten, 18 €. |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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