Ein Berliner Jurist schreibt über die Kriegsgefangenen an der Ostfront Am 22. Juni 1941, überfiel Nazideutschland die Sowjetunion. Millionen Menschen gerieten an der Ostfront in Gefangenschaft – auf beiden Seiten. Für den Berliner Rechtswissenschaftler Ernst Reuß ist das Teil seiner Familiengeschichte: Ein Großvater war als Besatzer in einem Lager für sowjetische Kriegsgefangene tätig, ein anderer kam später als deutscher Kriegsgefangener in dieses selbe Lager. Von Ernst Reuß Es war im Oktober 1999, als ich eine Ausstellung zum Holocaust sah und ein Foto mich sehr berührte: das Foto einer Erschießung im Zweiten Weltkrieg. Zu sehen ist ein am Rande einer Grube mit Leichen kniender einzelner Zivilist, der direkt in die Kamera des Fotografen blickt, während ein deutscher Soldat von hinten die Pistole auf seinen Kopf richtet. Der Fotograf hatte offensichtlich kurz vor der Liquidierung auf den Auslöser gedrückt. Als Bildunterschrift war auch der Ort angegeben, an dem die Erschießung stattfand. Es war Winniza in der Ukraine. Winniza? Das hatte ich schon gehört. Dort war während des Krieges mein Großvater, erzählte man sich. Mein Großvater Ernst, der zu früh verstorbene, nach dem ich benannt wurde. Er war zwar Parteimitglied, aber weit hinter der Front in einer Schreibstube tätig, hieß es. Vom Krieg soll er kaum etwas mitbekommen haben. Von da an interessierte mich brennend, was in Winniza geschehen war. Ich begann nachzuforschen und fand heraus, dass mein Großvater in der Kommandantur eines Lagers für sowjetische Kriegsgefangene in Winniza gearbeitet hatte. Ich las alles, was ich dazu auftreiben konnte, und erfuhr, dass in derartigen Lagern entsetzliche Verbrechen geschehen sind. Erstaunt stellte ich fest, dass in Deutschland zwar viel über deutsche Kriegsgefangene in Sibirien geschrieben wurde, es aber kaum etwas über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gibt, obwohl 3,3 Millionen von ihnen – mehr als die Hälfte – in deutschen Lagern umgekommen sind. Noch größer war mein Erstaunen, als ich bei meinen Recherchen darauf stieß, dass mein anderer Großvater Lorenz, der kein Nazifreund war, mehrere Jahre – als Gefangener in russischer Hand – in eben diesem Lager in Winniza verbringen musste, nachdem die Deutschen abgezogen waren. Nun ließ mich das Thema erst recht nicht mehr los. Ich durchstöberte alle deutschen Archive, die dazu etwas in ihren Beständen hatten, und wurde auch fündig. Die Ergebnisse waren begrenzt, doch viele Originalakten führten dazu, dass das Bild immer klarer wurde. Das Bild von zwei einfachen Soldaten an der Ostfront und schrecklichen, zumeist ungesühnten Verbrechen. In Winniza, wo mein Großvater Ernst als Feldwebel tätig war, gab es drei Lager: Von Juli bis September 1941 existierte ein Ghetto für die jüdische Zivilbevölkerung. Es hatte ungefähr 7000 Bewohner und mindestens 2000 Tote durch Erschießungen zu beklagen. Als zweites Lager wurde in Winniza ein Zwangsarbeitslager für männliche Juden unter SS-Verwaltung errichtet, das von 1941 bis 1944 bestand. Seine Insassen hat man zu Gleisbauarbeiten herangezogen. Als die Arbeiter nicht mehr gebraucht wurden, sollen auch sie erschossen worden sein. Für das dritte Lager, das eigentliche Kriegsgefangenenlager Stalag 329, war die Wehrmacht zuständig. Dort wurden zwischen Oktober 1941 und September 1943 bis zu 20 000 sowjetische Soldaten gleichzeitig gefangen gehalten. Stalag 329 war nicht das schlimmste der Lager im Osten. Es fanden aber auch dort Aussonderungen, Sonderbehandlungen und Morde statt. Ganz zu schweigen davon, dass es außerhalb der drei Lager im Herbst 1941 und Frühjahr 1942 zu Massenerschießungen kam. Es wird geschätzt, dass dabei zwischen 15 000 und 30 000 Einwohner von Winniza umgebracht wurden. (Anmerkung zu neueren Zahlen, siehe unten) Ernst muss von den Verbrechen zumindest gewusst haben, auch wenn er wahrscheinlich nicht direkt involviert gewesen ist. Wir haben uns nicht kennengelernt. Er ist mit nur 42 Jahren 1950 an einem Herzleiden gestorben, das er sich während des Krieges zugezogen hatte. Mein anderer Großvater Lorenz wurde erst Ende Januar 1942 eingezogen und bereits einige Wochen später an die Ostfront ins Kubangebiet geschickt. Er war einfacher Gefreiter. Kanonenfutter nannte man diese kurz ausgebildeten Soldaten. Da sie keinerlei Kampferfahrung besaßen, war ihre Lebenserwartung an der Front nicht sonderlich hoch. Nur wenige aus seinem Regiment überlebten den Zweiten Weltkrieg. Lorenz hatte Glück im Unglück und wurde bei Noworossijsk im Juli 1943 bei einem Granatenangriff schwer verletzt. Nach seiner Genesung musste er allerdings wieder ran, um die Reichshauptstadt zu verteidigen. Am 2. Februar 1945 schrieb er zum letzten Mal an seine Frau: „Man könnte aus der Haut fahren, wenn man dieser ekligen Zeit gedenkt. Zwölf Jahre Haß und Elend und wie lange wird es noch dauern?“ Lorenz geriet am 16. April 1945 in der Nähe von Berlin in sowjetische Gefangenschaft. Bereits am 10. Mai 1945 kam er in der Ukraine im Lager Winniza – dem früheren Stalag 329 – an. Dort sollte er erst einmal bis Ende Juli 1947 bleiben. Danach wurde er ins Lager Kiew verlegt, wo es ihm nach eigenem Bekunden bis zum Ende seiner Kriegsgefangenschaft im Mai 1949 als Lagerfriseur nicht schlecht ging. Er litt allerdings zeit seines Lebens an den im Krieg erlittenen Verletzungen. Mein Großvater war einer von etwa zwei Millionen der 3,1 Millionen deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, die wieder nach Deutschland zurückkehrten. Demnach ist über ein Drittel in den Lagern – oder auf dem Weg dorthin – gestorben. Doch die häufigen Todesfälle auf sowjetischer Seite konzentrierten sich vor allem auf die Zeit unmittelbar nach Stalingrad und sind weitgehend mit der Auszehrung und dem schlechten Gesundheitszustand der deutschen Soldaten nach den langen Kämpfen zu erklären. Ein weiterer Grund war die allgemein schlechte Lebens- und Versorgungssituation in der ausgebluteten Sowjetunion. Im Großen und Ganzen hielt sich Moskau an die Genfer Konvention. Das unterschied sich fundamental vom Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen auf deutscher Seite. Dort war man mitnichten an einer menschenwürdigen Behandlung der „Untermenschen“ interessiert. Die Leiden der Überlebenden hatten auch nach dem Krieg kein Ende. Bereits am 16. August 1941 war Gefangenschaft durch Stalins Befehl Nr. 270 mit Verrat gleichgesetzt worden. Von denen, die heimkehrten, wurden vier Fünftel verurteilt oder als Zwangsarbeiter in entlegene Gegenden geschickt. Erst 1957, nach dem 20. Parteitag der KPdSU, kamen sie im Rahmen einer Amnestie frei, blieben aber bei der eigenen Bevölkerung häufig geächtet. Der Autor, Jahrgang 1962, ist Jurist und lebt in Berlin. Zuletzt ist sein Buch „Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg“ in aktualisierter Fassung erschienen. Seit 29. Dezember 2020, gibt es in Winnyzja/Ukraine, Teatralnaja 15 dazu eine Ausstellung. Es geht um NS-Verbrechen in Winnyzja 1941-1944: um sowjetische Kriegsgefangene und um ermordete Patient*innen der dortigen psychiatrischen Klinik. Ausstellungsdesign: Andrij Yermolenko. Nach der Übersetzung wird die Ausstellung hoffentlich auch in Deutschland zu sehen sein. Anmerkung: „Auch außerhalb dieser drei Lager kam es zu Erschießungen. Im September 1941 und im Frühjahr 1942 sogar zu Massenerschießungen. 33 150 Juden hatten 1939 in Winniza gelebt, was immerhin 35,6% der Gesamtbevölkerung war. Als die Deutschen am 19. Juli 1941 die Stadt einnahmen waren noch 18 000 jüdische Bürger in der Stadt, der Rest war geflohen. Schätzungen gehen davon aus, dass am 19. September 1941 mehr als 10 000 Juden durch das 45. Reserve-Polizeibataillon erschossen wurden. Am 15 April 1942 wurden nochmal knapp 5 000 Juden kurz vor den Toren der Stadt Winniza umgebracht. Ungefähr 1 000 unabkömmliche Handwerker ließ man vorerst noch am Leben. Direkt nach dem Krieg sollen gerade noch 74 Bürger jüdische Überlebende gezählt worden sein. Heute ist nur noch 1 % der Bevölkerung jüdischen Glaubens.“ (Ernst Reuß, Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, S. 84)
Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden in den Osten deportiert. Sie wurden dort kurz nach ihrer Ankunft in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas oder im nicht weit entfernten Wald von Rumbula erschossen und in Massengräbern verscharrt.
Bei den Opfern in Rumbula handelte sich meist um lettische Juden aus dem Ghetto Riga, welches „freigemacht“ wurde, um für deportierte Juden aus Deutschland Platz zu gewinnen. Eine Überlebende der dortigen Massaker an fast 30 000 Juden am 30. November und am 8. Dezember 1941 war Frida Michelson. Sie war eine Schneiderin und kam ins Ghetto, wie alle anderen Juden auch. Erst 60 Jahre nachdem sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben hatte, erscheint nun endlich das Buch „Ich überlebte Rumbula“ auf Deutsch. Die Erinnerungen von Frida Michelson sind sehr ergreifend, da es immer wieder unfassbar ist, was die Menschen durchmachen mussten und was Menschen anderen Menschen antun können. Der Bericht, den sie bereits in den 1960er Jahren auf jiddisch verfasst hatte, handelt vom Einmarsch der deutschen Truppen in Lettland, der Ausgrenzung, Verfolgung, Ghettoisierung und anschließend der Vernichtung im Wald von Rumbula durch Deutsche und ihre lettischen Helfer, der sie am 8. Dezember 1941 nur mit viel Glück entkam. Sie stellte sich tot und versteckte sich in einem Berg aus Schuhen, den die Opfer vor ihrer Ermordung ausziehen mussten. Es ist ein einzigartiges Dokument, welches lange Zeit in Deutschland nicht wahrgenommen worden war und nun endlich von der Europäischen Verlagsanstalt veröffentlicht wurde. Michelson gelang es drei Jahre lang mit Hilfe einzelner Menschen der lokalen Bevölkerung zu überleben. Ihr wurde meist von Adventisten geholfen, die das als ihre christliche Pflicht ansahen. Schließlich erlebt sie in einem Dorf in der Nähe von Riga unter ständiger Todesangst den überstürzten Rückzug der Deutschen. Sie heiratet nach dem Krieg einen anderen überlebenden Juden, war aber als Überlebende und aufgrund ihres Glauben in der Stalinära ständigen Verdächtigungen ausgesetzt. Ihr Mann wurde nach Sibirien deportiert und erst nach Stalins Tod rehabilitiert. Er kam krank zurück und starb 1966. 1971 konnte Frida Michelson mit ihren beiden Söhnen nach Israel auswandern. Dort erschien ihr Bericht 1973 erstmals in Buchform in russischer Sprache. 1979 auf Englisch und 2005 erstmals auf Lettisch. Frida Michelson starb 1982 in Israel. Ihren Erinnerungen ist eine Chronologie der Geschehnisse angefügt. Sehr lesenswert! Von 1941 mindestens 500 000 im Reichskommissariat „Ostland“ (Lettland, Litauen, Estland und Weißruthenien) ansässigen Juden lebten nach dem Krieg keine 10 000 mehr. Als Reichskommissar war der 1896 geborene Hinrich Lohse für das was dort geschah an führender Stelle verantwortlich. Lohse selbst nahm an einer Massenerschießung teil, um sich ein „Bild zu machen“. Er war ein überzeugter Nazi und bereits seit 1925 Gauleiter von Schleswig-Holstein. Er überlebte den Krieg, im Gegensatz zu den Opfern der Massenerschießungen. Ein Militärgericht verurteilte ihn 1948 zu zehn Jahren Gefängnis, aber man entließ ihn schon bald wegen „dauernder Haftunfähigkeit. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Lohse dann erstaunlicherweise als Minderbelastet eingestuft, ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt und Lohse erstritt sich in einer Klage gegen die Landesregierung von Schleswig-Holstein 25 Prozent seiner Pensionsansprüche. Zudem erhielt er vom Verlag der Kieler Nachrichten das Gehalt eines Redakteurs und „forschte“ ausgerechnet zur „NS-Geschichte“. Lohse starb unbescholten und weitgehend unbemerkt im Jahre 1964. Viktors Arājs, ein berüchtigter lettischer Kollaborateur, der am Holocaust während der deutschen Besetzung Lettlands und Weißrusslands mit seinem „Sonderkommando“ beteiligt war und für die Ermordung von etwa der Hälfte der lettischen Juden verantwortlich gewesen sein soll, wurde 1979 vom Landgericht Hamburg für schuldig befunden. Er war maßgeblich daran beteiligt, die im Großen Rigaer Ghetto lebenden Juden am 8. Dezember 1941 im Wald von Rumbula durch Massenerschießung zu ermorden. Arājs bekam lebenslänglich und starb 1988 mit 78 Jahren im Gefängnis. Auch er wurde viel älter, als die meisten seiner Opfer. Ernst Reuß Frida Michelson, Ich überlebte Rumbula, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2020, 222 Seiten 22 €
Heute teilt sich die historische Region Dobrudscha am Schwarzen Meer in die rumänische Norddobrudscha und die bulgarische Süddobrudscha. Dobrudscha liegt noch hinter der Wallachei, wohin umgangssprachlich schon so mancher verwünscht worden ist.
Schon immer zog es Menschen aus verschiedenen Kulturen hierher ins Donaudelta. Sie haben dabei ein multikulturelles Gemisch an Sprachen und Konfessionen hinterlassen. 1841 wanderten dann auch die ersten Deutschen dorthin, die zuvor in nördlichere Gebiete ausgewandert waren. Diesmal war es keine gezielte staatliche Ansiedlung, sondern ein ungeordneter Zuzug. Grund waren vor allem wirtschaftliche Gründe und später die Angst als Soldaten in den Krimkrieg hineingezogen zu werden. Ab 1873 setzte eine zweite Einwanderungswelle ein, danach 1890/91 eine dritte. Die Dobrudschadeutschen nannten sich selbst Schwaben, wenn sie ursprünglich aus dem Süddeutschen Raum ausgewandert waren, und Kaschuben, wenn sie aus Pommern kamen. Sie lebten überwiegend von der Landwirtschaft. Schon im Ersten Weltkrieg wunderten sich deutsche Soldaten, wenn sie auf Dörfer stießen und in der Heimatsprache angesprochen wurden. Nach einer hundertjährigen Episode verließen die meisten 1940 die Gegend wieder. Die Dobruschdeutschen wurden in das Deutsche Reich umgesiedelt. Hitler hatte sie „Heim ins Reich“ gerufen. Die Umsiedler wurden in etwa 100 Lagern im Gau Mainfranken und im Gau Niederdonau untergebracht. Nicht alle waren zufrieden mit ihrer dortigen Lage und weigerten sich, sich einbürgern zu lassen. Das lag wohl auch daran, dass sie in die Wehrmacht eingezogen werden sollten und endete für einige im KZ, aus dem sie wieder kamen, als sie sich gezwungenermaßen eines Besseren besannen. Der Rest der Dobrudschadeutschen zog am Ende des Zweiten Weltkriegs gen Westen, auf der Flucht vor der Roten Armee. Laut einer rumänischen Volkszählung von 2011 gab es nur noch 166 Deutsche in der Norddobrudscha. Das war 0,01 % der Bevölkerung. Mehr als 3 % im Jahre 1899 waren es nie. Von den dobrudschadeutschen Dörfern, den Siedlungen und den Kirchen ist nicht viel übrig geblieben. Für denjenigen, der sich näher mit den Dobrudschadeutschen beschäftigen will, hat Josef Sallanz in seiner reich bebilderten Darstellung der Geschichte alles Notwendige in seinem Buch aufgeschrieben. Erschienen ist es in der Potsdamer Bibliothek des Deutschen Kulturforums östliches Europa. Sallanz fragt sich zum Schluss ob es überhaupt sinnvoll ist, die Dobrudschadeutschen als eigene Gruppe zu sehen, denn sie selbst sahen sich erst nach der Umsiedlung ins Deutsche Reich so. Zuvor waren sie wenig homogen, mit unterschiedlichen Konfessionen und Dialekten. Ernst Reuß Sallanz, Josef: Dobrudscha. Deutsche Siedler zwischen Donau und Schwarzem Meer. Potsdam 2020, 350 Seiten, 19,80 €.
Laut Verlagsangaben erreichten 16 Abmahnungen den Berliner Christoph Links Verlag nach Veröffentlichung der ersten Auflage des Buches „Völkische Landnahme“. Mehrheitlich aus einer Kanzlei, in der der ehemalige Präsident des Bundesamt für Verfassungsschutz mitwirkt. Der vertritt in der Öffentlichkeit gerne rechtspopulistische Thesen, die Kanzlei anscheinend das im Buch beschriebene Klientel.
Es ist zu hoffen, dass das bei den Verkaufszahlen der nun erschienenen zweiten Auflage helfen wird, denn dort beleuchten die Autoren Andrea Röpke und Andreas Speit die so genannte „Völkischen Landnahme“. Besonders häufig trafen die Autoren in Mecklenburg-Vorpommern auf deren Anhänger. Die Autoren sind Experten auf dem Gebiet des Rechtsextremismus und zeigen auf, wie völkische Bewegungen mehr und mehr den entlegenen ländlichen Raum erobern. Diese nutzen die Landflucht und setzten sich auf dem verwaisten Land fest. Die Siedler kaufen leerstehende Bauernhöfe in ländlichen Regionen, halten ihr Vieh artgerecht-ökologisch und machen sich in der Gemeinschaft nützlich. Sie präsentieren sich gerne heimatverbunden, veranstalten Zeltlager für Kinder und pflegen traditionsreiche Rituale wie den Volkstanz. So infiltrieren oft junge Familien, die Anhänger einer rechtsradikalen Ideologie sind, die lokale Infrastruktur. Gleichzeitig vernetzen sie sich mit anderen Jüngern der „Völkischen Landnahme“ und propagieren ein rassistisches-antisemitisches Weltbild. Umweltschutz und ökologisches Leben liegen im Trend. Junge Menschen, die für den Klimaschutz demonstrieren sind möglicherweise für deren ökologisch verpackten kruden Botschaften empfänglich. Die weit verbreitete Annahme, dass sich Rechtsradikalismus und eine ökologische Lebenseinstellung widersprächen, ist vollkommen falsch. Nachbarn und Jugendliche durchschauen die eigentliche Ideologie deswegen oft auch erst spät. Öko sein bedeutet für sie meist links sein. Es gibt aber die rechten Ökos. Schon bei den Nazis hatte die Blut- und Boden Ideologie und völkisches Brauchtum seinen Platz. Heutzutage finden Wahlhelfer rechtsradikaler Parteien während des ländlichen Wahlkampf auf den übernommenen Bauernhöfen Unterschlupf für die Verbreitung ihrer Ideologie. Die Siedler wiederum nehmen an Veranstaltungen von Pegida oder der AfD teil, Aktivisten der „Identitären Bewegung“ besuchen Veranstaltungen der völkischen Siedler. Prominente Vertreter, wie Björn Höcke werben für die Idee. Andreas Kalbitz, der an völkischen Lagern teilnahm, ist da nur die Spitze des Eisbergs. Röpke und Speit machen aufmerksam auf eine - wie sie glauben - unterschätzte Gefahr, die auch auf dem Radar der Sicherheitsbehörden nicht oder nicht ausreichend auftaucht. Ernst Reuß Andrea Röpke, Andreas Speit, Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos, Christoph Links Verlag, Berlin 2020, 208 Seiten, 18 €.
1762/63 rief Zarin Katharina II. Ausländer zur Besiedlung und Kultivierung ins Russische Reich. Die Zarin mit deutschen Wurzeln erlaubte nach ihrer Machtübernahme auch tausenden deutschen Bauern die Ansiedlung in den Ebenen beiderseits der Wolga. Man spricht daher von den Wolgadeutschen. Die Zarin versprach den Siedlern Religions- und Steuerfreiheit sowie das Verfügungsrecht über ihr Land. Es kam in der Folge zu deutschen Ansiedlungen im Nordkaukasus, in Georgien, in Aserbaidschan und in Armenien.
Ein relativ unbekanntes Kapitel stellt die Besiedelung vor allem von radikal-pietistischen Schwaben in Südkaukasien dar. 1817 bis 1819 geschah das. Etwa 500 Großfamilien gründeten 1818 nahe Tiflis, acht Kolonien, die dort als „Schwabendörfer“ bekannt wurden. 1918 gab es in Georgien schon mehr als 20 derartiger Dörfer. Man würde die als Kaukasiendeutsche bezeichneten Auswanderer heute wohl Wirtschaftsflüchtlinge oder Sektenangehörige nennen. Auf ihre Herkunft und Kultur legten sie Wert und sprachen auch in ‘Russland ihren eigenen Dialekt. Obwohl ihre Anzahl vergleichsweise gering war, hinterließen sie laut den Autoren in der Region tiefe Spuren. Nicht nur in der Architektur der Hauptstädte Tiflis und Baku; sondern auch bei der Industrialisierung und bei der Wein- und Spirituosenproduktion spielten deutsche Firmen eine wichtige Rolle. Unter Stalin waren die deutschen Kolonisten im Kaukasus grundsätzlich verdächtig und auch viele von ihnen wurden verschleppt oder ermordet . Nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion 1941 erfolgte die Deportation nach Kasachstan und Sibirien. In den 1990 Jahren kamen viele ihrer Nachfahren in die Bundesrepublik zurück. Eine reich bebilderte, interessante Broschüre der vom Deutschen Kulturforum östliches Europa mitinitiierte Ausstellung „Entgrenzung - Deutsche auf Heimatsuche zwischen Württemberg und Kaukasien“, berichtet von den wenig bekannten Schicksalen. Ernst Reuß Auch, Eva-Maria; Nawroth, Manfred: Entgrenzung. Deutsche auf Heimatsuche zwischen Württemberg und Kaukasien, Potsdam 2017; mit zahlreichen Abbildungen und Übersichtskarten. Broschur, 64 Seiten, herausgegeben vom Deutschen Kulturforum östliches Europa, dem Kultur- und Wissenschaftsverein EuroKaukAsia und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte – Staatliche Museen zu Berlin, 9,80 €.
Spätestens seit 2015, als „Flüchtling“ das Wort des Jahres wurde und von vielen abschätzig gemeint war, ist die Flucht in aller Munde.
In einem Leserbrief hieß es: „Ich bin mehr in den Medien als Donald Trump und seine Tweets (...) Ich war der Hauptgrund (...) für die Erstarkung der Rechten in Europa. Ich bin die große Sorge vieler Bürger in diesem Land, denn ich bin gefährlicher als Altersarmut, Misshandlungen in den Familien, Umweltverschmutzung, Drogenkonsum, Klimawandel, Mangel an Pflegekräften und Erzieher. (...) Ich bin die Flüchtlinge! Und es ist kein grammatikalischer Fehler aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse. Ich bin die Flüchtlinge! Und zwar alle Flüchtlinge. Ich bin kein Arzt, kein Jurist, weder Bauer noch Journalist, kein Künstler, kein Verkäufer, weder Taxifahrer noch Lehrer, sondern die Flüchtlinge. (...) Obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen, verschiedene Religionen und Vergangenheiten haben, geschweige denn Weltansichten und Meinungen. Aber wen interessieren solche Unterschiede, wir sind am Ende alle die Flüchtlinge.“ Flucht ist eine historische Konstante, überall auf der Welt. Der Historiker Andreas Kossert stellt in seinem inzwischen preisgekrönten Buch „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ die Flüchtlingsbewegung anhand von vielen Einzelschicksalen in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang. Kossert zeigt welche existenziellen Erfahrungen von Entwurzelung und Anfeindung mit dem Verlust der Heimat verbunden sind und warum es für Flüchtlinge und Vertriebene schon immer ziemlich schwer war in der Fremde anzukommen, wo ihr bisheriges Leben weder anerkannt wird und schon gar nicht nachvollzogen werden kann. Auch die Kinder von Flüchtlingen empfinden oft traumatisch die Hilflosigkeit ihrer Eltern, bei denen sie sich eigentlich in Sicherheit wähnten. In Deutschland war vor 2015 Flucht und Vertreibung weitgehend mit den Heimatvertriebenen aus dem Osten des ehemaligen Deutschen Reiches verbunden. Exil und Emigration ist dagegen der Begriff von Hitlervertriebenenen und impliziert es wäre ihre eigene Entscheidung gewesen - so als ob Emigranten nicht auch aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. Bis zu etwa 14 Millionen Menschen flohen während und nach Ende des Zweiten Weltkrieges aus Ostpreußen zu ihren Landsleuten in die westliche davon gelegenen Gebiete. Bei der Ankunft in den vier Besatzungszonen erwartete sie Ablehnung und Diskriminierung, genauso wie andere Flüchtlinge immer wieder überall auf der Welt. Die Flüchtlinge, die als „Rucksackdeutsche“, „Flüchtlingspack“ und „Polacken“ beschimpft wurden, waren alles andere als willkommen. Dies und noch mehr wird in Kosserts Buch thematisiert. Es geht um Vertreibung, Umsiedlung, ethnische Säuberung und Zwangsdeportation. Er berichtet nicht nur von den europäischen Juden und den Heimatvertriebenen nach dem Krieg, sondern auch von Armeniern, Polen, Ukrainern, Finnen, Griechen, Russen, Jugoslawen, Tutsi und anderen. In seinem Buch lässt Kossert Menschen zu Wort kommen, die aufgrund politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgung ihre Heimat verlassen mussten. Seine Quellen sind Tagebücher, Erinnerungen und Autobiographien, aber auch journalistische Reportagen und literarische Beiträge von Bertolt Brecht bis Stefan Zweig. Flüchtlinge waren zumeist eine Bereicherung der einheimischen Kultur, nicht nur kulinarisch. „Am Umgang mit Flüchtlingen lässt sich ablesen, welche Welt wir anstreben“, heißt es. Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation „Cap Anamur“ zur Rettung vietnamesischer Boatpeople, der selbst 1945 aus Danzig fliehen musste, zog aus seiner Flucht den Schluss: „Jeder kann morgen ein Flüchtling sein“. Andere, wie diejenigen, die noch 2018 in Sachsen „absaufen“ grölten, als es um die Seenotrettung ging, zeigten weniger Weitsicht und ein eher abstoßendes Weltbild. Eigentlich haben die meisten Menschen auch in Deutschland einen Hintergrund, der mit Migration und Flucht zu tun hat und selbst die biblische Überlieferung berichtet von Flucht und Heimatlosigkeit, aber offenbar reichen sogar religiöse Moralvorstellungen nicht aus um selbst ehemaligen Flüchtlingen die Xenophobie auszutreiben Ernst Reuß Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. Siedler-Verlag, München 2020. 431 Seiten, 25 Euro.
Bereits in der vierten Auflag ist gerade das Buch „Erschossen in Moskau...“ im Metropol Verlag erschienen. Das Buch wurde angesichts neuer Erkenntnisse der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur komplett überarbeitet und aktualisiert.
Bis zu Stalins Tod am 5. März 1953 hatten sowjetische Militärtribunale etwa 1 000 Deutsche zum Tode verurteilt. Die Toten wurden im Krematorium des Moskauer Friedhofs Donskoje verbrannt und in einem Massengrab verscharrt. Die Hinrichtungen wurden lange geheimgehalten und die Angehörigen erfuhren nichts. Die schicksalshaften Biographien vieler dieser stalinistischen Opfer sind nun im Buch abgedruckt. Vergangenheitsbewältigung und eine Würdigung der vielen willkürlichen Opfer. Schon der Kontakt nach Westberlin konnte ausreichend sein, für einen Spionagevorwurf. Eines der Opfer war Walter Linse. 195 in Westberlin entführt und 1953 in Moskau erschossen. Am 8. Mai 1996 schließlich, ganze 43 Jahre später wurde Linse als politisches Opfer durch den russischen Generalstaatsanwalt rehabilitiert. Zitiert aus: Reuß, Ernst, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern: Justizalltag im Nachkriegsberlin, Berlin 2017, S. 216 ff.: „Eines der bekanntesten Entführungsopfer der Stasi war der Berliner Rechtsanwalt Walter Linse, der am 8. Juli 1952 entführt und im Jahr darauf in Moskau hingerichtet wurde. Das Kidnapping geschah morgens kurz nach 7 Uhr, wenige Meter von seinem Wohnhaus entfernt. Tatort war die Gerichtsstraße in Berlin-Lichterfelde, die 1961 in Walter-Linse-Straße umbenannt wurde. Ein Mann hatte Linse um Feuer gebeten und während der in seiner Aktentasche danach wühlte, wurde er niedergeschlagen. Ein zweiter Mann packt Linse und zerrte ihn vor den Augen entsetzter Passanten in das bereitstehende, als Taxi getarnte Auto. Im Gerangel erlitt Linse eine Schussverletzung am Bein. Ein zufällig vorbeikommender Lieferwagen versuchte vergeblich das Entführerauto zu rammen. Der Wagen mit dem Entführungsopfer floh im Höllentempo über die nahe Sektorengrenze. Mit hoher Geschwindigkeit durchbrach das Fahrzeug der Entführer den Kontrollpunkt der Grenzpolizei in Teltow. Linse war nun in der Hand der Stasi, was ihm schlecht bekommen sollte. Ihm wurde Spionage vorgeworfen. Kurz darauf gingen in Westberlin vor dem Westberliner Rathaus Schöneberg 25.000 Menschen für ihn auf die Straße und forderten zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter und prominenten Vertretern der Westalliierten seine Freilassung. Auch das vergebene Liebesmüh. Als Reaktion auf die Entführung wurden die Straßenübergänge von West nach Ost bis auf wenige kontrollierte Übergänge für den Fahrzeugverkehr mit Barrieren versperrt. Die Gründe für die Entführung blieben weitgehend im Dunkeln. Der Verdacht der Spionage war wohl mehr als ausreichend. 1938 war der in Leipzig promovierte Jurist Linse zwar als Referent in die Industrie- und Handelskammer in Chemnitz eingetreten und hatte dort die „Bearbeitung von Entjudungsvorgängen“ übernommen, blieb aber nach der Besetzung durch sowjetische Truppen unangefochten im Amt und stieg sogar zum Hauptgeschäftsführer der IHK auf, wo er die Demontagen deutscher Firmen aus der Region für die sowjetische Besatzungsmacht organisierte. Während des Krieges soll er einer Widerstandsgruppe angehört haben. Im Juni 1949 war er dann nach Westberlin übergesiedelte. Er nahm eine Arbeitsstelle beim Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen an, wo Menschenrechtsverletzungen in der SBZ/DDR dokumentiert wurden, und wurde Leiter der Wirtschaftsabteilung. In dieser Funktion beriet er Gewerbetreibende aus der DDR in Enteignungsfragen. Die meisten Mitarbeiter des UFJ waren in der SBZ als Juristen tätig gewesen, dann aber in den Westen geflohen. Der von US-Geheimdiensten gesponserte UFJ war daher eines der großen Feindobjekte für die Stasi, denn er sammelte Informationen über die SBZ/DDR, die auch für westalliierte Nachrichtendienste von Interesse waren. Linse sammelt Daten über den Zustand der Wirtschaft in der SBZ und kurz vor seiner Entführung stellte er in Berlin eine Studie über die „Rüstungsindustrie des Sowjetischen Sektors“ vor. Das könnte auch der Grund für seine Entführung sein. Aber warum die Stasi gerade Linse entführt, lässt sich bis heute nicht eindeutig beantworten. Monatelang wurde Linse ohne großen Erfolg in Hohenschönhausen und im Gefängnis der sowjetischen Staatssicherheit in Berlin-Karlshorst verhört, wo er schließlich unter ungeklärten Umständen erschöpft gestand und gleichzeitig um gnädige Richter bat. Leider vergeblich. Einer seiner Verhörer dort war Erich Mielke Nach mehr als einem Jahr Untersuchungshaft verurteilte ihn ein sowjetisches Militärgericht am 23. September 1953 wegen Spionage, antisowjetischer Propaganda und Bildung einer antisowjetischen Organisation zum Tode. Er wurde mit dem Zug nach Moskau geschafft und dort am 15. Dezember 1953 hingerichtet. Die Hinrichtung wurde lange geheim gehalten. Erst Ende der 1950er-Jahre ließ der KGB über die deutsche Botschaft in Moskau den Angehörigen das Sterbedatum mitteilen. Die genauen Umstände des Todes blieben weiter geheim.“ Ernst Reuß Roginskij‚ Arsenij, Drauschke‚ Frank, Kaminsky‚ Anna (Hrsg.), „Erschossen in Moskau …“ - Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953, 4. Auflage, Berlin 2020 |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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