Wer wissen möchte, woher die Redensarten „Von der Pike auf lernen“, „Lunte riechen“ oder „Alter Schwede“ kommen, der lese das überaus spannend geschriebene Buch von Christian Pantle. Er setzt sich mit dem vor 400 Jahren begonnenen „Dreißigjährigen Krieg“ auseinander, der 1648 mit dem Westfälischen Frieden endete. Pantle erzählt nicht aus der üblichen Sichtweise, bei der meist die Herrschenden im Mittelpunkt stehen, sondern aus der Perspektive von einfachen Menschen.
Trotzdem kommen Könige wie Gustav Adolf, der „Löwe aus Mitternacht“ und Heerführer wie Tilly, der „Schänder der Jungfrau Magdeburg“, nicht zu kurz. Man erfährt auch, dass ein ständig betrunkener „Heerverderber“ namens Gallas immer wieder die höchsten militärischen Posten bekam, obwohl er eigentlich immer nur sein eigenes Heer dezimierte. Warum das so war bleibt rätselhaft. Aber nicht die wohlbekannten Antagonisten sind Mittelpunkt der Geschichte, sondern zwei einfache Leute. Der Mönch Maurus Friesenegger aus dem oberbayerischen Kloster Andechs und der deutsche Landsknecht Peter Hagendorf aus Zerbst im heutigen Sachsen-Anhalt sind die Helden der lohnenswerten Lektüre, aus deren wunderbarerweise erhaltenen Tagebüchern der Autor häufig zitiert. Pantle garniert dies mit Berichten einiger anderer Zeitgenossen sowie mit historischen Fakten und Hintergründen. Man erfährt etwas von der Entstehung der in den allgemeinen Wortschatz eingegangenen Ausdrücke wie „Pappenheimer“, „Spießbürger“ oder „Spießer“. Man erfährt aber auch etwas über marodierende Horden und das Leiden der Bevölkerung bis zum Hungertod. Peter Hagendorf war fast während des gesamten Krieges selbst einer aus diesen marodierenden Horden, der auf beiden Seiten des Krieges kämpfte und - wie damals wohl selbstverständlich - auch vergewaltigte, plünderte und brandschatzte. Trotz der geschilderten Grausamkeiten kann man sich durch die plastischen Schilderungen in seine Lage hineinversetzen, denn auch Hagendorf kämpfte um sein Überleben und das seiner Familie. Er wurde während seines Söldnerdaseins Vater von acht Kindern, die bis auf eines schon früh wieder starben. Seine zwei Frauen, von denen eine während des Krieges gestorben war, zogen mit ihm in die Schlachten und warteten vor den Toren der belagerten und später geplünderten Städten auf die überlebenswichtige Beute ihres Mannes. Nicht nur trockene historische Fakten zeichnen dieses Buch aus, sondern gerade das Einfühlungsvermögen des Autors in die damals lebenden einfachen Menschen, die in einer absolut verheerenden Zeit mit Pest und sinnloser Zerstörung zu überleben versuchten. Prädikat: Äußerst lesenswert! Ernst Reuß Christian Pantle: Der Dreißigjährige Krieg - Als Deutschland in Flammen stand. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 368 Seiten, 18 Euro.
Es gab zwei Arten von Fußsoldaten: Pikeniere und Musketiere. Erstere trugen Spieße, Piken genannt, die bis zu 5,50 Meter lang waren und aus einer Holzstange mit Eisenspitze bestanden. Als Schutz trugen Pikeniere typischerweise einen Helm und einen eisernen Brustharnisch, der den Oberkörper und Unterleib bedeckte. Allerdings war der Harnisch in der Regel zu dünn, um wirksam Kugeln abzuwehren.
Mit den Piken wurden typischerweise die Anfänger ausgerüstet, die noch über keine Muskete oder Pferd verfügten - daher die Redensart „Von der Pike auf lernen“. Und auch die Wendung „den Spieß umdrehen“ stammt von dieser Waffengattung: Bisweilen gelang es Soldaten im Kampfgetümmel, dem Feind die Pike zu entreißen und gegen diesen selbst zu richten. Da die Stangenwaffen relativ leicht herzustellen waren, wurden sie auch von Bürgern verwendet, die ihre Heimatstadt gegen Angreifer verteidigen mussten - daher der Ausdruck „Spießbürger“ oder „Spießer“. Der Begriff war also ursprünglich positiv besetzt. Jedoch mussten in der Regel Ärmere den Dienst mit der Waffe leisten, und so sank die Bedeutung später zu einem Schimpfwort für engstirnige Kleinbürger herab. Aus: Pantle, Christian Der Dreißigjährige Krieg: Als Deutschland in Flammen stand, S. 47.
Zoni Weisz ist inzwischen ein berühmter Mann in den Niederlanden. Ein vielfach ausgezeichneter Florist, der sowohl königliche Hochzeiten mit seiner Blumenkunst schmückt als auch den deutschen Bundestag. Doch das hätte ihm vor einigen Jahrzehnten wohl keiner vorhergesagt, denn er ist Sinto und hat den „Porajmos“ – so bezeichnen Sinti und Roma den Versuch ihr Volk auszulöschen – mit viel Glück überlebt.
Auch das Volk der Sinti überlebte den Versuch es auszurotten. Weisz selbst beschreibt das sehr poetisch und mit viel Pathos: „Mein Volk kam einst über die Berge und entlang mächtiger Flüsse aus Indien. Wir waren ein besonderes Volk. Wenn wir durch die trockene Steppe in eine Stadt gelangten, war das immer ein Fest. Das war auch gar nicht so erstaunlich, denn Musik und Tanz begleiteten uns auf all unseren Reisen. Unsere Vorfahren waren so virtuos, dass sie sogar in den Palästen der mächtigsten Maharadschas spielten. Seit Menschengedenken waren wir unterwegs, und selbst den reichsten Herrschern gelang es nicht, uns mit Gold und Steinhäusern an einen Ort zu binden. Die Wagen meiner Vorfahren zogen im Laufe der Jahrhunderte immer weiter nach Westen. Warum? Das weiß niemand, einfach weil wir nichts über unsere grandiose Geschichte zu Papier gebracht haben. Meine Vorfahren konnten nicht einmal lesen und schreiben. Ihre Sprache war die Musik, und die vom Vater an den Sohn überlieferten Erzählungen bildeten die Chroniken unseres Volkes.“ Sein Vater konnte ihm wenig überliefern, denn als Nazideutschland die Niederlande besetzte, wurden seine Eltern und Geschwister nach Auschwitz deportiert und ermordet. Er überlebt als einziger, durch Zufall und mithilfe eines wohlmeinenden Polizisten. Er ist damals sieben Jahre alt. Es ist ergreifend zu lesen, was an jenem verhängnisvollen Tag geschehen ist und beeindruckend, wie er im späteren Leben seine Chancen ergreift. Mindestens eine halbe Million Sinti und Roma aus allen Herren Länder wurden von den Deutschen umgebracht. Genau kann man das jedoch nicht beziffern, da „Zigeuner“ offiziell oft nicht registriert waren. Erst später versucht Weisz sein Trauma aufzuarbeiten und begann, über seine Erlebnisse öffentlich zu sprechen sowie für die Anerkennung des Völkermords und für die Gleichberechtigung der Sinti und Roma zu kämpfen. Am Holocaust Gedenktag 2007 sprach er in New York bei den Vereinten Nationen und 2011 auch im Deutschen Bundestag. Er empfindet eine gewisse Verwandtschaft mit den Juden, die auch ein Volk von „Außenseitern“ sind und nicht dem „irrwitzigen arischen Vorbild“ entsprechen. In seiner absolut lesenswerten Autobiographie erzählt er von seiner Kindheit als Sinto, von dem Verlust seiner Familie und von seinem Leben als erfolgreicher und bekannter Florist. Er mahnt dabei, dass sich die Geschichte wiederholen könne. Inzwischen ist Zoni Weisz, den die Deutschen einst töten wollten, auch Träger des Bundesverdienstkreuzes. Zur aktuellen politischen Flüchtlingsdiskussion meint er: „Die meisten Menschen, darunter auch ich selbst, haben auf den großen Zustrom von Menschen keine passende Antwort. Bei mir überwiegt vor allem ein unangenehmes Gefühl, wenn ich jenen zuhöre, die unerbittlich alle aus dem Land werfen wollen. (…) Ich plädiere dann stets vor allem für Mitmenschlichkeit und Vernunft, denn die haben mir auch geholfen. Und ich warne vor Politikern, die die Flüchtlingsthematik für ihre eigenen Zwecke missbrauchen wollen. Sich die Ängste der Menschen zunutze zu machen, ist eine der ältesten Methoden des Stimmenfangs.“ Ernst Reuß Zoni Weisz, Der vergessene Holocaust, Mein Leben als Sinto, Unternehmer und Überlebender, dtv 2018, 320 Seiten, 26 Euro
„Täter auf der Schulbank“ heißt das Buch des Historikers Sven Deppisch. Es ist eine Dissertation, die sich mit der Ausbildung der Polizei während der Nazizeit beschäftigt.
Nach Himmlers Ernennung zum Chef der Polizei entstanden 1936 zwei Polizeischulen für die Führungskräfte der Ordnungspolizei. Eine lag in Bayern, die andere in Berlin-Köpenick. Es waren NS-Kaderschmieden. Der Mythos von der „sauberen“ Polizei während des Dritten Reiches ist schon längst widerlegt, denn ohne die Polizei wäre der Holocaust nicht möglich gewesen. Zum Ende des Krieges und den bestehenden Personalnöten nahm man es auch mit den Aufnahmekriterien nicht mehr so genau, so dass ein Kommandeur bilanzierte, dass seine Anwärter zwar „motiviert und fleißig“ sind, ihr „geistiges Niveau“ aber eher „unzureichend“ sei. Die meisten Schüler waren Mitglieder der NSDAP und schlossen sich der SS an. Nach der Ausbildung zogen viele der frisch ausgebildeten Polizisten gen Osten und kamen als Massenmörder und Kriegsverbrecher wieder zurück. Viele Verbrechen von Polizeibataillonen sind inzwischen gut dokumentiert. Polizisten zerrten ihre Opfer aus den Häusern, trieben sie für die Ermordung zusammen oder steckten Häuser und Synagoge mit den darin befindlichen Menschen in Brand. Wer beispielsweise, wie beim 1941 stattfindenden Massaker in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew, dabei half Kinder, Frauen und alte Menschen bestialisch zu ermorden war ein Verbrecher, denn dort wurden insgesamt 33 171 Menschen umgebracht. Die am Morden beteiligten Polizeibataillone haben die Opfer zum Erschießungsort getrieben, was nach dem Krieg als verjährte Beihilfe nicht mehr bestraft werden konnte. Vereinzelte Polizisten verfielen ob dem Erlebten dem Alkohol, wurden depressiv und brachten sich um. Aber das waren nur Ausnahmefälle, denn die meisten Polizisten führten nach Kriegsende ihre Karrieren einfach fort, ohne jemals angemessen bestraft worden zu sein. Nach dem Krieg vermittelten sie ihre Feindbilder an die nächste Generation von Gesetzeshütern. Wohlgemerkt, Deppisch beschäftigt sich mit der Ausbildung dieser Polizisten, weniger mit den realen Verbrechen, die sie begangen haben. Dies tut er sehr ausführlich, was das Lesen des Buches nicht einfach macht. Trotzdem ist es sicherlich verdienstvoll sich damit zu beschäftigen und die Rolle der Polizei zu beleuchten, denn jahrzehntelang galt die Ordnungspolizei im Zweiten Weltkrieg als vollkommen unbescholten. Nur für Spezialisten! Ernst Reuß Sven Deppisch, Täter auf der Schulbank. Die Offiziersausbildung der Ordnungspolizei und der Holocaust, Marburg 2017, 672 Seiten, 39,95 Euro |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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