Im Sommer 1933 reiste Theodore Abel von der New Yorker Columbia University durch Deutschland. Der aus Polen stammende Soziologe wollte wissen, warum so viele Menschen der NSDAP beigetreten waren. Mit einem Trick gelang es ihm, das herauszufinden. Er machte ein Preisausschreiben, bei dem 125 Reichsmark – was einem Monatslohn entsprach - für „die beste persönliche Lebensgeschichte eines Anhängers der Hitler-Bewegung“ versprochen war. Insgesamt wurden 400 Reichsmark für das Preisausschreiben ausgelobt. Teilnehmen durften nur NSDAP Mitglieder, die bereits vor 1933 Mitglied waren. Mit Hilfe des Propagandaministeriums wurde der Aufruf publiziert und bis zum Einsendeschluss im September 1934 waren 638 Aufsätze eingeschickt worden, von denen 581 noch heute erhalten sind – insgesamt 3 700 Seiten. Die meisten Berichte waren von Männern, nur 36 von Frauen.
Auf die Erlebnisberichte stützte sich Abels 1938 veröffentlichtes Buch „Why Hitler Came Into Power“. Viel Erfolg war dem Buch nicht beschieden, denn durch den bald beginnenden Krieg hatte man andere Sorgen und interessierte sich eher dafür wie man Hitler wieder loswerden könnte. Die Untersuchung wurde mehr oder weniger vergessen. In Deutschland hat sich nie jemand groß dafür interessiert. Wieland Giebel, der am Anhalter Bahnhof das Berlin Story Museum im alten Luftschutzbunker unterhält, hat diesen Schatz für seine sehenswerte Ausstellung „Hitler – wie konnte es geschehen“ wieder ausgegraben und auch in Buchform veröffentlicht. Warum sind die Menschen Nazis geworden? Was ging in ihren Köpfen vor? Warum sind sie Hitler hinterher gelaufen? Das waren die Fragen, die ihn umtrieben, und die Erzählungen aus dem Buch geben gute Anhaltspunkte. Einer schrieb: „War es nach all diesen traurigen Ereignissen ein Wunder, wenn sich ganz Deutschland nach einem Mann sehnte, der diesen Augiasstall mit eisernem Besen ausfegte?“ Ein anderer: „Wir hätten den Krieg niemals verloren, wenn der Dolchstoß durch Judentum, Marxisten und Logen nicht von hinten gekommen wäre, denn wir waren erstaunt, auf dem Rückzug in Frankreich zu erfahren, dass in Deutschland die Revolution ausgebrochen war.“ Giebel erklärt auf den ersten 200 Seiten seines Buches die Hintergründe der Entstehung der Berichte, zitiert aus Abels Tagebüchern, versucht Zusammenhänge herauszufiltern und zitiert aus den Biogrammen, wovon danach viele in voller Länge abgedruckt sind. Giebels These: „Wer Nazi werden wollte, wer sein Heil in dieser Ideologie mit überlegener Rasse und Untermenschen suchte und auf Hitler als Erlöser setzte, wurde Nazi – und war dafür allein verantwortlich.“ Dies lasse sich schwerlich in soziologischen Kategorien katalogisieren. Demokratie und Demokraten verachtete man, stattdessen wollte man einen Führer und eine deutsch-arische Volksgemeinschaft. Laut Giebel hätte es „einen starken Staat gebraucht, der Demokratie und Freiheitsrechte schützt.“ Sicherlich ein interessantes Buch, um unseren Großeltern etwas näher zu kommen. Dafür lohnt sich auch ein Besuch im Bunker mit der über mehrere Etagen gehenden eindrücklichen und ausführlichen Ausstellung. Wer der Ansicht ist, dies könne heute nicht mehr geschehen, sollte die Ausstellung anschauen oder die Hassmails lesen, die die Macher der Ausstellung bekommen haben und immer noch regelmäßig bekommen. Heute ist leider vieles wieder salonfähig geworden, an was angesichts unserer Geschichte eigentlich nicht mehr zu denken ist. Inzwischen hat die Stanford University den Nachlass des Forschers digitalisierte und die 3700 Seiten ins Netz gestellt. Ernst Reuß „Warum ich Nazi wurde“ – Biogramme früher Nationalsozialisten, Herausgeber: Wieland Giebel, Berlin 2018, 930 Seiten, 17 x 24 cm, Hardcover, 49,95 €
„Die Banalität des Guten“ heißt die Dissertation von Susanne Beer, in der sie sich mit Menschen befasst, die während der Nazizeit, ihren jüdischen Nachbarn Hilfe geleistet haben, den „stillen Helden des Alltags“. 1.000 Biographien wurden in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand über sie erstellt. Beer hat diese, und alles, was zum Thema noch zu finden war, ausgewertet und intensiv analysiert. Der Titel habe nichts mit einer vermeintlichen Gedankenlosigkeit der Beteiligten zu tun, sondern damit, dass die gewährte Hilfe zumeist „von einer Mischung aus Zufällen, günstigen Gelegenheiten und kleinen Gesten“ abhing, jedoch nicht von einem „heroischen Willensakt“, schreibt Beer.
Zwar sind hier namentlich nur 6.200 Untergetauchte bekannt, aber man geht von bis zu 15.000 „U-Booten“, so wurden sie damals bezeichnet, aus. Laut Beer überlebten höchstens ein Drittel aller Untergetauchten. Schätzungen gehen von 3.000 bis 5.000 Überlebenden aus. „Viele kamen durch Bombenangriffe ums Leben, denen sie ungeschützt ausgesetzt waren, da sie ohne Papiere keinen Zugang zu Luftschutzkellern und Bunkern hatten. Andere fielen Krankheiten zum Opfer, die in der Illegalität nicht angemessen behandelt werden konnten. Wieder andere wurden denunziert oder bei Kontrollen auf offener Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln verhaftet.“, schreibt die Autorin. Die Zahl der Helfer bewegte sich im unteren fünfstelligen Bereich. Es gab Hilfsnetzwerke und Helferkreise. Aber es gab auch Spannungen, Grenzüberschreitungen, Machtmissbrauch, sexuelle Dienstleistungen und sogar Vergewaltigungen unter den eng zusammengepferchten Helfern und Untergetauchten. Einige Helfer, die den Untergetauchten das Leben retteten, nutzen deren Lage schonungslos aus. Aber auch unter den sogenannten U-Booten gab es Erpressungsversuche, um noch mehr Hilfe zu erlangen, denn auch die Helfer konnten ja jederzeit denunziert werden. Man hatte sich gegenseitig in der Hand und die Grenzen zwischen Gut und Böse konnten durchaus verwischen, wie einige Biographien von Überlebenden zeigen. Trotzdem gab es viele Helden, die aus purer Menschlichkeit handelten, wie beispielsweise der Berliner Wilhelm Daene und seine Ehefrau Margarete. Als Abteilungsleiter eines Betriebes, dem jüdische Zwangsarbeiterinnen unterstellt waren, versuchte er zu helfen. Drei Jüdinnen wurden von dem Ehepaar versteckt. Zwei überlebten. Die Suizidrate unter den Juden verzehnfachte sich in Berlin nach Beginn der Deportationen, Untergetaucht haben dennoch bis zu 2.000 jüdische Berliner den antisemitischen Irrsinn überlebt. Erfolgreiche Geschichten sind allerdings bei solchen Geschichten eher in der Minderheit. Der Gestapo gelang es auch mithilfe jüdischer Greifer viele „U-Boote“ ausfindig zu machen. In der lesenswerten Dissertation von Susanne Beer wird von einigen dieser Einzelschicksale berichtet. Unter ihnen gab es zugleich viele tragische Geschichten, darunter die von Ilse Kassel und ihrer 5-jährigen Tochter Edith, die nicht überlebten; nach ihnen wurde inzwischen in Berlin-Hermsdorf ein Platz benannt. Mitunter wirken die erstellten Statistiken bei einer Grundgesamtheit von höchstens 52 ausgewerteten Schicksalen etwas bemüht, dennoch sollte man sich gerade die einzelnen Schicksale der Menschen vergegenwärtigen und gerade in heutigen Zeiten daran erinnern, dass Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit eine Tugend und kein Verbrechen ist. Nach dem Krieg mussten die überlebenden Opfer der Nazibarbarei viele bürokratische Hürden, manche davon erwiesen sich als unüberwindbar, meistern, um eine Entschädigung zu erlangen. Viele wanderten aus. Ernst Reuß Susanne Beer. Die Banalität des Guten, Hilfeleistungen für jüdische Verfolgte 1941–1945, Metropol Verlag, Berlin 2018, 385 Seiten, € 24.00
„Dem Holocaust entkommen“ heißt die preisgekrönte Dissertation von Markus Nesselrodt. In dieser schildert und analysiert er die Erfahrungen der rund 230.000 polnischen Juden, die in nicht besetzten Gebieten der Sowjetunion zwischen 1939 und 1946 den Zweiten Weltkrieg überlebten.
Viele waren vor den Nazis dorthin geflüchtet, andere wurden aber auch vom sowjetischen NKWD verschleppt und mussten in abgelegenen Siedlungen in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan oder Turkmenistan unter sehr schwierigen Lebensbedingungen in einem von Krieg, Armut und politischem Terror gezeichneten Land Zwangsarbeit leisten. Flucht, Deportation, Evakuierung und Repatriierung waren ständiger Begleiter ihres Daseins, das oft zu einem Leben am Rande der Legalität zwang. Das Leben war stets politischen Einflüssen unterworfen, denn die jeweiligen diplomatischen Beziehungen der Sowjetunion wirkten sich unmittelbar auf die Lebensbedingungen der Exilanten aus. Sie verfügten bei entsprechenden Sprachkenntnissen jedoch über einen gewissen Handlungsspielraum, um sich in die sowjetische Gesellschaft zu integrieren und freundschaftlichen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung zu pflegen. Ernst Reuß Nesselrodt, Markus, Dem Holocaust entkommen, Polnische Juden in der Sowjetunion, 1939–1946, Europäisch-jüdische Studien – Beiträge 44, DE GRUYTER OLDENBOURG 2019, 400 Seiten, 89,95 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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