Nachdem durch eine Unabhängige Historikerkommission die Geschichte des Auswärtigen Amts und des Justizministeriums untersucht worden war, konnten nun erstmals Wissenschaftler das Archiv der Bundesanwaltschaft einsehen. Dazu gehört auch ein Blick auf die Anfänge. Entstanden ist eine mehr als 600-seitige, akribische und trotzdem gut lesbare Aufarbeitung der Versäumnisse der Reichs- bzw. Bundesanwaltschaft.
Das Reichsgericht und die Oberreichsanwaltschaft wurden nach der Gründung des Deutschen Reiches mit der Schaffung eines einheitlichen Strafgesetzbuchs eingerichtet. Die Organisationsstrukturen und Rechtsgrundlagen blieben weitgehend bestehen, auch wenn es von nun an Bundesgerichtshof und Generalbundesanwalt hieß. Die Reichsanwaltschaft diente anfangs der Unterdrückung von Sozialdemokraten. Viele führende sozialdemokratische Politiker und Gewerkschafter wurden wegen Majestätsbeleidigung oder der Schmähung von Staatseinrichtungen angeklagt. Mit der Weimarer Republik blieb das Personal weitgehend erhalten und diente nun denen, die sie wahrscheinlich wegen Hochverrats angeklagt hätten, wäre die Novemberrevolution nicht erfolgreich gewesen. Auf dem rechten Auge blieb man aber trotzdem blind. Die Autoren kommen zum Schluss: „Wer einer kommunistischen Einstellung anhing, galt als Hochverräter, wer hingegen dem politisch rechten Spektrum zugehörig war, der wurde als vaterlandsliebend und patriotisch angesehen und dessen Verdienste bei der Abwehr kommunistischer Aufstandsversuche hervorgehoben. Von der gesetzlich geforderten Objektivität war die Reichsanwaltschaft bei der Durchführung des Staatschutzstrafrechts inzwischen meilenweit entfernt“. Kein Wunder, dass das Personal auch bei Machtergreifung der Nazis weitgehend dasselbe blieb und sich schleunigst anpasste. Meist wurden nur jüdische Juristen entlassen. Bestraft bei den Nazis wurde nun derjenige, der „nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient“. Ein Gummiparagraph für den Justizterror gegen Andersdenkende. Was nach dem Krieg geschah ist weitgehend bekannt. Mangelnde Aufarbeitung. Das alte Justizpersonal kam in der Bundesrepublik nach und nach zurück. Die unbelasteten Juristen waren eine verschwindend kleine Minderheit in der 1950 gegründeten Bundesanwaltschaft. Aus ihren Erfahrungen unter den Nazis war ihnen die Kommunistenverfolgung nicht fremd und mit Beginn des „Kalten Krieges“ setzten sie dies dann in den 50er Jahren fort. Bei rechtsradikalen Gruppierungen herrschte bei weitem nicht der gleiche Verfolgungseifer. Strafmildernd wurde eher deren Antikommunismus angesehen. Generalbundesanwalt Wolfgang Fränkel musste 1962 gehen, weil er während der Nazizeit durch eine exzessive Beantragung der Todesstrafe auffiel. Aus seiner Sicht zu milde Urteile focht er an. Er beantragte Todesstrafen wegen Fahrraddiebstahls und Exhibitionismus und drang mit seinem Fanatismus selbst Anfang der 1940er Jahre beim Reichsgericht nicht immer durch. Bei mindestens 30 vollstreckten Todesurteilen hatte er aber „Erfolg“. Öffentlich machte dies der „Ausschuss für deutsche Einheit“ in der DDR. Das Neue Deutschland berichtete unter der Überschrift: „Überführter Massenmörder ist oberster Ankläger im Staat der Bonner Ultras“. Fränkel war nicht mehr zu halten und wurde kurze Zeit später beurlaubt. Er bekam von da an, bis zu seinem Tod Ende 2010, eine üppige Pension. Dann folgte im Herbst 1962 die „Spiegel“-Affäre. Die Bundesanwaltschaft leitete die Ermittlungen ein und sie war es auch, die erheblich dazu beitrug, dass sich die Fronten verhärteten. Die Freie Presse war empört und die Bundesanwaltschaft musste sich den neuen Zeiten anpassen und in der Demokratie endgültig ankommen. Das Buch streift danach den beginnenden RAF-Terror und endet 1974. Der „Deutsche Herbst“ mit der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback bleibt einer weiteren Untersuchung vorbehalten. Ernst Reuß Friedrich Kießling, Christoph Safferling: Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF. München, 2021. 608 Seiten, 34 Euro.
Die Rosenburg war keine richtige Burg, sondern so hieß das Gebäude in dem ab 1950 das Bundesministerium der Justiz (BMJ) für die nächsten 23 Jahre untergebracht war.
Dementsprechend lautet der Titel des soeben im Beck Verlag erschienen Buches „Die Akte Rosenburg“. In ihm werden die Erkenntnisse der aus Juristen und Historikern bestehenden „Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ publiziert. Entstanden ist eine fast 600-seitige, akribische Aufarbeitung der Versäumnisse der Nachkriegsjustiz in der Bundesrepublik Deutschland. Die 2012 vom Justizministerium eingesetzte Kommission kommt dabei zur Ansicht, dass „die Abwiegelung berechtigter Vorwürfe, das Bestreiten eigener Versäumnisse und das fehlende Bewusstsein für Schuld und Verstrickung bei den maßlosen NS-Verbrechen (..) in der Bundesregierung und nicht zuletzt auch im Bundesjustizministerium (…) eine lange Tradition“ hatten. Die Autoren gehen der Frage nach warum die Gründungsväter des Bundesministeriums der Justiz Thomas Dehler und Walter Strauß so viele Nazis eingestellt haben, die sich dann gegenseitig mit „Persilscheinen“ rein wuschen. Beide kamen aus einem bürgerlich geprägten jüdischen Umfeld, waren in der NS-Zeit Repressionen unterworfen und hatten Angehörige im KZ verloren. Trotzdem schätzen sie Erfahrungen in der Nazi-Justiz offensichtlich höher ein, als eine standhafte rechtsstaatliche und antifaschistische Haltung. Auch heute noch ist das schwer nachzuvollziehen. Die Hälfte aller Beamten und Angestellten im Ministerium waren ehemalige Mitglieder der NSDAP. Bei den Leitenden Beamten des BMJ waren es gar 77 %. Die Autoren gehen vielen Lebensläufen von Richtern und Justizbeamten, die damals als unbelastet galten, nach. Sie entdecken stramme Nazis, die an Todesurteilen und anderen Verbrechen beteiligt gewesen waren und trotzdem Karriere im Bundesministerium der Justiz, am Bundesgerichtshof oder sogar am neu geschaffenen Bundesverfassungsgericht machten. Darunter für Juristen bekannte Namen wie Eduard Dreher. Es ist daher vollkommen nachzuvollziehen, dass die Kommission jetzt feststellt, dass der Bundesgerichtshof bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen und bei der Entschädigung von NS-Opfern versagt habe, der Geist der Nazizeit weiterhin bei der Kommunistenverfolgung oder der Strafbarkeit von Homosexuellen durchaus zum Vorschein kam. Das „gesunde Volksempfinden“ galt noch viele Jahrzehnte als ein anerkanntes juristisches Kriterium. Es entsprach der damals in der Bevölkerung sowie unter den Juristen, die die Entnazifizierung zum Teil als eine „Hexenjagd“ betrachteten, vorherrschenden Meinung, dass über die Vergangenheit Gras wachsen sollte. Kein Wunder, denn die meisten Deutschen waren mehr oder weniger an der Nazi-Herrschaft beteiligt. So vertrat die anfangs im Justizministerium angesiedelte „Zentrale Rechtschutzstelle“ Kriegsverbrecher, die im Ausland inhaftiert wurden und warnte die in Abwesenheit verurteilten Flüchtigen. Zuständig dafür war ein Alt-Nazi, der von der BMJ - Führung protegiert wurde. Das änderte sich erst dann ein wenig, nachdem 1957 in der DDR ein „Braunbuch“ veröffentlicht worden war, in dem die Richter „mit Blut an den Händen“ bloßgestellt wurden. Zwar wurde dies als kommunistische Propaganda abgetan und sozialdemokratische Studenten, die dazu eine Ausstellung machten, umgehend aus der SPD ausgeschlossen. Im Ausland fand das „Braunbuch“ jedoch durchaus Beachtung. Um außenpolitischen Schaden zu minimieren, wurde halbherzig auf die Enthüllungen reagiert. 149 belastete Richter gingen freiwillig in Pension, selbstverständlich bei Beibehaltung der vollen Bezüge. Außerdem wurde im Dezember 1958 die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg gegründet, in der Juristen unter Verzicht auf die „große Karriere“ jahrzehntelang gegen den Strom geschwommen sind. Feindseligkeiten von Politik, Justiz und Gesellschaft waren an der Tagesordnung und trafen diejenigen, die sich „erdreisteten“, NS-Verbrechen aufklären zu wollen. Bis 1958 gab es keinen Prozess vor einem deutschen Schwurgericht. Das ist angesichts der Tatsache, dass 13.000.000 Menschen ohne direkte Kriegshandlungen durch Deutsche umgebracht wurden - darunter als zahlenmäßig größte Opfergruppen: 6.000.000 Juden, 3.300.000 sowjetische Kriegsgefangene und 2.500.000 christlicher Polen - eine aus heutiger Sicht unfassbare Bilanz. Erstmals kam es 1958 zu einem größeren Prozess. Es war der eher durch zufällige Ermittlungen angeschobene „Ulmer Einsatzgruppenprozess“, in dem die Mörder aus den Einsatzkommandos selbstredend nur als „Werkzeuge des Führers“ angesehen und lediglich wegen „Beihilfe“ verurteilt wurden. Danach kam es – in Israel - zum Eichmann- und – in Frankfurt – zum Auschwitzprozess, was ausschließlich dem unvergessenen, aber damals heftig angefeindeten Fritz Bauer zu verdanken war, der sich im „feindlichen Ausland“ wähnte, wenn er sein Büro verließ. Ein bezeichnender Fauxpas unterlief 1968 dem Ministerium mit der ungewollten Verjährung von Naziverbrechen durch Verabschiedung des „Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz“. Wegen des Fehlens eines Satzes in der Gesetzesvorlage, waren die Taten von Gehilfen beim Morden aus Rassenhass nun plötzlich rückwirkend, spätesten 15 Jahre nach Kriegsende, also am 9. Mai 1960, verjährt. Ob das ein perfider Plan eines Einzelnen oder ein Versehen war, konnten auch die Autoren nicht abschließend klären. Im Sinne des inzwischen SPD geführten Justizministerium war es jedenfalls nicht. Laut den Verfassern des Berichts deuten jedoch viele Indizien auf den Plan eines in Juristenkreisen wohlbekannten Mannes hin, der selbst von der Verjährung profitieren hätte können, da er im Dritten Reich selbst an Todesurteilen bei Bagatelldelikte beteiligt war. Zehntausende von inzwischen eingeleiteten Strafverfahren gegen NS-Täter wurden daraufhin eingestellt. Das ungeheure Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen trat dennoch immer deutlicher zu Tage und es kam immer klarer zum Vorschein, dass nicht nur Hitler, sondern sich auch etliche Angehörige aus Politik, Justiz und Militär tief in Schuld verstrickt hatten. Das war zuvor jahrzehntelang abgestritten worden. „Als das Bundesministerium der Justiz 1973 die Rosenburg verließ (…) hatte sich die ‚Bonner Republik‘ längst etabliert, das Zusammenwirken zwischen Bundestag, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht hatte sich eingespielt, NS-belastetes Personal war auch im BMJ allein aus Altersgründen weitgehend ausgeschieden. Die Schatten der Vergangenheit existierten noch immer, wie die Diskussionen um Wiedergutmachung für die Opfer von Zwangsarbeit und NS-Unrechtsjustiz bewiesen Die Unterlassungen aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik, als die ‚Schlussstrich‘-Mentalität und das Verlangen nach staatlicher Normalität zur Exkulpation vieler NS-Täter geführt hatten, trugen dazu ebenso bei wie die Tatsache, dass die ‚Aufarbeitung‘ der NS-Vergangenheit - nicht zuletzt in den verantwortlichen Ministerien und Behörden der Bundesrepublik - allzu lange auf sich warten ließ.“, resümieren die Autoren. Noch 1987 war der Korpsgeist unter den Juristen so groß, dass Ingo Müllers diese Haltung thematisierende Dissertation „Furchtbare Juristen“ zwar erhebliche Aufmerksamkeit erfuhr, die akademische Karriere des Autors danach aber nicht mehr so recht vorankam. Für einen in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit sozialisierten Juristen, der im Studium mit BGH-Urteilen „gefüttert“ wurde, die als „herrschende Meinung“ nahezu unumstößlich waren, ist es geradezu beängstigend zu lesen, wer zum Teil die Richter waren, die derartige Entscheidungen gefällt hatten. Für den kritischen Normalbürger ist es erschreckend, was immer noch alles zum Vorschein kommt. Ernst Reuß Görtemaker, Manfred / Safferling, Christoph, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016. Buch. 588 S., 29,95 €
010 wurde in Berlin die Studie über die NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes präsentiert, mit dem Fazit, dass die Behörde tief in den Holocaust verstrickt gewesen war.
Joschka Fischer, der die Studie initiiert hatte und mit einigen Millionen Euro finanzieren ließ, durfte danach wieder einmal auf allen Kanälen präsent sein. Überall, außer möglicherweise von so manchem altgedienten Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, wurde er mit Lob überschüttet. Er hatte scheinbar den Mantel des Schweigens endlich gelüftet. Das Bild einer Reisekostenabrechnung des Auswärtigen Amtes sah man in vielen Tageszeitungen, bei dem der Zweck der Reise handschriftlich mit „Liquidation von Juden in Belgrad“ bezeichnet wurde. Offenbar hatte zuvor nie jemand daran gedacht die Machenschaften des Auswärtigen Amtes beim Holocaust näher zu betrachten. Dem war aber nicht so. Das Dokument der Reiseabrechnung ist nicht neu. Es befand sich schon in Prozessakten und Christopher Browning hatte es bereits 1978 in seiner Dissertation über die Mitwirkung des Auswärtigen Amtes bei der „Endlösung“ zitiert. Das Buch gab es bisher nur in englischer Sprache. Niemand in Deutschland hatte anscheinend Interesse an einer Übersetzung. „Macht es Sinn, ein Buch zum Holocaust mehr als 30 Jahre nach seinem ersten Erscheinen nunmehr in deutscher Sprache zu publizieren? Gerade ein Schlüsselthema wie die Rolle des Auswärtigen Amtes bei der Umsetzung der „Endlösung der Judenfrage“ (…), so möchte man hoffen, sollte in der Fülle neuer Bücher (…) vertreten sein. Doch diese Hoffnung trügt.“ So beginnt das nunmehr übersetzte Buch Brownings, der schon vor vielen Jahren mit dem Titel „Ganz normale Männer“, der Geschichte eines deutschen Polizeibataillons und dessen Verwicklungen bei der Judenvernichtung, einen Volltreffer gelandet hatte. Es ist erstaunlich, aber auch bezeichnend, dass Brownings Buch erst jetzt, nach über dreißig Jahren, ins Deutsche übersetzt worden ist. Browning berichtet detailliert über die Verwicklungen der „Abteilung Deutschland“ im Auswärtigen Amt bei der Deportation von ausländischen Juden in die Vernichtungslager oder bei dem Versuch die Auswanderung, auch von Kindergruppen, nach Palästina zu verhindern. Er dokumentiert nach Staaten geordnet, wann, an welchen Orten und in welchem Umfang dies geschehen ist. Im Anhang kann man in chronologischer Reihenfolge alle maßgebenden Behördenaktionen nachvollziehen. Browning wertete dazu Bestände des Politischen Archivs aus und durchforstete Prozessakten aus der Nachkriegszeit gegen ehemalige Mitarbeiter der Behörde. Jeder hätte sich in den frei zugänglichen Beständen darüber informieren können. Laut Browning war der kurz nach dem Krieg gestorbene Abteilungsleiter der „Abteilung Deutschland“, Martin Luther, ein amoralischer hemmungsloser Karrierist und Speichellecker, der wohl für jedes Regime gearbeitet hätte. Seine Mitarbeiter seien nichts weiter als äußerst karrierebewusste, aber unauffällige Bürokraten gewesen. Politische Wendehälse ohne eigene Überzeugung, denen eine Handlung, die „ihren Ruf als tüchtige und zuverlässige Mitarbeiter geschadet hätte“ unvorstellbar gewesen wäre. Sie bedurften keines expliziten „Führerbefehls“ um im vorauseilenden Gehorsam jede Andeutung des „Führerwillens“ in die Tat umzusetzen. Luthers Chef, Ernst von Weizäcker, einer von der „alten Garde“, war ein Bürokrat ohne Rückgrat, wie Browning zitiert. Mitunter gab es zwar von der „alten Garde“ Kritik wegen der Judenpolitik. Vor allem aber deswegen weil man befürchtete, „die Judenfrage“ könnte Deutschlands internationale Position schädigen. Man war entschlossen, den Ruf Deutschlands und dessen Ehre, gegen unberechtigte und unbefugte Eingriffe des Auslands in innere Angelegenheiten zu verteidigen. Browning dazu: „Drei Monate nach der Machtergreifung und auch auf eigene Initiative hatten die Führungsetagen des Auswärtigen Amtes also offiziell der weltweiten Verbreitung der krudesten Form von antisemitischer Propaganda zugestimmt, um Deutschlands Ruf und Ehre zu verteidigen.“ Interessant auch das weitere Schicksal der Mitarbeiter der Unterabteilung für „Judenfragen“ des Auswärtigen Amtes, von denen einige doch noch vor Gericht landeten und alles auf einen „Bürolehrling Peters“ schoben, dessen physische Existenz jedoch nie jemand nachweisen konnte. Die Gerichte wollten den Angeklagten dennoch allzu gerne glauben. Der Mitarbeiter, der seine Reisekostenabrechnung mit „Liquidation von Juden in Belgrad“ begründet hatte, wurde 1952 wegen des dortigen Massakers lediglich wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilt. Er hatte die dort zuständigen Bürokraten überzeugt, 1500 Juden nicht zu deportieren, sondern „das Problem“ vor Ort zu erledigen. Dies sei jedoch nicht aus niedrigen und grausamen Beweggründen geschehen, sondern weil man eine Bedrohung der Sicherheit gesehen habe, so das Gericht. Er bekam 3 Jahre und 5 Monate, entzog sich aber der weiteren Haft durch Flucht. Erst 1968 wurde er aufgrund einer Berufung wegen Beihilfe zum Mord von Juden in Serbien und Rumänien zu 5 Jahren verurteilt, wurde allerdings wegen seines Alters, seines Gesundheitszustandes und da er bereits einen Teil in Untersuchungshaft abgesessen hatte, freigelassen. Insgesamt ein interessantes Stück Zeitgeschichte. Eine lesenswerte und lesbare Dissertation. Christopher Browning war übrigens seltsamerweise nicht in die Expertengruppe der neuen Studie berufen worden. Ernst Reuß Christopher Browning: Die „Endlösung“ und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940-1943. Aus dem Amerikanischen von Claudia Kotte. WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010. 320 Seiten, 49,90 EUR.
Der 1925 im niedersächsischen Peine geborene Salomon Perel überlebte die Shoa als Mitglied der Hitlerjugend.
Nachdem das Schuhgeschäft seiner Familie von den Nazis verwüstet worden war flüchtete er mit seiner Familie nach Polen und nach dem deutschen Einmarsch - zusammen mit seinem Bruder - in den nun sowjetischen Teil Polens. Die Eltern wollten, dass zumindest ihre Kinder überleben. Die Schwester wurde auf der Flucht festgenommen und später von den Nazis ermordet. Außer seine beiden Brüder überlebte kein weiteres Mitglied der Familie den Holocaust. Allerdings war Salomon auch im sowjetischen Teil Polens nicht lange sicher, denn die Deutschen überfielen auch die Sowjetunion und nahmen ihn dort in einem russischen Waisenhaus fest. Da er perfekt deutsch sprach, konnte er sich als Volksdeutscher ausgeben und seine jüdische Herkunft verschleiern. Im Gegensatz zu anderen, die zum Beweis ihre Hose herunterlassen mussten und dann erschossen worden waren, wurde ihm ohne weiteren Nachweis geglaubt. Er fungierte in der Folge als deutsch-russischer Übersetzer für die Wehrmacht und nannte sich Josef, sein Spitzname war Jupp. Von da an arbeitet er für die Wehrmacht. Ein schwuler Feldwebel machte Avancen und erkannte, dass er Jude war - verriet ihn aber nicht. Ein Hauptmann förderte ihn, schickte ihn sogar auf ein Eliteinternat der Hitlerjugend nahe seiner eigentlichen Heimat in Braunschweig und wollte ihn nach dem Krieg adoptieren. Indoktriniert wurde der jungen Juden dort zu einem überzeugen Hitlerjungen und Nazi - aber immer mit der großen Furcht wegen seiner Beschneidung entlarvt zu werden. In der HJ-Schule wurde er als angeblicher Angehöriger der „Baltisch/Arischen Rasse“ kurioserweise auch zum Vorzeigeobjekt im „Rassenkundeunterricht“. Am Ende des Krieges diente er nochmals als letztes Aufgebot in der Wehrmacht, wurde von der US-Armee gefangen genommen und kurze Zeit später entlassen. Danach emigrierte er nach Israel und brauchte 40 Jahre um das Erlebte zu verarbeiten, bevor er sich entschloss seine Geschichte aufzuschreiben. Es war eine Art Selbsttherapie, denn den indoktrinierten Hitlerjungen war er nie ganz losgeworden. Perel will mit seinem Buch einen „bescheidenen Beitrag“ dazu leisten, dass solche Gräueltaten nie mehr passieren. Er fordert in seinem Nachwort dazu auf sich der Gefahr eines neu aufkeimenden Neonazismus entgegenzustellen. Seine Autobiografie wurde bereits 1990 unter dem Titel Hitlerjunge Salomon verfilmt. Ernst Reuß Sally Perel, Ich war Hitlerjunge Salomon, München 2022, 256 Seiten, 12 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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