Klaus Kellmann, langjähriger Mitarbeiter der schleswig-holsteinischen Landeszentrale für politische Bildung und inzwischen im Ruhestand, hat ein Buch vorgelegt, das sich intensiv mit der europäischen Dimension der Kollaboration während der Nazizeit beschäftigt. „Dieses Buch hätte eigentlich von einem Franzosen, Norweger, Litauer oder Kroaten geschrieben werden müssen. Aber sie schrieben es nicht.“, merkt er in seinem Vorwort an.
Dem Buch vorangesetzt ist das Zitat: „Kein Verbrechen der Deutschen im Dritten Reich kann dadurch relativiert werden, dass es Kollaborateure in anderen Ländern gab. Umgekehrt kann sich kein Volk seiner Verantwortung für die eigenen Verbrechen entledigen, nur weil ein anderes weitaus größeres Unheil angerichtet hat.“ Damit umschifft er eine Klippe des Buches. Er kann über die Kollaboration in anderen Staaten berichten, ohne dabei die Verbrechen der Deutschen zu relativieren. Es ist eine ausführliche Analyse von 24 europäischen Staaten. Beginnend mit Österreich entlarvt Kellmann dabei sehr häufig die Mär von Widerstand und Opferrolle. Dort wo jeder zehnte Bürger Mitglied der NSDAP war und 50 Prozent des Wachpersonals in den KZs stellte, hielt man die Lebenslüge jahrzehntelang aufrecht, das erste Opfer des gebürtigen Österreichers Hitler gewesen zu sein. Eine Lebenslüge, die angesichts der Jubelorgien nach dem Anschluss und der anschließenden „Entjudung“ eigentlich sehr leicht zu entlarven war. Ein Geburtsfehler der österreichischen Republik und ein Opfermythos, der bis heute nachhaltig wirkt. In Italien wird Mussolini immer noch verehrt. Noch im Jahre 1960 waren 62 von 64 Präfekten des Landes ehemalige hohe Mussolinibeamte. Die „neutrale“ Schweiz wickelte Geldgeschäfte ab, lieferte Waffen und wies Juden an der Grenze in den sicheren Tod ab, weil das „Boot voll“ gewesen sein soll. Frankreichs jetziger Präsident Macron möchte mit dem „Volksmärchen“ aufräumen, das Vichy-Regime habe nichts mit Frankreich zu tun. Von dort wurden – aus dem einzigen unbesetzten Landesteil – Juden deportiert. Der nationale Mythos der meisten Länder besteht fast überall aus Überhöhung der Opferrolle und des heldenhaften Widerstands, auch in den Benelux-Staaten und in den skandinavischen Ländern. Willige Helfer beim Holocaust gab es auch in den zwischen Hitler und Stalin eingezwängten baltischen Staaten. Heydrich konnte daher schon auf der Wannseekonferenz verkünden, dass Estland als einziges Land Europas bereits „judenfrei“ sei. Auch dort, wie in anderen osteuropäischen und Stalin geplagten Staaten, werden die Deutschen anfangs noch euphorisch begrüßt. In Lettland beginnen sofort nach Einmarsch der Deutschen die Pogrome. Es sind Letten, die das tun – ohne von den Deutschen groß angestachelt worden zu sein. Die Todesschwadronen des Letten Viktor Arajs hatten ungefähr die Hälfte der getöteten Juden Lettlands auf dem Gewissen. Er hatte dabei willige Helfer und Denunzianten aus der Bevölkerung. Nach dem Krieg tauchte er in Deutschland unter, wurde erst 1974 zur Fahndung ausgeschrieben und 1979 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In Litauen kamen laut Kellmann 200 000 von 220 000 Juden um. Auch in diesem Land, gab es schon vor Einmarsch der Deutschen fürchterliche Pogrome an jüdische Nachbarn – begangen von einem litauischen, nationalistischen Mob. Die litauische Hauptstadt Vilnius in der ein Drittel der jüdischen Bevölkerung lebte, galt als „Jerusalem des Ostens“ und war für die Juden über Jahrhunderte geistiges Zentrum. Heute ist der jüdische Bevölkerungsanteil nur noch gering und eine Aufarbeitung findet kaum statt. In Polen gab es einen tief sitzenden, von der katholischen Kirche angestachelten Antisemitismus. Selbst nach dem Krieg gab es Pogrome, wie in Kielce, wohin 1000 Überlebende aus Auschwitz in der Hoffnung auf Frieden gegangen waren. Inzwischen wird „wegen Beleidigung der Nation“ strafrechtlich verfolgt, wer an derartige Verbrechen „öffentlich und entgegen den Fakten“ erinnert. Bis zu drei Jahre Haft waren bei dem inzwischen wieder etwas entschärften Gesetz vorgesehen. Auch in der Sowjetunion wurde kollaboriert. Wer daran oder an Stalins Verbrechen erinnert, ist auch im heutigen Russland verdächtig und kann durchaus als „ausländischer Agent“ deklariert werden. In der Ukraine hat die Aufarbeitung der eigenen Kollaborationsgeschichte und die Beteiligung am Holocaust keinen Platz und habe daher noch gar nicht begonnen, schreibt Kellmann. Er wundert sich nicht über die Kollaboration, weil dort zuvor unter Stalins Herrschaft Millionen Menschen verhungerten oder ermordet wurden. Auch hier wurden die Deutschen anfangs als Befreier bejubelt und Juden als Sündenböcke gemeuchelt. Alleine in der Schlucht von Babji Jar wurden innerhalb kurzer Zeit 33 771 Kiewer Juden von SS-Angehörigen und ukrainischen Nationalisten ermordet. Der Antisemitismus war hier weit verbreitet, schon lange bevor die Deutschen kamen. Die schwierige Geschichte der Ukraine wirkt bis heute nach. Während in der Ostukraine der Nationalist Stepan Bandera als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher geächtet wird, wird er im Westen der Ukraine als Nationalheld und Freiheitskämpfer mit überlebensgroßen Denkmälern verehrt. Kellmann berichtet weiterhin von ungarischen Pfeilkreuzlern und von den Sudetendeutsche in der Tschechoslowakei, sowie von Rumänen, Bulgaren und Albanern, die teilweise schon in der EU, aber noch nicht richtig in Europa angekommen seien. Ferner informiert er über Jugoslawien und von Griechenland, also Ländern, in denen die Geschichte der Kollaboration sich noch heute auswirkt und vor nicht allzu langer Zeit zum Ausbruch von Kriegen beitrug. Kellmann ist der Ansicht, dass es ohne schonungslose Aufarbeitung der Kollaboration mit dem Dritten Reich keine gemeinsame europäische Erinnerungskultur und keine gemeinsame europäische Identität geben kann. Ein wirklich umfassendes, lesenswertes Werk. Einziger Kritikpunkt: Fast schon atemlos hechelt sich Kellmann mit seinem profunden Wissen durch die Geschichte der einzelnen Länder, so dass es dem Leser schwer fällt, allen Namen und Geschehnissen zu folgen. Doch es lohnt sich immer wieder nachzuschlagen und sich noch tiefer mit der Geschichte der einzelnen europäischen Länder zu beschäftigen. Ernst Reuß Klaus Kellmann, Dimensionen der Mittäterschaft, Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich, Böhlau Verlag, Wien - Köln - Weimar 2018, Gebunden, 666 Seiten, 50,00 €
Bislang wurde über die „Kristallnacht“, die heute als Novemberpogrom bezeichnet wird, viel aus unterschiedlichen Perspektiven gesprochen. Wird der Fokus jedoch auf ein ganz normales Dorf gerichtet, wird das was damals geschah unmittelbar erfahrbar. Die Nazipropaganda hatte Erfolg und der Judenhass brach sich nicht nur in großen Städten, sondern auch in kleinen Gemeinden Bahn. Die Synagogen von Nürnberg, München oder Kaiserslautern waren schon lange vor der „Kristallnacht“ abgerissen worden. Aus Nachbarn waren nun Juden geworden. Die Saat des Hasses ging auf, Juden waren inzwischen die „Sündenböcke“ für alles was schief lief im Leben so manches Volksgenossen.
Sven Felix Kellerhoff zeigt dies am Beispiel des rheinhessischen Weindorfes Guntersblum, einem kleinen idyllischen Weinort zwischen Mainz und Worms, mit einer über tausendjährigen Geschichte. Während es für ganz Deutschland nur vereinzelt Fotos der Ereignisse gab, ist das Geschehen in Guntersblum außerordentlich gut dokumentiert. Ein von den Nazis inszenierter Ausbruch von „spontaner“ Gewalt. Selbst die Kinder bekamen schulfrei, um beim „Demütigungsmarsch“, der seit Jahrzehnten in der Ortschaft lebenden Juden, dabei zu sein. Aufgehetzt von ihren erwachsenen „Vorbildern“ wurden die jüdischen Dorfbewohner auch von 10-jährigen Kindern gedemütigt und angespuckt. Danach plünderten und verwüsteten die örtlichen Wutbürger die Wohnungen ihrer jüdischen Dorfnachbarn. Was wertvoll war schleppten sie mit. Nach dem Krieg behauptete man, es seien alles fremde Nazis gewesen, die extra herangekarrt worden waren. Ein auch heutzutage wohlbekannter Exkulpationsversuch. Doch diesmal gab es Fotos, die das Geschehen dokumentierten und im Buch abgedruckt sind. Kellerhoff identifiziert und benennt sowohl die Täter als auch die Opfer. Die meisten jüdischen Einwohner kamen nicht mehr in ihre verwüsteten Wohnungen zurück. Einige waren schon vorher in größere Städte gezogen, wo sie anonymer leben konnten und somit nicht unmittelbar dem wachsenden Hass ihrer Nachbarn ausgesetzt waren. Was in Guntersblum geschah, war keine Ausnahme. In über tausend Ortschaften gab es ähnliche Übergriffe. Synagogen wurden zerstört, Wohnhäuser verwüstet und die andersgläubigen Ortsbewohner verschleppt, soweit sie nicht rechtzeitig flüchten konnten. „Ein ganz normales Pogrom. November 1938 in einem deutschen Dorf“ ist aber auch ein Buch über die Vorgeschichte des wachsenden Hasses, die Folgen des Ersten Weltkrieges mit der Wirtschaftskrise und einer Partei, die auch in der Provinz daraus Kapital schlug. Man kann durchaus einige Parallelen zu heutigen Zeiten erkennen. Kellerhoffs Buch endet nicht mit der Nazizeit. Er beschreibt auch noch die nachfolgende Aufarbeitung, die spät, eigentlich erst 2008 nach einem Zeitungsartikel, begann. Selbst in besten Wirtschaftswunderzeiten wurde der jüdische Friedhof in Guntersblum noch geschändet. Juden gab es da schon lange nicht mehr im Ort. Das Buch zeigt, wie sich im scheinbar normalen dörflichen Leben das Gift des Antisemitismus ausbreitete, wie die Situation eskalierte und wie das alles bis heute noch nachwirkt. Eine ernsthafte Aufarbeitung erfolgte nach dem Krieg für sehr lange Zeit nicht. Erst seit April 2011 erinnern 23 Stolpersteine auch in Guntersblum an NS-Verfolgte. Eine Aktion, die damals sehr umstritten war und der eine sehr kontroverse politische Auseinandersetzung im Gemeinderat vorausgegangen sein soll. Ernst Reuß Sven Felix Kellerhoff, Ein ganz normales Pogrom, November 1938 in einem deutschen Dorf. Klett-Cotta 2018, 244 Seiten, 22,00 EUR
„Gauland: Die Rache des alten Mannes“ heißt das Buch des mehrfach ausgezeichneten Reporters Olaf Sundermeyer über das Aushängeschild der AfD. Anders als der Titel vermuten lässt ist es keine Abrechnung mit einem alten, unbelehrbaren Mann, sondern eine durchaus differenzierte Analyse des AfD Politikers und ehemaligen Strippenziehers der hessischen CDU, der 1996 sogar Protagonist in einem Schlüsselroman von Martin Walser wurde. Sundermeyer hat sich häufiger mit Gauland unterhalten und für das Buch auch mit alten und neuen Weggefährten gesprochen. Einige haben mit ihm gebrochen, andere versuchen seine Beweggründe zu interpretieren. Richtig nachvollziehen kann sein Verhalten kaum jemand, nicht mal seine eigene Tochter.
Erstaunlicherweise galt Gauland früher als Wegbereiter von Schwarz-Grün. Daniel Cohn-Bendit, der ihn aus dieser Zeit kennt, meint: „Wenn ich seine Strategie aber richtig interpretiere, will er genau das, was Fischer erreicht hat“, denn der habe erreicht, dass die übrigen Parteien das Kernthema Ökologie übernommen haben. Die Schaffung des Amtes eines Bundesheimatministers, der die Forderungen der AfD in der Asyl- und Flüchtlingspolitik in großen Teilen übernimmt, spricht möglicherweise dafür, dass Gaulands Kalkül durchaus aufgegangen ist. Der 1941 in Chemnitz geborene Alexander Gauland, ging noch vor Mauerbau in den Westen um Jura studieren und promovieren zu können. Er machte, obwohl er an Depressionen litt, im öffentlichen Dienst Karriere. Danach arbeitete er für den CDU-Politiker Walter Wallmann, zunächst als Büroleiter ins Rathaus von Frankfurt am Main, dann als Chef der hessischen Staatskanzlei. Nach der Widervereinigung gab es keine Verwendung mehr für ihn, Kohl hielt nicht viel von Gauland und er übernahm die Herausgeberschaft der Regionalzeitung „Märkische Allgemeine“ in Potsdam. Ein Versorgungspöstchen? Immerhin blieb er mehr als ein Jahrzehnt dabei und fand dort seine neue Lebensgefährtin. Mit seiner Ehefrau blieb er weiterhin verheiratet. Sein Weg zur AfD begann mit der politischen Enttäuschung über Helmut Kohl und Angela Merkel. Der Autor sieht einen alten, nicht mehr sonderlich gesunden Menschen, der nur knapp einen Herzinfarkt überlebte und zu viel Wein trinkt. Wohl im Gegensatz zu seinem Fußvolk beginnt er den Tag genüsslich mit der Lektüre von „FAZ“, „Welt“ und „Tagesspiegel“, trotzdem heizt er bei Kundgebungen das Publikum ein, bis die Menge „Lügenpresse“ skandiert. Gauland sei kein Antisemit, er dulde und schütze jedoch Neonazis und Antisemiten in seiner neuen Partei. Er sei daher kein Konservativer mehr, der bewahren wolle, sondern ein Zerstörer mit dem Motto „Nach mir die Sintflut“. Laut Sundermeyer sei er auf einem „Egotrip“. Aus Neid, weil er nicht die Karriere machte, die ihm seiner Ansicht nach zustand? Oder weil er eben ein Opportunist und Zyniker ist? Beides könnte laut Sundermeyer die Triebfeder seines Handelns sein. Gauland ginge es jedenfalls schon lange nicht mehr um die Zukunft des Landes oder die seiner ehemaligen Partei CDU. Er schreibt: „Gauland und seine Bewegungspartei wollen das Bestehende zerstören, um Platz zu schaffen für eine andere Idee von Deutschland – eine nationalistische, auf Abgrenzung basierende und in Teilen völkische Idee. Das doppelt Zynische daran ist, dass Gauland selbst an diese Idee nicht glaubt, sondern sie ihm nur Mittel zum Zweck ist.“ Ernst Reuß Sundermeyer, Olaf, Gauland, DIE RACHE DES ALTEN MANNES, 2. Auflage, C.H.Beck 2018, 176 S., 14,95 €
Stefan Appelius ist Autor des Buchs „Die Spionin“. Für das Buch hat er die inzwischen 90-jährige Protagonistin Olga Raue ausfindig gemacht und sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt. Jahrzehntelang hatte sie über ihre Erlebnisse geschwiegen, nun erzählt sie dem Autor ihre Geschichte. Sie berichtet von einem weitgehend vergessenen deutschen Spionagefall aus den frühen Jahren des Kalten Krieges in Berlin. Olga Raue, ihr Mann Heinz und ihr Schwager Gerd spionierten für die CIA. Olga hatte sich zunächst in Gerd verliebt, später aber seinen Bruder Heinz geheiratet. Durch die Brüder wird sie in deren Spionageaktivitäten involviert.
Als sie nach Moskau zum Medizinstudium delegiert wird, ist sie auch dort für die CIA tätig. Olga wird aber von ihrer vom sowjetischen KGB angeworbenen Mitbewohnerin und Freundin verraten und vor Ort inhaftiert. Sie wird schließlich nach Ost-Berlin ausgeflogen und in einem Geheimprozess verurteilt. Während ihr Schwager und ihr Ehemann zu lebenslänglicher Haft verurteilt werden, bekommt Olga „nur“ 15 Jahre, weil sie mit der Staatssicherheit kooperiert. Nach sechs Jahren wird sie von der BRD aus der Haft in Hohenschönhausen freigekauft. 1977 darf sie die DDR verlassen. Der Autor war auf Olga Raue durch einen anderen Häftling aus Hohenschönhausen aufmerksam geworden. „Hunderttausende Seiten“ Aktenmaterial will Appelius nach eigenen Angaben für das Buch studiert haben, stützt seine Ergebnisse jedoch auf „entscheidende Dinge“ aus ihren Schilderungen. Einer Erzählung von Liebe, Eifersucht, amerikanischen „Romeos“ und vom CIA finanzierten Urlaubsreisen. Das auf Tatsachen beruhende Buch aus den Nachkriegsjahren, wirkt mit seinen vielen fiktiven Dialogen weniger wie ein historisches Sachbuch, sondern eher wie eine Mixtur aus Agententhriller und Liebesroman. Ernst Reuß Stefan Appelius, Die Spionin, Olga Raue - CIA-Agentin im Kalten Krieg, Rowohlt Verlag 2018, 608 Seiten, 24 €
Trotz des Kalten Krieges und der Berlinblockade existierte bis 4. Februar 1949 erstaunlicherweise immer noch eine einheitliche Berliner Justiz. Grund dafür war auch, dass die zuerst allein zuständigen neuen Machthaber aus der Sowjetunion die Stellen der Gerichtsvorstände nicht mit linientreuen Kommunisten, sondern mit Antifaschisten aus dem eher bürgerlichen Lager besetzt hatten. Nazis hatten Berufsverbot.
Die Neurekrutierung des Justizpersonals führte jedoch zu erheblichen Problemen. Das Amtsgericht Berlin-Mitte war einem falschen Amtsrichter auf den Leim gegangen, der – wie sich herausstellte – ein vielfach Vorbestrafter war. Dass in jener Zeit ein Pharmazieprofessor erster Kammergerichtspräsident wurde, war ebenfalls der Personalnot geschuldet. Prof. Dr. Arthur Kanger war kein Jurist, hatte aber als langjähriger Gerichtschemiker etwas mit der Justiz zu tun gehabt. Er stammte aus dem Baltikum und sprach russisch, was wohl der Hauptgrund seiner Ernennung gewesen sein dürfte. Reibereien gab es zwischen neu eingesetzten und schon in der Weimarer Republik tätigen Richtern. Max Berger, der spätere Militäroberstaatsanwalt der DDR, hatte bereits Ende 1945 eine „Liste der politisch unzuverlässigen leitenden Beamten“ erstellt. Neben solchen Auseinandersetzungen hatten die Gerichte in jener Zeit vor allem mit Mangel an Arbeitsmaterialien zu kämpfen. Prozesse mussten ausfallen, weil begehrte Beweisstücke plötzlich aus der Asservatenkammer verschwanden. Gerichtsurteile wurden auf die Rückseite von Landkarten, Urlaubsanträgen oder militärischen Führungszeugnissen geschrieben. Nach Dienstschluss waren die Schreibmaschinen in den Kleiderschränken zu verstecken und die Glühbirnen herauszuschrauben. Im Winter wurde alles geklaut, was zu verheizen war: selbst Stühle, Tische und Holztäfelungen in den Sitzungssälen. Auch aus politischen Gründen kriselte es heftig in der Berliner Justiz. Bereits am 29. Mai 1947 war Generalstaatsanwalt Kühnast, der im Ostsektor wohnte, suspendiert und unter Hausarrest gestellt worden. Kühnast war einst persönlich vom sowjetischen Stadtkommandanten Bersarin eingesetzt worden. Hartnäckig hält sich dabei die Anekdote, dass Bersarin bei der Besetzung des Postens seine Berater gefragt haben soll, wer denn der „größte“ Jurist in Berlin sei. Woraufhin Kühnast benannt und ernannt wurde. Kühnast war tatsächlich der größte Jurist weit und breit, allerdings eher was die Körpergröße betraf. Nun wurde ihm von sowjetischer Seite vorgeworfen, angezeigte Nazis zu zögerlich auf die Anklagebank gebracht zu haben. Von westlicher Seite wurde der Arrest Kühnasts damit in Verbindung gebracht, dass er beabsichtigt hatte, gegen Erich Mielke, dem späteren Stasi-Chef, Anklage zu erheben. Damals begann dessen Kariere als Leiter der Polizeiinspektion Berlin-Lichtenberg und im ZK (Zentralkomitee) der KPD, wo er für Polizei und Justiz zuständig war. Ihm wurde vorgeworfen 1931 – am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz – zwei Polizeibeamte erschossen zu haben, wofür er 1993 rechtskräftig verurteilt wurde. Die Westalliierten ordneten Kühnasts Freilassung an, was auf die Sowjetische Militärverwaltung jedoch wenig Eindruck machte. Kühnast konnte erst am 3. August 1948, nach insgesamt 431 Tagen Hauarrest seinen Bewachern durch Flucht in den Westsektor entwischen. Trotzdem gab es weiterhin eine einheitliche Berliner Justiz, obwohl es inzwischen bereits zur Spaltung der Stadtverwaltung und der Polizei gekommen war. Nun sollte aber auch der sektorenübergreifenden Justiz die letzte Stunde schlagen. Am 3. Februar 1949 wurde der 71-jährige Verwaltungsdirektor am Kammergericht Oskar Scheiblich verhaftet, der vom nunmehrigen Kammergerichtpräsidenten Dr. Georg Strucksberg die Order bekommen hatte Akten in den Westen zu schaffen. Das Schnellgericht Berlin-Mitte verurteilte Scheiblich noch am Tag der Festnahme zu 18 Monaten Gefängnis. Im Rahmen der Ermittlungen gegen ihn wurde auch Kammergerichtspräsident Strucksberg mehrere Stunden vernommen. Anschließend begab der sich umgehend nach Moabit und kündigte dort vor versammelter Presse die Verlegung des Kammergerichts an. Damit war die Justizspaltung perfekt. Von nun an existierten in Berlin zwei Kammergerichte und somit zwei Justizsysteme. Das höchste Berliner Gericht, zuvor in der Littenstraße im sowjetischen Sektor, hatte jetzt auch im britischen, im York-Haus am Fehrbelliner Platz, ein Domizil. Sowohl im Osten als auch im Westen verweigerte man die Herausgabe der Akten mit denselben Argumenten: Man warf sich gegenseitig Illegalität vor. Die Spaltung der Berliner Justiz war mit dem Auseinanderdriften der einstigen Alliierten mit ihren verschiedenen Wirtschaftssystemen und Währungen wohl unvermeidbar. Da erste Volksrichter in Ostberlin bereits kurz nach der Justizspaltung im Februar 1949 eingesetzt wurden, konnte es dort bereits bald zu einigen Entlassungen von „politisch zweifelhaften“ Richtern, Staatsanwälten und sonstigen Angestellten kommen. Dabei traf es sogar Richter, die SED-Mitglieder waren und schon vor dem Zweiten Weltkrieg Mitglieder der KP gewesen waren. Ein Grund für solche Entlassungen konnte schon die westliche Kriegsgefangenenschaft, ein Wohnsitz in Westberlin und die Nichtmitgliedschaft beim FDGB sein. Der Ostberliner Kammergerichtspräsident Dr. Hans Freund wurde bereits 1950 Opfer einer derartigen Überprüfung und entlassen. Er flüchtete ebenfalls in den Westen, da er sich durch den wieder aufflammenden Antisemitismus als Jude politisch verfolgt fühlte. In Westberlin hatte er als ehemaliges SED-Mitglied und Abgeordneter der provisorischen Volkskammer der DDR jedoch größte Schwierigkeiten Fuß zu fassen. Während in Westberlin, die in der Nazizeit tätige Richter nach und nach wieder in ihre Ämter kamen, waren die neuen Richter in Ostberlin fast durchgängig Volksrichter. Also Richter ohne Universitätsabschluss, die besonders geschult wurden und als linientreu galten. Bewerbungen zur Volksrichterschule waren durch Vermittlung einer Politischen Partei, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes oder des Frauenausschusses einzureichen. Ernst Reuß
„Zur ärztlichen Behandlung ausschließlich von Juden berechtigt.“ Das stand seit Oktober 1938 auf den Praxisschildern, den Stempeln, den Rezepten und auf den Briefköpfen jüdischer Ärzte. Sie mussten sich mit einer jederzeit widerruflichen Ausnahmegenehmigung, die in Ausnahmefällen auf Vorschlag der Reichsärztekammer erteilt werden konnte, als „Krankenbehandler“ bezeichnen lassen. Allen anderen jüdischen Ärzten war die Zulassung entzogen worden.
Das Gesundheitssystem sei von Juden „gereinigt“, die „Ausschaltung“ der jüdischen Ärzte vollendet, erklärten die rassistischen Ärztefunktionäre. Rebecca Schwoch, eine Medizinhistorikerin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, hat in ihrer Habilitationsschrift nun erstmals Informationen zu 369 „Krankenbehandlern“ in Berlin zusammengetragen. Da schon im Kaiserreich den Juden öffentliche Ämter meist verschlossen blieben, studierten viele Juden Medizin oder Jura. Als Arzt oder Rechtsanwalt hatte man ein meist einträgliches Einkommen. In Berlin, mit entsprechend hohem jüdischem Bevölkerungsanteil, praktizierten die meisten jüdischen Ärzte. Bereits 1933 war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft getreten, wodurch sich viele verbeamtete jüdische Ärzte genötigt sahen, sich um eine Kassenzulassung zu bemühen. Durch kurz danach erlassene Verordnungen wurden „nichtarischen“ und linken Ärzten die kassenärztliche Zulassung mit sofortiger Wirkung entzogen. Dasselbe galt für „verheiratete weibliche Ärzte“, wenn die „Ausübung der kassenärztlichen Tätigkeit zur wirtschaftlichen Sicherstellung der Familie nicht erforderlich erscheint“ oder wenn „ein Kassenarzt einen Ehegatten nicht arischer Abstammung heiratet oder nach dem 1. Juli 1933 geheiratet hat“. Für Frontkämpfer des ersten Weltkriegs machte das NS-Regime jedoch gewisse Ausnahmen. Anfangs gab es daher noch 7 000 jüdische Ärzte im Deutschen Reich, von denen 4 000 eine Kassenzulassung hatten. Man brauchte die jüdischen Ärzte noch, ohne sie wäre die ärztliche Versorgung zusammengebrochen. Neben den alltäglichen Drangsalierungen wollte man sie aber nach und nach gänzlich aus dem Gesundheitssystem ausschließen. Trotzdem wurden in Berlin 1938 noch mehr als 1500 jüdische Ärzte gezählt. Im Oktober desselben Jahres wurde dann mit der „Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ allen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen. Allerdings mussten Juden, die Zwangsarbeit leisteten oder mit einem „arischen“ Ehepartner verheiratet waren, weiterhin medizinisch versorgt werden. Das konnte man nach Nazilogik keinem „Arier“ zumuten. Außerdem wurde die krude Ansicht verbreitet, kranke Juden könnten als „Zersetzungs- und Fäulnisherd“ den „arischen Volkskörper“ infizieren, wenn sie mit „Ariern“ in Berührung kämen. So kam es zur Deklassierung jüdischer Ärzte als „Krankenbehandler“. Die Bildung von Praxisgemeinschaften oder -vertretungen zwischen „arischen“ und „nichtarischen“ Ärzten war ihnen indes genauso verboten wie Überweisungen an „nichtarische“ Ärzte. Ein „Krankenbehandler“ hatte bei seiner Tätigkeit große ethische Zwangslagen zu bewältigen, denn eine Krankschreibung der Patienten konnte in späteren Jahren die sofortige Deportation bedeuten. Im Übrigen hatten die „Krankenbehandler“ immer häufiger „Transport- oder Arbeitsfähigkeit“ zu bescheinigen und daher über Leben oder Tod zu entscheiden. All das kann man mit einiger Mühe der wenig systematisch oder chronologisch aufbereiteten Studie von Rebecca Schwoch entnehmen. Anerkennenswert und verdienstvoll ist jedoch, dass trotz schwieriger Quellenlage durch Schwochs Arbeit nun die Lebenswege von insgesamt 369 „Krankenbehandlern“ aus Berlin nachvollzogen werden können. 82 von ihnen gelang noch nach 1938 die Emigration, einige wenige gingen in den Untergrund. 51 starben in Berlin, 14 davon durch Suizid. 193 „Krankenbehandler“ wurden deportiert und kamen zumeist in diversen Konzentrations- und Vernichtsungslagern um. Nur 53 Krankenbehandler überlebten die Nazizeit in Berlin, 46 von ihnen waren mit einem „arischen“ Partner verheiratet. Einer davon war der 1874 in Berlin geborene Wilhelm Paul Rosenstein, der bereits 1897 formalrechtlich aus dem Judentum ausgetreten war und eine Nichtjüdin heiratete. Er war im Ersten Weltkrieg Bataillonsarzt an der Front und erwarb dort Kriegsverdienskreuze. Als Lehrer für Gesundheitslehre an der Staatlichen Elisabeth-Frauenschule wurde er 1933 als „Nichtarier“ entlassen, aber 1938 als „Krankenbehandler“ offiziell anerkannt. 1935 hatte er sein Haus unter Wert an einen Reichsbankdirektor verkaufen müssen, um finanziell über die Runden zu kommen. Immerhin war er einer der wenigen, die die Nazizeit in Berlin überlebten. Nach dem Krieg war er Allgemeinarzt in Berlin. Von den lediglich 18 „Krankenbehandlerinnen“ sei Lucie Adelsberger genannt, die 1895 in Nürnberg geboren und an der Universität Erlangen ausgebildet wurde, aber seit 1924 als Internistin und Kinderärztin in Berlin arbeitete. Sie war Mitglied der Berliner Ärztekammer und bei der Säuglings- und Kinderwohlfahrt sehr engagiert. Bis 1938 betrieb sie eine Privatpraxis, danach war sie als „Krankenbehandlerin“ tätig. 1943 wurde sie nach Ausschwitz deportiert. Dort überlebte sie als Lagerärztin. Nach dem Krieg emigrierte sie in die USA und praktizierte als Ärztin in New York. Ernst Reuß Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin zwischen 1938 und 1945, Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2018, 638 Seiten, 64,95 Euro |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
|