Erst kürzlich vertagte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in Münster das Verfahren in Sachen AfD gegen den Bundesverfassungsschutz, in dem es um die Einstufung der AFD als „extremistischen Verdachtsfall“ ging. Inzwischen prüft der Bundesverfassungsschutz, ob er die AfD vom Verdachtsfall in die Kategorie „gesichert extremistische Bestrebung“ hochstuft, was für verbeamtete Parteimitglieder der AfD wohl Konsequenzen haben würde. Auf Länderebene gibt es das ja bereits schon öfters. Daneben wird weiter heftig über ein Verbot dieser Partei diskutiert.
Argumente für ein Verbot liefert das Buch von Hendrik Cremer, der im Deutschen Institut für Menschenrechte zu Rassismus und Rechtsextremismus forscht. Er sammelte Beweise, die zeigen, welche völkischen und verfassungsfeindlichen Ziele die Partei heute verfolgt und wie es ihr gelingt, die öffentlichen Debatten zu beeinflussen, sei es in Talkshows oder in unkritischen Interviews. Bereits der Parteitag der Alternative für Deutschland im Sommer 2015 war ein Wendepunkt zur Radikalisierung der Partei nach ganz rechts. Damals setzte sich Frauke Petry gegen den euroskeptischen Gründer Bernd Lucke durch, der die AfD in der Folge verließ. Inzwischen sind Petry und Lucke Geschichte, genauso wie viele andere rechtspopulistische Parteimitglieder. Der völkische Flügel um ihren Führer Höcke hat sich vollkommen durchgesetzt. Hendrik Cremer charakterisiert die AfD mit nachvollziehbaren Bewertungen als rechtsextreme Partei. Die AfD ist laut Cremer eine Partei, die die Menschenwürde vieler in Deutschland lebender Menschen nicht achtet, Gewalt befürwortet und die Grund- und Menschenrechte systematisch in Frage stellt. Am Ende der Lektüre des Buches fragt man sich, warum es noch nicht schon längst das Parteiverbotsverfahren gibt, denn sehr deutlich belegt der Autor wie gefährlich die AfD ist. Was sie will machen die führenden Parteimitglieder immer wieder mehr als deutlich. Die Beweisführung zum rechtsextremen Charakter der AfD konzentriert sich auf Aussagen der Führungsfiguren Höcke, Weidel, Gauland und Chrupalla. Hendrik Cremer belegt das alles mit öffentlichen Zitaten. Eigentlich müsste sie jeder kennen. Erschreckend! Im anstehende Wahljahr sei ein Verbot wegen der Länge des Verfahrens jedoch keine sinnvolle Option mehr, meint Cremer, fordert aber die „längst überfällige Einstufung der AfD als ‚erwiesen rechtsextremistische Bestrebung‘“. Laut Cremer erhebt die „AfD den totalitären Anspruch, Menschen zu Objekten zu degradieren, nach Gutdünken über sie zu entscheiden und zu verfügen“, „was Deportationen deutscher Staatsangehöriger einschließt“. Er resümiert: „Käme die AfD an die Macht, wäre niemand mehr in diesem Land sicher“. Schon 2018 sprach Höcke in einem Buch von der Notwendigkeit eines „großangelegten Remigrationsprojekts“, das eine Politik der „wohltemperierten Grausamkeit“ erfordere. Wer sich noch mal auf den neuesten Stand bringen möchte, welche Ziele die AfD heute verfolgt, kann das in dem Buch nachlesen. Gut recherchiert und schnell zu lesen möge es viele Leser finden. Ernst Reuß Hendrik Cremer: „Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen“, Berlin Verlag, Berlin 2024. 240 Seiten, 22 Euro
Die Geschichte, die Albrecht Weinberg von seinem Leben erzählt ist herzzerreißend. Er erzählt wie er in seiner ostfriesischen Heimat zuerst diskriminiert und dann vertrieben wurde. Die Demokratie starb allmählich, doch dann ging alles sehr schnell. Selbst in der tiefsten idyllischen Provinz wirkte das antisemitisch rassistische Gift der Nazis und wie das geschah ist unfassbar, denn jeder Dorfbewohner kriegte das mit. Albrecht Weinberg war im „Fehndorf“ Rhauderfehn in Ostfriesland aufgewachsen. Bereits 1936 durften die Kinder nicht mehr die reguläre Schule besuchen. Auch Ostfriesland wurde „judenrein“ gemacht. Nach den Novemberpogromen 1938 versuchten die Eltern zumindest den Kindern die Auswanderung nach Palästina zu ermöglichen, doch als die Auswanderung dorthin erfolgen sollte, war es Menschen jüdischen Glaubens schon verboten Deutschland zu verlassen.
Albrecht Weinberg musste Zwangsarbeit verrichten, überlebte drei Todesmärsche und wurde im April 1945 in Bergen-Belsen befreit. Nur wenige Familienmitglieder überlebten den Holocaust. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Er, sein Bruder Dieter und seine Schwester Friedel überlebten jedoch das Vernichtungslager Auschwitz. Der Bruder starb tragischerweise jedoch kurz nach dem Krieg. Zusammen mit seiner Schwester Friedel wanderte Albrecht Weinberg 1947 in die USA aus. Mehr als 60 Jahre lebten sie zusammen in New York. Als seine Schwester Friedel im Alter einen Schlaganfall erlitt, kamen die Geschwister 2012 nach Leer zurück. Friedel starb kurz danach in ihrer alten Heimat. Albrecht Weinberg begann nun endlich zu sprechen und besuchte in der Folgezeit zunehmend Schulen. Dadurch fand er späte Anerkennung. In Rhauderfehn gibt es seit 2006 eine Geschwister-Weinberg-Straße. Albrecht wurde Ehrenbürger und das Gymnasium, das er ab 1936 nicht mehr besuchen durfte, wurde inzwischen nach ihm benannt, nachdem ihm dort 2021 das Ehrenabitur verliehen wurde. Die Schülersprecher ehrten ihn mit den Worten: „In den vergangenen Jahren haben Sie uns Schülerinnen und Schülern immer wieder Ihre Geschichte erzählt, für uns haben Sie das Grauen, das Ihnen widerfahren ist, erneut durchlebt, um uns etwas beizubringen, das so viel wichtiger ist als viele der schulischen Inhalte: Was es bedeutet, ausgegrenzt und gehasst zu werden, dass Respekt und Achtung vor unseren Mitmenschen wichtiger sind denn je, und vor allem, dass wir eine Stimme haben, die im Angesicht großer Ungerechtigkeit nicht verstummen darf.“ Eine andere nicht weniger herzzerreißende Lebensgeschichte ist die von Lidia Maksymowicz. In ihren Erinnerungen „Ich war zu jung, um zu hassen.“ erzählt sie von ihrer Leidenszeit in Auschwitz. Sie wurde im Alter von drei Jahren nach Auschwitz deportiert und überlebte das Vernichtungslager nur, weil sie von Josef Mengele für seine grausamen Experimente ausgewählt wurde. Lidias Familie wurde bei Ankunft dort „selektiert“. Die Großeltern wurden sofort in der Gaskammer ermordet, ihre belarussische Mutter musste Zwangsarbeit leisten, während Lidia als Mengeles Versuchskaninchen in die Kinderbaracke geschickt wurde. Lidia erzählt in dem Buch auch von der Suche nach der eigenen Identität und nach ihrer leiblichen Mutter, die Auschwitz in einem der letzten Todesmärsche verlassen musste. Auch sie überlebte und suchte nach dem Krieg in Auschwitz vergeblich nach ihrer Tochter, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte. Lidia wurde nach dem Krieg von einer Polin aus Auschwitz adoptiert und lebte nun dort. Sie kannte auch kaum etwas anderes. Erst im Erwachsenenalter fand sie ihre leibliche Mutter in Belarus wieder. Schwierige Zeiten für alle Beteiligten, denn ihre leibliche Mutter ging davon aus, dass sie nun wieder bei ihr leben würde. Doch Lidia hatte ihre Heimat in Auschwitz gefunden und blieb. Sie lebt bis heute in der Nähe, in Krakau. Ernst Reuß Nicolas Büchse, Albrecht Weinberg - »Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm«, Eine wahre Geschichte vom Holocaust, dem Überleben und einem Versprechen, das die Zeit überdauert, München 2024, 288 Seiten, 20 Euro. Lidia Maksymowicz, Paolo Rodari, Ich war zu jung, um zu hassen. Meine Kindheit in Auschwitz, München 2024, 192 Seiten, 22 Euro.
Mordechai Strigler, der 1998 als 80-Jähriger in New York starb, war ein Schriftsteller, Journalist und Überlebender der Shoah. Er schuf mit seiner Buchreihe „Verloschene Lichter“ ein literarisches Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.
Bereits kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 begann er seine Erfahrungen in den Lagern literarisch zu verarbeiten. Er beschreibt die Lagerorganisation und das Lagerleben sowie den Umgang der jüdischen Gefangenen untereinander. Der beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Warschau ansässige Strigler, war nach Einmarsch der Deutschen zur Zwangsarbeit in unterschiedliche Arbeitslager geschickt worden. Er überlebte zwölf davon und emigrierte kurz nach seiner Befreiung nach Paris. Er selbst war mit der Zeit in „privilegiertere“ Kreise der jüdischen Lagerverwaltung aufgestiegen. Eltern und drei von sieben Schwestern wurden Opfer der Nazis. 1952 ging er nach New York und arbeitete bis zu seinem Tod für jiddische Zeitungen. Nach „Majdanek“, „In den Fabriken des Todes“ und „Werk C“ erschien nun der vierte und letzte Teil der Tetralogie in deutscher Erstausgabe. Das Buch heißt „Schicksale“ . Die Bücher waren zuvor nur auf Jiddisch veröffentlicht worden. In „Schicksale“ berichtet Strigler von den letzten Monaten in den HASAG-Werken im besetzten Polen, als die Munitionsfabrik letztendlich geschlossen und die Häftlinge im August 1944 nach Deutschland „evakuiert“ wurden. Es ist dem Herausgeber Frank Beer und der Übersetzerin Sigrid Beisel zu verdanken, dass diese Publikationenen nun auf Deutsch erscheinen. Beer, der bereits andere, nie auf Deutsch erschienene Augenzeugenberichte aus den Vernichtungslagern für deutsche Leser zugänglich gemacht hat, widmet sich dankenswerterweise diesen historischen Schätzen, um sie dem Vergessen zu entreißen. In seinen Zeitzeugenberichten beschreibt Strigler die grausamen Umstände, unter denen die jüdischen Gefangenen im Zwangsarbeiterlager der Hugo und Alfred Schneider AG (HASAG) Munition für den Krieg herstellen mussten. Die HASAG war ein in Leipzig ansässiges metallverarbeitendes deutsches Unternehmen, das auch als Rüstungskonzern vor allem nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion von großer Bedeutung war. Die Fabrik war Munitionshauptlieferant im Osten, mehr als 10 000 Menschen arbeiteten im Lager. Striglers Bücher sind keine nüchterne Beschreibung des Alltags der jüdischen Häftlinge, sondern eine Aufarbeitung des Erlebten. Neben den Tatsachenschilderungen versucht Strigler in einem belletristischen Teil die erlebten Grausamkeiten zu beschreiben. Die Zwangsarbeit war gesundheitsgefährdend und wurde von sadistischen Mördern überwacht. Arbeiter, die als nicht mehr arbeitsfähig erachtet worden waren, wurden in den Wäldern der Umgebung erschossen. Über 20 000 jüdische Zwangsarbeiter fielen den Verhältnissen dort zum Opfer. Meist starben sie innerhalb von drei Monaten nach ihrer Ankunft, da die benutzten Säuren zu schweren Vergiftungen führten und für Juden keine Schutzkleidung vorgesehen war. Am Ende des Krieges wurden tausende Häftlinge aus den HASAG-Werken auf Todesmärsche geschickt. 1948 wurden 25 Mitarbeiter der HASAG vor Gericht gestellt und verurteilt. Der Chef des Werkes konnte nach dem Krieg untertauchen und wurde nie gefasst. Inzwischen begann man im Stammwerk Leipzig Kochtöpfe, Milchkannen, Lampen und ähnliches zu produzieren. Der VEB Leuchtenbau Leipzig hatte die Rechte an der Firma HASAG, die erst 1974 gelöscht wurde. Striglers Bücher sind keine einfachen Schilderungen des Alltags der jüdischen Häftlinge, sondern er beschreibt mit dem scharfen und bitteren Blick seines teilweise autobiographischen Protagonisten „Mechele“ - genauestens - sowohl die Opfer als auch die Täter. Ganz besonders in den Vernichtungslagern galt:„Homo homini lupus“ – Der Mensch ist des Menschen ein Wolf. Nichts für zart besaitete Gemüter. Ernst Reuß Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Majdanek, Verloschene Lichter. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Todeslager. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe März 2016, 228 Seiten, Paperback, 24,00 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), In den Fabriken des Todes, Verloschene Lichter II. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Arbeitslager Skarzysko-Kamienna. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Juni 2017, 400 Seiten, Paperback, 29,80 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Werk C, Verloschene Lichter III. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes, Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Oktober 2019, 460 Seiten, Paperback, 32,00 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Schicksale. Verloschene Lichter IV. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah, Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Januar 2024, 694 Seiten, Paperback, 48,00 €.
Atemlos berichtete der Autor und Journalist Uwe Wittstock 2021 in seinem Buch „Februar 33: Der Winter der Literatur“ über den ersten Monat nach Hitlers Machtübernahme. Chronologisch erzählt er Tag für Tag aus der Sicht berühmter Kunst- und Kulturschaffenden. Geradezu atemberaubend ist das Tempo, wie sich ihre Welt in diesem Monat veränderte. Schon im März 1933 sind viele der Protagonisten im Exil oder im Gefängnis. Wittstock schrieb: „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“
Nun hat Wittstock mit dem selben atemberaubenden Erzählstil sein neues Buch „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ geschrieben, in dem chronologisch das Leben der Literaten im französischen Exil erzählt wird, bevor die Flucht vor den Nazischergen weitergehen musste. Das Tempo, mit dem die Deutschen Frankreich überrannten, überraschte die Flüchtlinge genauso wie die französischen Truppen. Viele flohen zu den Häfen, nach Marseille, die größte Stadt in der unbesetzten Zone. Von Marseille aus wollten sie Europa verlassen, doch das war alles andere als einfach. Das Buch behandelt die Zeit zwischen Mai 1940 und August 1941. In Marseille kreuzten sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller und Künstler. Das Buch dreht sich aber auch um den altruistischen amerikanischen Fluchthelfer Varian Fry, der in New York das Emergency Rescue Committee gründete, selbst nach Frankreich reiste und nun endlich auch in Deutschland ein wenig bekannter ist. Am Potsdamer Platz in Berlin ist inzwischen eine Straße nach ihm benannt. Fry war nach der Machtübernahme der Nazis als Journalist in Berlin und beobachtete mit Entsetzen was dort geschah. Später ermöglichte der Literaturenthusiast vielen Literaten, Intellektuellen und sonstigen Künstlern die Flucht, auch wenn das nicht einfach war und er selbst dafür einiges riskierte. Die weitgehend unbekannte Mary Jayne Gold half ihm dabei. Meist wurden die Flüchtlinge von Lisa und Hans Fittko auf kleinen Schmugglerpfaden nach Spanien gebracht, von wo die Flucht nach Übersee weiter gehen konnte. Die Fluchthelfer setzten dabei ihr Leben aufs Spiel, kehrten aber immer wieder zurück, um weiter zu helfen. Nicht allen konnte geholfen werden Walter Hasenclever, Ernst Weiß und Walter Benjamin brachten sich um, weil sie nicht länger flüchten wollten. Alfred Apfel starb bei der Fluchtplanung an einem Herzinfarkt im Büro von Varian Fry. Rudolph Breitscheid und Rudolf Hilferding zögerten zu lange, denn ihre Schiffspassage war von Fry schon gebucht. Sie wurden verraten, verhaftet und ermordet. Unter den von Fry geretteten über 2 000 Menschen befanden sich unter anderen Hannah Arendt, Ernst Josef Aufricht,Georg Bernhard, der Surrealist André Breton, die Maler Marc Chagall, Marcel Duchamp, Max Ernst, Wifredo Lam und André Masson, der geschwätzige „Frauenheld“ Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Fritz Kahn, Siegfried Kracauer, Konrad Heiden, Heinz Jolles, Wanda Landowska, Jacques Lipchitz, Alma Mahler und ihr Mann Franz Werfel, Heinrich Mann, dessen von der Familie verachtete Frau Nelly und sein Neffe Golo, der immer wieder hysterische Walter Mehring, Otto Meyerhof, Soma Morgenstern, Hans Natonek, Hans Namuth, die beeindruckende Hertha Pauli, Alfred Polgar, Hans Sahl und Kurt Wolff. Allesamt waren nach dem 30. Januar 1933 aus Deutschland nach Frankreich geflohen und mussten nun erneut die Koffer packen. Sie standen ganz oben auf der Fahndungsliste der Nazi-Besatzungsmacht. Ihr Fluchthelfer Fry war ein Idealist, dessen Sturheit es ihm nicht immer leicht machte. Vor allem weil die USA eigentlich kein Interesse daran hatte politisch aktive, von den Nazis verfolgte Schriftsteller nach Amerika zu holen. Auch Juden wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Von wegen „Refugees Welcome“. Fry fand nach dem Krieg nie wieder eine angemessene Anstellung, er wurde Werbetexter für Coca-Cola und starb 1967. Erst 1994 - lange nach seinem Tod -verlieh ihm die Gedenkstätte Yad Vashem den Titel „Gerechter unter den Völkern“. Bis dorthin wurden seine Taten kaum gewürdigt. In seinen Schilderungen der Geschehnisse erwähnte Heinrich Mann seinen Lebensretter mit keinem Wort. Eine deutschsprachige Biographie über den Lebensretter gibt es bis heute nicht, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihm doch einiges zu verdanken hat. Wittstock würdigt in „Marseille 1940“ Varian Fry auf seine eigene, sehr lesenswerte Art. Er hat damit zwei wunderbar erzählte Bücher verfasst, die die Fragilität einer Demokratie und deren brutale Zerstörung erfahrbar machen. Das neu verfasste Werk ist zudem ein Buch über den nackten Überlebenskampf von prominenten Flüchtlingen und eine Würdigung von altruistischen Fluchthelfern, die auch damals kriminalisiert wurden. Wittstock resümiert: „Neben jeder Person, die in diesem Buch erwähnt wird, standen Hunderte oder Tausende andere, die das gleiche Recht hätten, in Erinnerung gebracht zu werden. Mehr noch, manche der Schicksale, von denen hier erzählt wird, waren dicht verflochten mit Schicksalen, die nicht geschildert werden konnten, damit das Buch nicht ins Uferlose wuchs.“ Ernst Reuß Uwe Wittstock: „Februar 33: Der Winter der Literatur“, München 2021, 287 Seiten, 24 Euro. Uwe Wittstock: „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“, München 2024, 351 Seiten, 26 Euro.
2018 erschien Evelyn Steinthalers Buch „Mag’s im Himmel sein, mag’s beim Teufel sein“, bei dem es um Filmstars bei den Nazis ging. Dort ging es beispielsweise aber auch um Bruno Balz, der heute noch ausgesprochen bekannte Filmsongs von Zahra Leander schrieb und als Homosexueller von den Nazis verfolgt wurde. Der Titel des Buches ist eine Liedzeile aus dem Hans Albers-Hit „Goodbye Johnny“. Es ging um immer noch bekannte Stars wie Hans Albers, Hans Moser und Heinz Rühmann, die sich alle auf ihre Weise mit dem System arrangierten. Andere Stars sind heute kaum noch bekannt. Stars wie Carola Neher, Renate Müller und Joachim Gottschalk überlebten die Nazizeit nicht.
Nun erschien von derselben Autorin „Schau nicht hin, Kunst als Stütze der Macht“. Es geht um die Filmdiven der Nazis. Es geht um Zarah Leander, Marika Rökk und um die heute weniger bekannten Stars wie Lída Baarová und Kristina Söderbaum. Bei allen fehlte auch nach dem Krieg ein Unrechtsbewusstsein und eine Aufarbeitung. Sie galten als unpolitisch. Seltsamerweise gelten und galten derartige Attribute nie für links orientierte Filmschaffende von Unterhaltungsfilmen. Als „Boomer“ in Deutschland und in Österreich wuchs man in der Nachkriegszeit mit Zarah Leander und Marika Rökk auf, deren Filme regelmäßig im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Die Verquickung von Kunst und Politik wurde nicht thematisiert. Die Tatsache, dass in Zarah Leanders Filmen als Frauen verkleidete SS-Männer wesentlicher Bestandteil ihrer filmischen Revuen waren ist weitgehend unbekannt - wird aber im Buch thematisiert. Männer sollen besser zu Leanders Statur gepasst haben, als die üblichen Tänzerinnen im Hintergrund. Es geht auch um die aus Schweden stammende „Reichswasserleiche“ Kristina Söderbaum, die vom berüchtigten „Jud Süß“ Regisseur Veit Harlan entdeckt und geheiratet wurde. Sie spielte in seinen antisemitischen Propagandawerken Hauptrollen, weil sie dem arischen Ideal entsprach. Als ihr Mann ab 1950 wieder inszenierte, spielte Söderbaum erneut zahlreiche Hauptrollen in seinen Filmen. Als letztes wird Lída Baarová porträtiert, die mit dem auf Schauspielerinnen spezialisierten Schürzenjäger und verliebten Nazipropagandaminister ein Verhältnis gehabt haben soll, das erst mit einem Machtwort Hitlers beendet wurde. Joseph Goebbels wollte sich angeblich wegen Baarová scheiden lassen. Seine Frau Magda intervenierte beim „Führer“. Baarová erhielt daraufhin Spielverbot und ging 1939 zurück in ihre Heimatstadt Prag. 1945 wurde sie in der Tschechoslowakei wegen Kollaborationsverdachts inhaftiert und nach 18 Monaten wieder freigelassen und rehabilitiert. Die Autorin stellt sich die Frage: „Inwieweit tragen Künstler und Künstlerinnen ein System mit?“. Ernst Reuß Evelyn Steinthaler, Schau nicht hin, Kunst als Stütze der Macht - Die Geschichte der Diven des NS-Kinos, Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2024, 208 Seiten, 25 Euro. Evelyn Steinthaler, „Mag’s im Himmel sein, mag’s beim Teufel sein“, Stars und die Liebe unter dem Hakenkreuz, Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2018, 192 Seiten, 22 Euro.
Völkermord
Andrej Angrick hat in seinem bereits 2003 erschienen und jetzt wieder neu aufgelegten Buch „Besatzungspolitik und Massenmord" auf eindrucksvolle Weise den Weg der Einsatzgruppe D nachverfolgt und die Protagonisten porträtiert. Angrick ist damit ein grundlegendes Werk gelungen, das ein Muss für all diejenigen ist, die sich für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in der damaligen Sowjetunion interessieren. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion nahmen auch die mobilen Mordverbände ihre Tätigkeit auf. Die Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) war eine der „Sondereinheiten“ im Zweiten Weltkrieg, die an der Vernichtungspolitik in der früheren Sowjetunion beteiligt war. Die Ukraine, die Krim und der Kaukasus waren zumeist ihre Einsatzgebiete. Mit einer Stärke von ungefähr 600 Mann war sie nach den eigenen Lageberichten an ungefähr 100 000 Morden beteiligt. Der Völkermord war als Mittel der Politik gegen den Sowjetstaat angeordnet worden. Mit dem „Generalplan Ost“ sollte eines deutsch-germanischer „Garten Eden“, geschaffen worden. Insbesondere in der „Kornkammer Ukraine“, wo sie anfangs von vielen als „Befreier“ vom stalinistischen Joch empfangen wurden. Obwohl einzelne Ukrainer, soweit sie als verlässlich galten, zum Aufbau der landeseigenen Verwaltung und für Hiwi-Einheiten herangezogen wurden, war eine unabhängige Ukraine nie ernsthaft angedacht. Die Zeit des Wohlwollens war allerdings spätestens beendet, als die Bandera-Bewegung Stellung gegen das Reich bezog. Was im Buch berichtetet wird ist schwer zu verdauen, denn schonungslos werden detailliert die Pogrome der Einsatzgruppe D an der einheimischen Bevölkerung beschrieben. „Ganz normale deutsche Männer“ und ihre Helfershelfer begingen unfassbare Verbrechen. Nachdem man den größten Teil der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten ermordet hatte, begann man die Kriegsgefangenenlager nach Juden zu durchsuchen und verfolgte „Partisanen“. Man experimentierte dabei auch mit Vergasungen. Die gesamte Einsatzgruppe setzte sich aus Personen mit sehr unterschiedlichen Biografien zusammen. Angrick stellt fest, dass die Einsatzgruppe „im Spannungsfeld ihrer kaltschnäuzigen Karrieresucht und persönlicher Wünsche, der sehr wohl ausgeprägten Struktur von Befehl und Gehorsam und der trotzdem vorhandenen Möglichkeit zur individuellen Entscheidung für oder gegen bestimmte Handlungsweisen.“ sicher kein homogener Verband war, aber trotzdem eine „erschreckend ‚homogene’, mörderische Wirkung“ hatte. Es gab sadistische Verrohungen durch das tägliche Morden, aber auch Angehörige, die die Nerven verloren und von ihren Aufgaben entbunden wurden. Angrick resümmiert: „Bezüglich der Einsatzgruppen kann man (..) anführen, dass im Rahmen militärischer Operationen noch nie zuvor so wenige Menschen willkürlich über das Leben so vieler anderer entschieden, sie ermordet und gequält hatten.“ Die Mitglieder der Sondereinsatzkommandos seien „hauptsächlich und in erster Linie Mörder“ gewesen und verdrängten ihre möglicherweise vorhandenen Skrupel. Nach dem Krieg begingen einzelne Mitglieder der Sondereinsatzkommandos Suizid, andere flohen ins Ausland, aber die meisten dieser „ganz normalen Männer“ führten ihr „ganz normales Leben“ in Deutschland fort. Nur wenige wurden zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Den meisten gelang problemlos der Übergang in die bundesrepublikanische Gesellschaft, was laut Angrick „die spezifischen nationalen Erinnerungsformen und -diskurse der bundesdeutschen Gesellschaft maßgeblich prägen sollte.“ Ernst Reuß Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord, Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943, Hamburger Edition, Hamburg 2023, Gebunden, 798 Seiten, 35 €. |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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