Heute vor 74 Jahren, am 30. April 1945, beging Hitler im Bunker unter der Reichskanzlei Selbstmord. Die Leichname wurden durch SS-Angehörige vor dem Bunker mit Benzin übergossen und verbrannt. In seinem politischen Testament bestimmte Hitler Großadmiral Karl Dönitz zum Reichspräsidenten. Flensburg wurde nun Sitz der – nicht mehr allzu lange - geschäftsführenden Reichsregierung. Die Lage für Hitler war aussichtslos gewesen. Bereits am 25. April hatte sich der Belagerungsring um Berlin geschlossen, während sich bei Torgau an der Elbe erstmals sowjetische und US-amerikanische Kampfeinheiten begegneten.
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Der Hobbyhistoriker Harald Sandner hat viel Geld in seine Forschungen über Adolf Hitler gesteckt und in seinem Werk „Hitler. Das Itinerar“ auf mehr als 2400 Seiten jeden einzelnen Lebenstag Hitlers aufgezeichnet. Als Itinerar werden von Historikern normalerweise die dokumentierten Reisewege mittelalterlicher Herrscher bezeichnet und Sandner dokumentierte Hitlers gesamtes Leben; eine bemerkenswerte Leistung.
Nun hat er mit „Hitler – Das letzte Jahr, Chronologie einer Apokalypse“ aufs Genaueste dessen letztes Lebensjahr nachgezeichnet und in einem neuen, umfangreichen Buch veröffentlicht. Im letzten Jahr Hitlers sind laut Sandner mehr Opfer zu beklagen als in den viereinhalb Jahren des Zweiten Weltkrieges zuvor. Die Chronik ist sehr detailliert und kenntnisreich, außerdem wird sie durch interessantes, bisher unveröffentlichtes Bildmaterial, sowie um eine Lageskizze und den architektonischen Aufriss der Gebäude, in denen Hitler verkehrte, ergänzt. Dazu vermengt Sandner tägliche Arztbulletins von Hitlers Leibarzt Morell, einschließlich der unappetitlichen Beschreibung seiner Stuhlproben, mit von der um sich schlagenden Nazijustiz verhängten Todesurteilen wegen Defätismus. Ein atemloser Geschichtsspaziergang durch das letzte Jahr Hitlers, wobei es mitunter zu Redundanzen kommt. Sandner versucht, alle seine verdienstvollerweise erworbenen Forschungsergebnisse unterzubringen; gelegentlich wären aber weniger Details besser gewesen. Zwar erfährt man mitunter spannende Neuigkeiten, aber leider verzichtet der Autor trotz einer langen Literaturliste, inklusive Fernsehdokumentationen und Kinofilme, komplett auf Anmerkungen. Fragwürdige Quellen und Zahlen werden übernommen, können aber wegen fehlender Fußnoten nicht nachgeprüft werden. So wird das Schicksal eines Unteroffiziers aus der Opferperspektive erzählt, obwohl die „Frontsau“ an der Belagerung Leningrads und wahrscheinlich an anderen Scheußlichkeiten beteiligt gewesen war, worauf der Autor aber nicht näher eingeht. Für Sandner bleibt der „harte Knochen“ ein Opfer. Als Täter werden in der Regel nur Rotarmisten benannt, wobei auch NS Propaganda – wenn auch mit Fragezeichen - übernommen wird. Ansonsten gibt es für Sandner nur einen Täter, nämlich Hitler. Schon in seinem Prolog schreibt er: „Ohne ihn verfällt alles augenblicklich. Nach seinem Tod ist der Krieg binnen weniger Tage zu Ende.“ Sandner ignoriert die Tatsache, dass nach der Einnahme Berlins auch mit Hitler der Krieg nicht mehr lange gedauert hätte. Am Ende des Buches wird drastisch und minutiös der „Untergang“ beschrieben. Ein berserkerhafter Hitler, der bis zu seinem selbstgewählten Ende noch viele in den Tod mitreißt. Leider lässt sich auch hier nicht nachvollziehen, ob Sandners Schilderung eventuell vom Film „Der Untergang“ mit Bruno Ganz oder durch sonstige Quellen inspiriert ist. Trotz der beschriebenen Mängel gelingt dem Autor ein lesenswerter Rundumschlag, mit dem ein Gefühl für das letzte Jahr des mehr und mehr verzweifelten Hitler vermittelt werden kann. Ernst Reuß Harald Sandner, Hitler – Das letzte Jahr, Chronologie einer Apokalypse, Berlin Story Verlag, Berlin 2018, 678 Seiten, 49,95 €
Am 21. April 1945 begann die Räumung des KZ Sachsenhausen durch die SS. Die Rote Armee stand nur noch wenige Kilometer entfernt. 33.000, der noch verbliebenen 36.000 Häftlinge, wurden in Gruppen von 500 Häftlingen nach Nordwesten in Marsch gesetzt.
Tausende Häftlinge starben dabei an Entkräftung oder wurden von der SS erschossen. Die Überlebenden kamen auf unterschiedlichen Wegen in die Nähe von Schwerin, wo sie, inzwischen von ihren SS-Bewachern verlassen, auf Einheiten der Roten Armee und der US Army trafen. Die befreiten Häftlinge wurden anschließend in zwei Kasernen in Schwerin untergebracht. Am 22. und 23. April 1945 erreichten sowjetische und polnische Streitkräfte das Hauptlager und befreite die zurückgebliebenen 3.000 Kranke, Ärzte und Pfleger - von denen in den folgenden Wochen noch mindestens 300 Befreite an den Folgen der KZ-Haft starben. Im Mai konnten die meisten westeuropäischen Häftlinge in ihre Heimatländer zurückkehren, während Häftlinge aus Osteuropa zunächst eine Überprüfung in Repatriierungslagern über sich ergehen lassen mussten. Ernst Reuß
Ian Kershaw gilt als bedeutender Experte auf dem Gebiet der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seine zweiteilige Hitler-Biografie ist eines seiner bekanntesten Werke. 2011 erschien sein Buch „Das Ende“, eine sehr detaillierte Erzählung des Endes des Hitlerregimes. Sein letzter Bestseller „To Hell and Back“ beschrieb Europa bis zum Jahre 1949. Nun lässt er als Fortsetzung sein aktuelles Werk im Jahre 1950 beginnen und 2017 enden. Die neuere Geschichte Europas auf mehr als 800 Seiten, die viele Leser noch selbst erlebt haben. Während der erste Band mit dem deutschen Titel „Höllensturz“, den Niedergang Europas beschreibt, das sich beinahe selbst zerstörte, sind für ihn die Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Europa eine „Achterbahnfahrt“ - voller Aufs und Abs. Ein schön und flüssig lesbarer Rundumschlag zur Geschichte Europas, denn Kershaw versteht es Geschichte mit Worten erfahrbar zu machen.
Kershaw ist im Gegensatz zu vielen seiner britischen Landsleute ein entschiedener Europäer und sieht in Deutschlands Umgestaltung einen Schlüsselfaktor der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist für ihn die zentrale Weichenstellung für Frieden und wirtschaftlichen Aufstieg, aber auch für die Ost–West-Spaltung des Kontinents. Am Ende des Buches analysiert Kershaw die neuen Krisen. Er berichtet vom jugoslawischen Bürgerkrieg und über den Irakkrieg, kommt über die Finanzkrise und Flüchtlingskrise zum Brexit. Seines Erachtens alles Folgen von Fehlentscheidungen, wozu auch die Russlandpolitik und die Ostausdehnung der Nato gehören, die wiederum die aggressiven Reaktionen Putins auslösten und zu einem neuen gefährlichen Brandherd in der Ukraine führte. Der Irakkrieg habe den islamischen Terrorismus befördert und zur Destabilisierung des Nahen Ostens beigetragen, was wiederum Ausgangspunkt für den syrischen Bürgerkrieg war, der eine bis dahin unbekannte Fluchtbewegung auslöste. Der aufflammende Nationalismus und die Fremdenfeindlichkeit innerhalb Europas, erfüllen ihn mit Sorge für die Wertegemeinschaft Europa. Kershaws Buch endet mit folgendem Ausblick: „Europa hat sich in einen Kontinent von Zivilgesellschaften verwandelt, in denen in diametralem Gegensatz zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Militär in der Innenpolitik kaum noch eine Rolle spielt, was erheblich zur Festigkeit des demokratischen Fundaments beiträgt. Es hat, trotz aller Schwierigkeiten, Spannungen und Frustrationen, gelernt, Probleme durch Kooperation und Verhandlungen zu lösen, anstatt zu militärischen Mitteln zu greifen. Und es besitzt in seiner Mitte als mächtigstes und einflussreichstes Land ein friedliches, internationalistisches Deutschland, das den größten denkbaren Gegensatz zu dem Deutschland darstellt, das in den 1930er und 1940er Jahren die Menschenrechte mit Füßen trat und die europäische Zivilisation nahezu vernichtete. Europa hat für die Freiheit gekämpft und sie gewonnen. Es hat einen Wohlstand erlangt, um den ihn der größte der Welt beneidet. Doch sein Streben nach Einigkeit und einem klaren Identitätsgefühl geht weiter. Was in den kommenden Jahrzehnten geschehen wird, kann niemand wissen. Die einzige Gewissheit ist die Ungewissheit.“ Ein sehr lesenswertes Buch, das alle Länder, auch diejenigen Osteuropas, genauestens beschreibt und auch vor kulturellen Entwicklungen nicht Halt macht. Fast schon zu viel für ein einziges Buch. Ernst Reuß Ian Kershaw, Achterbahn, Europa 1950 bis heute, aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, Originaltitel: Roller-Coaster. Europe 1950-2017, Originalverlag: Allen Lane, Hardcover mit Schutzumschlag, 832 Seiten, 15,0 x 22,7 cm, mit Abbildungen, Hardcover, € 38,00
Als der ORF-Auslandskorrespondent Ernst Gelegs den Nachlass einer „Erbtante“ sichtet, die er kaum kannte, stößt er auf eine Schachtel mit fast 100 Briefen. Die Briefe sind ein sehr spannendes, detailliertes Zeitdokument einer bewegten Familiengeschichte und geben Einblick in das Leben eines jungen Frontsoldaten im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum des Buches steht der Bruder der „Erbtante“ Leonhard Wohlschläger, Sohn eines renommierten Wiener Architekten. Offenbar ein „Bruder Leichtfuß“, der das Leben genießt und sich nicht um das Morgen schert. Der Krieg kommt ihm gerade recht, da seine Schuldner ihm hartnäckig auf den Fersen sind.
Anfangs als Kraftfahrer in Belgien und Frankreich, genießt er das Leben eines Besatzers und schickt teure Waren nach Hause. Später als Schreiber in der Sowjetunion, kurz hinter der Front, vergeht ihm die „Leichtigkeit des Seins“, obwohl er - im Gegensatz zu den Soldaten an der Front - es auch dort immer wieder schafft, genügend für sich abzuzweigen. Mit den armen Menschen vor Ort kann er allerdings keine Geschäfte machen, sie haben nichts was es lohnt nach Hause zu schicken. Die Nazipropaganda verfängt auch bei dem jungen vorankommen wollenden Soldaten. Er hat wenig übrig für die „Kommunisten“ und ist wohl auch in den Verbrechen vor Ort involviert. Gelegs veröffentlicht einen Teil von Leonhards Briefen unter dem Titel „Liebe Mama, ich lebe noch!“ und versucht sich in den jungen Frontsoldaten Wohlschläger hineinzuversetzen. Zudem kommentiert er an Hand der Datierung der Briefe die Geschehnisse in der Heimatstadt Wien und den Kriegsverlauf. Gelegs bezeichnet dabei General Paulus, der letztendlich gegen Hitlers Willen mit den Resten seiner aufgezehrten Truppe vor Stalingrad kapitulierte, mehrfach als Hitlers feigster General, der von den „Kommunisten“ instrumentalisiert wurde. Dieses Urteil kann man durchaus differenzierter fällen und es spricht nicht unbedingt für eine tiefergreifende Recherche, was auch das kurze Literaturverzeichnis zeigt. Möglicherweise ist die Einschätzung bezüglich Paulus auch persönlichen Befindlichkeiten des Autors geschuldet, denn sein Großvater kämpfte in Stalingrad und überlebte. Interessant wäre auch gewesen zu erfahren, wo genau Leonhard Wohlschläger im Krieg gewesen ist, was bei entsprechenden Auskunftsbegehren sicherlich detailliert in Erfahrung hätte gebracht werden können. Trotzdem ein interessantes Büchlein, das unter seinem etwas abrupten Schluss leidet. Der Briefwechsel endet im Juni 1944. Über den weiteren Werdegang des jungen Soldaten erfährt man nur, dass er wohlbehalten nach Wien zurückgekommen ist und offensichtlich auch nach dem Krieg ein „Hallodri“ geblieben ist. Ernst Reuß Gelegs, Ernst, Liebe Mama, ich lebe noch!: Die Briefe des Frontsoldaten Leonhard Wohlschläger, Kremayr & Scheriau, Wien 2019, Hardcover, 208 Seiten, 22,00 €
Siegfried Lichtenstaedter wurde 1865 im fränkischen Baiersdorf bei Erlangen geboren. Nach dem Studium der Orientalistik und der Jurisprudenz war er zuletzt als Oberregierungsrat in der bayrischen Finanzverwaltung in München tätig. Als Jude war er auch in seinem Amt dem alltäglichen Antisemitismus seiner Mitbürger ausgesetzt. 1942 starb der inzwischen Deportierte in Theresienstadt, angeblich an Altersschwäche.
Als Jude war er auch in seinem Amt dem alltäglichen Antisemitismus seiner Mitbürger ausgesetzt. 1942 starb der inzwischen Deportierte in Theresienstadt, angeblich an Altersschwäche. Lichtenstaedter schrieb viele politische Analysen und Satiren, die er als Beamter nur unter den Pseudonymen Mehemed Emin Efendi, Ne'man und U.R. Deutsch veröffentlichen konnte. Götz Aly, der nun Teile seiner wichtigsten Schriften herausgegeben und kommentiert hat, bezeichnet ihn als „Prophet der Vernichtung“, denn Lichtenstaedter warnte frühzeitig vor einer drohenden Vertreibung und Vernichtung der Juden. Bereits den Genozid an den Armeniern hatte er lange vorher vorausgesagt. Als überaus kluger Chronist beschäftigte sich Lichtenstaedter intensiv mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit. Götz Aly zeigt, wie aktuell seine Texte über Antisemitismus, Völkermord und Hass heute wieder sind. Ein kurzer Ausschnitt: „Der erledigte Posten des Gerichtsvollziehers war neu besetzt worden - und mit wem? Man höre und staune: mit einem Juden, wogegen die übrigen Bewerber - zwölf Arier - übergan- gen wurden. Seit der Erschaffung der Welt war es das erste Mal, dass der Gerichtsvollzieher in Anthropopolis ein Jude war; die öffentliche Meinung - mit Ausnahme derer, die in sträflicher Gleichgültigkeit gegenüber den heiligsten Fragen der Menschheit dahinvegetierten - geriet in die lebhafteste Bewegung. (…) Doch dies waren noch nicht die ernstesten Bedenken. Die grundlegende, prinzipielle Frage lag tiefer: Im Großherzogtum Anthropopolitanien gab es - wohl deswegen, weil die Bevölkerung wohlhabend und nicht gerade prozesssüchtig war - nur einen Gerichtsvollzieher. Da nunmehr dieser eine Gerichtsvollzieher Jude war, so konnte man mit Fug und Recht darauf hinweisen, dass das Gerichtsvollzieheramt zu hundert Prozent in jüdischen Händen war, während die jüdische Bevölkerung nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung betrug, so dass das normale Zahlenverhältnis der Juden in der Gerichtsvollzieherei genau um das Hundertfache überschritten war. Nach der anthropopolitanischen Verfassung sollten die Juden mit der übrigen Bevölkerung gleichberechtigt sein. Die Gerichtsvollzieherei in jüdischen Händen bedeutete aber - wie selbst der schlechteste Rechenkünstler in Anthropopolis bald herausfand - hundertfach höhere Rechte!! Nein, diese Berechnung war noch weit zu niedrig. Die anthropopolitanischen Mathematiker versäumten nicht, die öffentliche Meinung daran zu erinnern, dass die arische Bevölkerung mit 0 - sage und schreibe null - in der Gerichtsvollzieherei vertreten sei, und dass die Zahl 1 dividiert durch 0 keineswegs 100, sondern die Unendlichkeit ergebe, sonach die Juden in einem wahrhaft unendlichen Maße bevorzugt, die Arier in gleichem Maße zurückgesetzt seien. In weiten Kreisen gewann die Überzeugung Boden, dass hier große, versteckte Pläne des internationalen Judentums zugrunde liegen müssten.“ Das Lachen über seine überaus gelungen Satiren kann einem im Hals stecken bleiben, wenn man darüber nachdenkt, dass er diesem Alltagsantisemitismus täglich ausgesetzt war und offensichtlich sehen konnte, was auf ihn zukam. Früh erkannte er die Gefahren des oft schnell hervorbrechenden Minderheitenhasses. Seine Satiren lesen sich, als seien sie als Mahnung für heute geschrieben. Interessant wäre es zu wissen, was Lichtenstaedter heutzutage zum Alltagsrassismus von deutschen Biedermännern zu sagen hätte. Seine Schriften gibt es inzwischen auch in der Digitalen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.digitale-sammlungen.de/index.html?projekt=1533642471 Ernst Reuß Siegfried Lichtenstaedter, Prophet der Vernichtung. Über Volksgeist und Judenhass, Herausgegeben und mit begleitenden Essays von Götz Aly, Fischer Verlag, 2019, 288 Seiten, Hardcover 22,00 €
Hitler und Eva Braun begingen am 30. April 1945 Selbstmord und einige Getreue wie Joseph Goebbels samt Ehefrau mit ihren sechs Kindern folgten ihnen in den Tod. Doch viele aus dem engsten Führerkreis blieben am Leben und gedachten ihres Führers auch noch nach dem Krieg. Ihre öffentlichen Aussagen trugen dazu bei, den Blick der Nachwelt auf Hitler bis heute zu prägen. In ihrem Resümee schreibt die Autorin des Buches „Hitlers Hofstaat“:
„Fast alle früheren Freunde und Mitarbeiter Hitlers leugneten dabei, von den Massenverbrechen des NS-Regimes gewusst zu haben, und stilisierten sich selber zu Opfern einer ungerechten Säuberungspolitik der Siegermächte. (…) Von ihrer Umdeutung der Ereignisse wäre allerdings kaum öffentlich Notiz genommen worden, wenn nicht die Geschichtswissenschaft ihre Entlastungserzählungen aufgegriffen und ihnen zu wissenschaftlicher Seriosität verholfen hätte. Mit ihren Memoiren und Zeitzeugenaussagen prägten sie - nicht zuletzt mit Hilfe der Medien - über Jahrzehnte hinweg das Bild Hitlers und seines privaten Umfeldes in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit. Die Mitglieder des «Schicksalskreises››, wie Hitlers Heeresadjutant Gerhard Engel ihn nannte, erlangten damit eine Deutungsmacht über ihre eigene Geschichte, die bis heute nachwirkt.“ Die Historikerin Heike B. Görtemaker will in ihrem Buch zeigen, wie wichtig sein privates Umfeld für Hitler war. Sie beschreibt die einzelnen Mitglieder seines „Hofstaats“, bestehend aus fanatischen Anhängern und loyalen Förderern. Die meisten blieben bis zu ihrem Tod überzeugte Nationalsozialisten und zeigten auch keine Reue. Um sich zu rechtfertigen, schufen sie sich selbst entlastende Legenden für die Öffentlichkeit. So wurde Hitler als unnahbarer beziehungsunfähiger Einzelgänger ohne Privatleben dargestellt, der keine wirklichen Freunde gehabt habe. Dem widerspricht die Autorin jedoch vehement. Der einflussreichste Geschichtsklitterer aus der Entourage Hitlers sei sein enger Freund und Lieblingsarchitekt Albert Speer gewesen. Tatsächlich hatte sich Hitler auf dem Berghof am Obersalzberg sogar einen regelrechten „Hofstaat“ geschaffen. Der bestand aus Dienern, Leibwächtern, Köchen, Sekretärinnen, Ärzten und persönliche Adjutanten. Zum inneren Zirkel gehörten etliche Frauen, allen voran Eva Braun. Über sie und deren Beziehung zu Hitler hatte Görtemaker zuletzt ein erfolgreiches und viel verkauftes Buch geschrieben. Das neue Buch enthält jedoch wenig Neues. Dagegen viel Klatsch und Tratsch und zu viel Spekulation, wer was mit wem und warum hatte. Welchen Einfluss dieses Umfeld auf Hitler und dessen Verhalten sowie auf seine Entscheidungen hatte, wird nicht aufgeklärt. Görtemakers Kritik an den Nachkriegshistorikern könnte daher auch auf sie selbst zutreffen. Ernst Reuß Görtemaker, Heike B., Hitlers Hofstaat, Der innerer Kreis im Dritten Reich und danach; Beck Verlag, München 2019, 528 S., mit 62 Abbildungen, Hardcover, 28,00 € Heute vor 95 Jahren, am 01. April 1924, wurde Adolf Hitler zu 5 Jahren Festungshaft verurteilt. Er war nach seinem gescheiterten Putschversuch vom 9. November 1923 - zusammen mit anderen Angeklagten (siehe Bild vom Tag der Urteilsverkündung) – des Hochverrats beschuldigt worden. Festungshaft war ein privilegierter Freiheitsentzug, denn Festungshäftlingen billigte man eine „ehrenhafte Gesinnung“ zu. Hitler saß seine Festungshaft in Landsberg am Lech ab. Hitler wurde bereits am 20. Dezember 1924 vorzeitig entlassen. In der Haft entstand „Mein Kampf“ und erschien im Juli 1925.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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