Eine spannende historische Geschichte aus dem Agentenmilieu im Kalten Krieg und ein spannender Kriminalfall ist der Fall Helmut Scheithauer. Er war Leiter einer Unterabteilung beim militärischen Nachrichtendienst der DDR. Dort führte er zwei Studenten aus Nicaragua, die er kurz nach dem Mauerbau heimtückisch mit einem Genickschuss aus seiner Dienstpistole umbrachte, um sich ihren Agentenlohn in die eigene Tasche zu stecken. Mit dem unterschlagenen Geld und falschen Pässen ging er danach in West-Berlin shoppen, um sich etwas zu gönnen. Als sie verschwunden waren, mimte er den Ahnungslosen. Den Kollegen erzählte er, die beiden hätten sich wohl ins westliche Ausland abgesetzt. Im September 1961 wird nahe der Autobahn Berlin – Leipzig im Wald bei Groß-Marzehns eine nicht identifizierbare Leiche und ein Jahr danach etwa zweieinhalb Kilometer vom ersten Fundort entfernt eine weitere Leiche gefunden. Erst zwei Jahre später wird die Identität der beiden an der Technischen Hochschule München eingeschriebenen Studenten mit Hilfe von Westkollegen der Kriminalpolizei geklärt. An der im Westen hergestellten Kleidung der einen Leiche befand sich noch ein Etikett der Wäscherei. Fünf Jahre nach der Tat wird der Familienvater Scheithauer verhaftet, zum Tode verurteilt und 1967 hingerichtet. Seine Familie wusste nicht, warum. Zu DDR Zeiten wurden die Akten des Geschehens unter Verschluss gehalten. Nur wenige ehemaligen Kollegen wussten um die tatsächlichen Ereignisse
Leider möchte der bekannte Autor Jürgen Schreiber zu viel und versucht sprachlich zu überzeugen. Dies gelingt im keineswegs. Gerade durch die sprachlichen Ausschweifungen ist das Buch schwer zu lesen. Fakten und Fiktion geraten durcheinander und sind schwierig zu entwirren. Weniger wäre in der Tat mehr und besser gewesen. Ernst Reuß Jürgen Schreiber: Ein Verräter wie er. Die Geschichte eines kaltblütigen Doppelmords und wie ihn die Stasi vertuschte. Droemer Verlag, München. 336 Seiten, 19,99 Euro.
Spannend wie ein Krimi liest sich die Geschichte über Winfried Freudenberg, dem letzten Maueropfer in Berlin. Caroline Labusch hat die Geschichte zusammen mit Freunden recherchiert und das Ganze nun aufgeschrieben. Bereits 2015 hatte Labusch zusammen mit ihren Freunden ein Theaterstück zum Thema auf die Bühne gebracht; es hieß „Der Ballon – ein deutscher Fall“. Das Buch mit dem Titel: „Ich hatte gehofft, wir können fliegen“ ist die Geschichte einer Suche, die sie detailliert beschreibt. Gefunden wurden von ihr und ihren Freunden sowohl Zeitzeugen als auch die bisher öffentlichkeitsscheue Ehefrau des Toten. Sabine Freudenberg war damals 25 als sie mit ihrem 32-Jährigen Mann hatte flüchten wollen.
Das Ehepaar Freudenberg plante eine Ballonflucht, wie sie zwei Familien aus Thüringen gelang, deren Geschichte kurz danach in Hollywood verfilmt wurde. Den Ballon bauten die Freudenbergs aus Plastikfolien in ihrer Zwei-Raum-Wohnung am Prenzlauer Berg. Doch während damals in Thüringen die Flucht in einem selbst gebauten Heißluftballon glückte, ging diesmal alles schief. Da die Winde günstig wehten beschlossen Winfried und Sabine in der Nacht zum 8. März 1989 zu fliehen. Mit ihrem Trabi und dem 13 Meter langen Ballon fuhren sie gegen Mitternacht nach Blankenburg im Norden Berlins zu einer Kleingartenkolonie und zapften die dortige Gasreglerstation des VEB Energiekombinat an. Winfried war dort Ingenieur für Systementwicklung und hatte einen Schlüssel. Langsam füllt sich die Ballonhülle mit Erdgas. Das dauerte. In der abgelegenen Kleingartenkolonie, ungefähr acht Kilometer von der Mauer entfernt, war es wenig wahrscheinlich, dass sie entdeckt werden. Dennoch geschah es. Ein Kellner, der gegen 1.30 Uhr von seiner Nachtschicht nach Hause kommt, sah den Ballon und hatte nichts Besseres zu tun als sofort die Volkspolizei zu alarmieren. Um 2 Uhr stand ein Streifenwagen vor dem Grundstück. Überstürzt mussten die Freudenbergs starten. Da der Ballon nur halb gefüllt ist, startet Winfried allein. Die letzte Minute vor dem Abflug bleibt mysteriös. Sabines Sitz wurde abgeschnitten - Winfried saß auf einem Stück eines Besenstiels. Der Ballon flog viel höher als vorgesehen, zeitweise auf über 3000 Meter, und viel länger als geplant. Nicht eine halbe Stunde, sondern über fünf Stunden schwebte er über das West-Berliner Stadtgebiet, ohne landen zu können. Über Tegel fiel eine Tasche in die Tiefe, nich lange danach Winfried selbst. Gegen 7.30 Uhr stürzt er in Zehlendorf vom Himmel, kurz danach wäre er wieder über DDR-Gebiet gewesen. Die Absturzursache blieb letztendlich ungeklärt. Jede Flucht war ein Wagnis auf Leben und Tod. Nicht lange zuvor hätte Winfried bei einem Verwandtenbesuch in der Bundesrepublik bleiben können. Ob er wegen seiner Frau wieder zurückkam oder den Ballonflug kommerziell ausschlachten wollte bleibt letztlich offen. Es gibt bei den Zeitzeugen verschiedene Perspektiven und Erinnerungen sowie mehrere, sich widersprechenden Varianten. Acht Monate später wird die Berliner Mauer geöffnet. Winfried Freudenberg war ihr letztes Todesopfer, andere Grenzabschnitte forderten weitere Opfer. Ernst Reuß Caroline Labusch, Ich hatte gehofft, wir können fliegen, Die Geschichte einer tragischen Flucht im Frühling 1989, Penguin Verlag, München 2019 Paperback, 304 Seiten, € 14,00
Bundesarchiv, Bild 183-R77793 / CC-BY-SA 3.0 Historische Originalbeschreibung: „Die erbitterten Kämpfe um Berlin sind am 2. Mai 1945 beendet. Die Rote Armee hat gesiegt. Zwei Rotarmisten in der Neuen Reichskanzlei in der Voßstraße, zu ihren Füßen das Symbol der faschistischen Macht, der Adler mit dem Hakenkreuz.“
„Liebe Zina!
Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll, so ein Durcheinander ist im Kopf. Am 7. Mai um halb sieben abends funkelten Hunderte Explosionen der Luftabwehrgeschosse über Berlin, Hunderte Raketen flogen in den Himmel, um der ganzen Welt den Sieg zu verkünden. Das verfluchte Deutschland liegt uns zu Füßen – es hat kapituliert. Darüber hat keiner gesprochen, das Radio berichtete uns darüber erst in der Nacht zum 9. Mai, aber alle haben instinktiv gefühlt, daß Schluß ist. Was dann los war, ist unmöglich wiederzugeben. Aus den hintersten Ecken des Waldes, von den Dächern der Häuser der Stadt, von den Lichtungen flogen eine nach der anderen Raketen in den Himmel, man schoß aus allen Waffenarten, von den Kanonen und Maschinengewehren bis zu den Pistolen. Irgend etwas Unklares steckte noch in der Brust – vielleicht ist es noch kein voller Sieg! [...] Um drei Uhr nachts wurden wir mit Gefechtsalarm geweckt [...], in zwei, drei Minuten waren wir alle eingetreten beim Oberst im Zimmer. Auf dem Tisch standen schon Gläser mit Wein. Weiter ist es schwer, ohne Tränen zu erzählen: Wir schrien aus vollem Soldatenhals „Hurra!“ – viele fingen sogar sofort zu weinen an, sie drückten ihre von unaufhaltsam fließenden Tränen nassen Gesichter aneinander, sie küßten sich zwei-, dreimal. Der Oberst holte eine Schachtel Papirosy aus dem Koffer, die er einmal unter Eid reingelegt hatte – im Kampf zu sterben oder sie beim Sieg zu öffnen. Und jetzt ist diese Stunde gekommen [...]. Und nun bin ich in Berlin, in dieser Stadt – in der Küche des Krieges – als Sieger, als Herr, als stolzer Rächer für alles, was sie uns brachten. Gerade hier in Berlin fiel die schicksalhafte Entscheidung des Krieges. Darauf werden wir ewig stolz sein, daß wir und kein anderer als erster in diese Stadt kamen. Jetzt ist es schon bald soweit, daß wir uns wiedersehen. Bald werde ich meine Lieben, die soviel ertragen mußten in diesen Jahren, umarmen. Ich gratuliere dir, meine Liebe, zum Sieg. Warte, ich komme bald! Valentin.“ Aus: Scherstjanoi, Rotarmisten schreiben aus Deutschland, 2004, S. 175.
Am frühen Morgen des 7. Mai 1945, angeblich um 2 Uhr 41, unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Namen des deutschen Oberkommandos die Gesamtkapitulation aller Streitkräfte im Alliierten Hauptquartier in Reims. Bis 23 Uhr am darauffolgenden Tag waren alle Kämpfe einzustellen. Die amerikanischen und britischen Alliierten erklärten daraufhin den 8. Mai zum „VE-Day“, dem „Victory in Europe Day“, also zum Tag des Sieges in Europa. (…)
Um den Beitrag der Roten Armee an der Befreiung Europas vom NS-Regime zu würdigen und um eine persönliche Unterschrift des Inhabers der Kommandogewalt zu haben, wurde an diesem Tag die Kapitulation nochmals im Sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst unterzeichnet. Hier ratifizierten hochrangige deutsche Militärs, wie der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel, die Kapitulationsurkunde. Dies geschah kurz vor, beziehungsweise kurz nach null Uhr in der Nacht vom 8. zum 9. Mai. Es hing ganz davon ab, welche Zeit man zugrunde legte. Sommerzeit, normale Zeit oder die Zeit der Siegermächte. Nach westeuropäischer Zeit war es 23 Uhr 15, nach der in Deutschland geltenden mitteleuropäischen Sommerzeit war es bereits 0 Uhr 15, und nach Moskauer Zeit war es schon 2 Uhr 15. Die sowjetische Bevölkerung erfuhr erst am 9. Mai von der Kapitulation. Seitdem gilt dort der 9. Mai als „День Победы“, also als der Tag des Sieges. Trotz aller Legenden hatte dies allerdings nichts mit den verschiedenen Zeitzonen, sondern lediglich damit zu tun, dass sich Stalin schlichtweg weigerte die Kapitulation bereits in dieser Nacht zu verkünden. Es ist unerheblich, auf welches Datum man die Kapitulation des „Dritten Reiches“ nun datiert. Für Europa, Deutschland und natürlich auch für Berlin begann eine neue Zeitrechnung. Ob der Tag der Befreiung, der von vielen als der „Tag der Niederlage“ angesehen wurde, nun am 8. oder 9. Mai begangen wird, ist egal. Mit der Kapitulation konnte der Wiederaufbau beginnen. Und das geschah auch. (aus: Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern, S. 11 ff.)
Das nördlich von Winniza errichtete Führerhauptquartier namens „Werwolf“ wurde unter dem Decknamen „Eichenhain“ von Arbeitern der Organisation Todt und von ortsansässigen Ukrainern 1942 errichtet. Die Anlage bestand aus Holzbaracken und Bunkern, umgeben von Stacheldrahtzaun und Verteidigungsstellungen. Auch ein Teehaus, ein Friseur, eine Sauna, ein Kino sowie ein Schwimmbecken standen den in der Mehrzahl Herren und ihren Angestellten zur Verfügung. Hitler war jedoch nur selten vor Ort, denn er hielt sich meist im Führerhauptquartier Wolfsschanze im heutigen Polen auf.
Auch jüdische Zwangsarbeiter sollen zu den Arbeiten beim Aufbau des Führerhauptquartiers herangezogen worden sein. Als diese Arbeitskräfte nicht mehr gebraucht wurden, sollen sie erschossen worden sein. Diesbezügliche Ermittlungen der Staatsanwaltschaft führten jedoch zu keinem Ergebnis. Trotzdem ist es eher wahrscheinlich, dass dem so war. Hitler zog vom 16. Juli bis 31. Oktober 1942 dorthin, um näher an der Front zu sein. „Werwolf“ lag in einem Wald an der Straße nach Shitomir. Die Arbeits- und Wohngebäude Hitlers befanden sich abseits der Straße und waren durch hohe Drahtzäune gesichert. Ein Flugplatz war in unmittelbarer Nähe. Unweit der Stadt betrieb Himmler in seiner Funktion als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums die Einrichtung einer mit zunächst 10 000 Volksdeutschen zu besiedelnden Kolonie unter dem Namen „Hegewald“, die als einer der Kerne der zukünftigen deutschen Siedlungen in der Ukraine gedacht war. Es gab ein Kriegsgefangenenlager und viele Zwangsarbeiterlager in Winniza, in denen meist unmenschliche Bedingungen herrschten. Auch außerhalb dieser Lager kam es zu Erschießungen; im September 1941 sowie im Frühjahr 1942 sogar zu Massenerschießungen. 1939 hatten noch 33 150 Juden in Winniza gelebt, immerhin 35,6 % der Gesamtbevölkerung. Als die Deutschen am 19. Juli 1941 die Stadt einnahmen waren noch 18 000 jüdische Bürger in der Stadt, der Rest war geflohen. Schätzungen gehen davon aus, dass am 19. September 1941 mehr als 10 000 Juden durch das 45. Reserve-Polizeibataillon erschossen wurden. Am 15. April 1942 wurden noch einmal knapp 5 000 Juden kurz vor den Toren der Stadt Winniza umgebracht. Ungefähr 1 000 als „unabkömmlich“ geltende Handwerker ließ man vorerst noch am Leben. Unmittelbar nach dem Krieg sollen gerade noch 74 Bürger jüdische Überlebende gezählt worden sein. Heute ist nur noch 1 % der Bevölkerung jüdischen Glaubens. (Aus: Ernst Reuß, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, Berlin 2019, Seiten 80 ff.) Im März 1944 wurde das Führerhauptquartier von der Roten Armee eingenommen. Zuvor hatten deutsche Soldaten die Bunkeranlagen gesprengt. Im Juli 2011 wurde dort eine historische Gedenkstätte als Zweigstelle des Regionalmuseums Winniza eingerichtet. Anbei einige Bilder von einem Besichtigungsbesuch Ende 2017. Ernst Reuß
„Mindestens 5 Millionen Menschen verhungerten in der ganzen Sowjetunion zwischen 1931 und 1934, darunter mehr als 3,9 Millionen Ukrainer. Wegen ihres Ausmaßes wurde die Hungersnot von 1932/33 (…) als »Holodomor« bezeichnet, eine Zusammensetzung der ukrainischen Wholodörter (Hunger) und mor (Tötung, Mord).“, schreibt Anne Applebaum im Vorwort zu ihrem neuen Werk: „ROTER HUNGER. Stalins Krieg gegen die Ukraine.“ Die in Washington geborene Historikerin, die für ihr 2003 erschienenes Buch „Der Gulag“ den Pulitzer-Preis erhielt, ist mit dem ehemaligen polnischen Außenminister verheiratet und lebt inzwischen in Warschau.
Ihr sehr detailliertes Buch beginnt 1917 mit der ukrainischen Revolution; den eigentlichen Holodomor thematisiert sie erst ab der Mitte des Buches. Der Begriff „Holodomor“ impliziert eine menschengemachte Hungersnot und die sei die Folge von brutaler Repression gegen den ukrainischen Nationalismus gewesen. Bis zum Ende der Sowjetunion wurde der Holodomor verschwiegen. Nun versucht die Ukraine die internationale Anerkennung der Hungerkatastrophe als Genozid zu erreichen. Bereits in den 20er Jahren hatte es in der gesamten Sowjetunion eine große Hungersnot gegeben. Genauso wie ein Jahrzehnt später aßen die Bauern Hunde, Katzen, Ratten und es gab Fälle von Kannibalismus. Niemand hat die Toten genau gezählt. Eine sowjetische Statistik kam auf fünf Millionen Tote. Getreide wurde von Komitees der Dorfarmut zwangseingezogen, die laut Autorin von Lenin den Befehl bekamen: „Nehmt in jedem Dorf zwischen 15 und 20 Geiseln, und wenn die Abgabequoten nicht erreicht werden, stellt sie an die Wand.“ Laut seiner Anweisungen wurden auch solche Vorräte beschlagnahmt, die für den Eigenverbrauch und die Aussaat des nächsten Jahres benötigt wurden. Das und das Fehlen von Arbeitskräften sollte sich nach einer Dürre im Sommer 1921 rächen. Die eingelagerten Getreideüberschüsse, auf die früher bei Schlechtwetterperioden zurückgegriffen werden konnte, waren alle weg. In einem äußerst wichtigen Punkt unterschied sich nach Ansicht von Applebaum diese erste sowjetische Hungersnot, die sich im „Kleinen“ Ende der 20er Jahre noch einmal wiederholen sollte, jedoch von der, die ein Jahrzehnt später folgte: der Massenhunger wurde nicht geheim gehalten. Man versuchte den Hungernden zu helfen und ließ sogar fremde Hilfe ins Land. Das war später beim Holodomor anders. Besonders betroffen waren vor allem die Bauern auf dem Land. Eine Zeitzeugin erinnerte sich: „Frösche haben nicht lange überdauert, die Leute fingen sie alle. Alle Katzen wurden gegessen, die Tauben, die Frösche; die Leute aßen alles.“ Andere im Buch zitierte Zeitzeugen erinnern sich an Kannibalismus und an Menschen, die nicht davor zurückschreckten, die eigenen Kinder für diesen Zweck zu töten. Stalin hatte Maßnahmen zur beschleunigten Industrialisierung der Sowjetunion beschlossen und begann mit der Zwangskollektivierung der Bauern, die in drei Kategorien eingeteilt wurden: „Kulaken“ (wohlhabende Bauern), Serednjaki (Mittelbauern) und Bednjaki (arme Bauern). Letztendlich galt aber jeder als „Kulak“, der mit der Zwangskollektivierung nicht einverstanden war. „Kulaken“ galten als Feinde und Verräter. Sie verloren alle Eigentumsrechte und sowohl ihre Geräte als auch ihr Vieh konnte straflos beschlagnahmt werden. Bei der Suche nach versteckten Getreidevorräten kam es zu brutalen Plünderungen und mindestens 100 000 „Kulaken“ wurden in den Gulag verschleppt. Sie sollten später als Arbeitskräfte fehlen. Für Stalin waren die Hungernden keine Opfer, sie waren Täter und an ihrem schrecklichen Schicksal selbst schuld. Später sollte dasselbe für sowjetische Kriegsgefangene gelten. Die ukrainische Geheimpolizei ließ Hungerflüchtlinge erschießen und konfiszierte deren Lebensmittelvorräte und Vieh. Die Bewertung dieser Katastrophe ist umstritten. Wurde die Hungersnot durch die Politik Stalins vorsätzlich verursacht wurde, um den Widerstand der Ukrainer zu brechen, oder war die Katastrophe den Missernten und der Zwangskollektivierung geschuldet? Die Autorin schließt sich der ersten Meinung an und schreibt: „Schritt für Schritt setzte die Sowjetführung mit Befehlen eine Hungersnot innerhalb der Hungersnot in Gang – eine Katastrophe, die sich speziell gegen die Ukrainer und die Ukraine richtete.“ Unbestritten jedenfalls ist, dass auch die von Stalin befohlene menschenverachtende, brutale und repressive Politik Grund für den Hunger war. In der Ukraine ist das Angedenken des Holodomor seit der Lossagung von der Sowjetunion ein Hauptthema, das auch politisch instrumentalisiert wird. Die Beschäftigung mit den stalinistischen Verbrechen ist weit intensiver als mit denen, die im Namen von Adolf Hitler begangen worden sind. Man kann angesichts der Repressalien in der Sowjetära diese Sichtweise durchaus verstehen. So wurden im 2. Weltkrieg deutsche Soldaten von Teilen der ukrainischen Bevölkerung freundlich als Befreier begrüßt, nicht wissend, dass kurze Zeit später ein „Hungerplan“ existierten würde, mit dem die „slawischen Untermenschen“ ausgerottet werden sollten, um Arier anzusiedeln. Den Nazis blieb dazu aber nicht genügend Zeit. Das kenntnisreiche, gut lesbare und akribische Buch trägt auf jeden Fall dazu bei, die überaus blutige Geschichte der Ukraine und auch die Auswüchse des neu erwachten Nationalbewusstseins besser begreifen zu können. Nikolai Gogol schrieb in „Betrachtung über das Werden Kleinrußlands“, wie Teile der heutigen Ukraine einst genannt wurden: „Alle Flüsse (…) fließen ins Land hinein, kein einziger nimmt seinen Weg dort, wo die Grenze verlief, so konnte keiner als natürliche Grenze gegen die Nachbarvölker dienen.“ Wie Gogol meint auch Applebaum, dass das Fehlen natürlicher Grenzen einer der Gründe gewesen sei, warum es den Ukrainern bis zum Ende des 20. Jahrhunderts – außer einige Monate im Jahre 1917 - nicht gelang, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu bilden. Sowohl von den Nachbarländern als auch während des Zweiten Weltkriegs vom Deutschen Reich, wurde die fruchtbare Ukraine als „Kornkammer“ kolonialisiert. Zum Holodomor gibt es dort inzwischen viele Denkmäler. Das eindrucksvollste Mahnmal steht in Kiew an prominenter Stelle, von der aus ein wunderbarer Ausblick über den Dnjepr und den östlichen Teil der Stadt möglich ist. Es wurde 75 Jahre nach dem Holodomor im Jahr 2008 eingeweiht. Ernst Reuß Anne Applebaum, ROTER HUNGER, Stalins Krieg gegen die Ukraine, aus dem Englischen von Martin Richter, Originaltitel: Red Famine. The Ukranian Genocide 1932-33, Originalverlag: Doubleday NY/Penguin London, Hardcover mit Schutzumschlag, Siedler Verlag, München 2019, 544 Seiten, € 36,00 |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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