Der im Oktober 1942 fertiggestellte ehemalige Luftschutzbunker am Anhalter Bahnhof war einst für 3 000 Personen ausgelegt und diente als Schutzraum für Fahrgäste und Personal des Anhalter Bahnhofs. Der Reichsbahnpräsident und seine leitenden Angestellten hatten eine eigene Etage. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Bunker schließlich für tausende von Menschen die letzte Zufluchtsstätte und war zuletzt mit über 10 000 Personen hoffnungslos überfüllt.
Heute beinhaltet das eindrucksvolle Gebäude eine über mehrere Etagen gehende Ausstellung der privat und nicht öffentlich finanzierten Berlin Story Bunker GmbH, deren rührige Macher sich der Aufgabe gestellt haben die Geschichte nicht nur Berlins erfahrbar zu machen. Hitler bringt immer noch Quote, vor allem bei ausländischen Touristen in Berlin. Dennoch eine sehr eindrückliche und ausführliche Ausstellung, deren Besuch ausgesprochen lohnenswert ist, auch für Einheimische. In der Ausstellung „How could it happen“ beziehungsweise „Hitler – wie konnte es geschehen“ geht es um die Geschichte des Nationalsozialismus und der Frage, wie es in einem zivilisierten Staat zur Diktatur kommen konnte. Man sollte sich Zeit nehmen für die Ausstellung und wenn man sie sich ernsthaft zu Gemüte führt, geht das was man da sieht an die Substanz. Im zweiten Teil des Bunkers gibt es seit kurzem das „1968 Museum“, dessen Name eigentlich sehr verkürzt, denn dort geht es um weit mehr. Die Ausstellung macht die Geschichte von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute erfahrbar. Wendepunkt war jedoch 1968, wo jungen Menschen die Transformation der Gesellschaft gelang. Man trat für die Freiheit der Unterdrückten, für gesellschaftliche Teilhabe, Selbstverwirklichung und mehr Demokratie ein. Der inzwischen etwas ältere Besucher wird sich an vieles aus den letzten Jahrzehnten erinnern. Wieland Giebel, der Ausstellungsmacher führt in einem hörenswerten Audioguide durch die ganze Ausstellung, mit vielen persönlichen und amüsanten Referenzen. Es geht darum wie Deutschland nach dem Krieg wurde was es ist und um seine erste Beatles Schallplatte, die ihn seine Eltern schenkten - frevelhafterweise natürlich mit deutschem Text. Es geht um den früheren Rosinenbomerpiloten Gail Halvorsen, der während der Berlin-Blockade mit selbst gebastelten Fallschirmen für die Kinder der Stadt Süßigkeiten abwarf. Solche Fallschirme hängen nun von der Decke des Bunkers. Es geht aber auch um die Nazis, die nach dem Krieg zurückkamen und um furchtbare Juristen, die bis in die Jetztzeit Juristengenerationen prägten, wie Palandt, Schönfelder und Maunz. Es geht um das Wirtschaftswunder, den Mauerbau sowie den Mauerfall, und es ist ergreifend wenn Wieland Giebel erzählt, wie er letzteres erlebte. Er endet mit einem versöhnlichen Resümee, obwohl Corona und Putins Krieg alles veränderte. Auch dies, aber auch andere Kriege oder Aufstände werden thematisiert. Auch für diese Ausstellung sollte man sich Zeit nehmen und vielleicht in Erinnerungen schwelgen. Ernst Reuß
Trotz Bombardierung Berlins fanden bis zum Ende des Krieges immer noch ganz normale Gerichtsverfahren statt. Da die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr funktionierender gingen noch viele Richter brav zu Fuß zu ihren Arbeitsplätzen.
Erst mit Einnahme durch die Rote Armee Ende April 1945 wurde die Rechtsprechung gänzlich eingestellt Die neuen Machthaber aus der Sowjetunion handelten jedoch schnell und bauten die Gerichte mit neuem Personal auf. Sie besetzten die Stellen der Gerichtsvorstände nicht mit linientreuen Kommunisten, sondern mit Antifaschisten aus dem eher bürgerlichen Lager. Dr. Arthur Kanger, der neue Stadtgerichtspräsident, war kein Jurist, sondern Pharmazieprofessor. Immerhin hatte er zuvor etwas mit der Justiz zu tun gehabt. Er war langjähriger Gerichtschemiker. Außerdem stammte er aus dem Baltikum und hatte mehrere Jahre in Odessa als Hochschullehrer gewirkt. Deshalb sprach er Russisch, was den Chronisten zufolge wohl der Hauptgrund für seine Ernennung gewesen sein dürfte. Außerdem wurden Dr. Günther Greffin und Dr. Wilhelm Kühnast in die führenden Gerichtspositionen berufen. Greffin war vorher als Rechtsanwalt und Syndikus bei den Firmen Schultheiss und Salamander tätig gewesen. Er hatte sich zunächst freiwillig als einfacher Transportarbeiter zur Verfügung gestellt und war während der Aufräumungsarbeiten im Mai 1945 von einem Offizier der Roten Armee in das Amtsgericht Lichtenberg geholt und kurzerhand damit beauftragt worden, im Bereich der Justiz die Aufräumungsarbeiten fortzusetzen. Greffin galt als der eigentliche Kopf des Gerichts. Als Generalstaatsanwalt wurde der 46-jährige, seit 1936 am Amtsgericht Berlin tätige frühere Zivilrichter und Ex-Sozialdemokrat Kühnast eingesetzt. Überliefert ist die Anekdote, dass Bersarin bei der Besetzung der Generalstaatsanwaltsstelle seine Berater gefragt haben soll, wer denn der „größte“ Jurist von den eilig zusammengetrommelten zukünftigen Führungskräften sei. Woraufhin ihm Kühnast benannt wurde. Bersarin soll anschließend mit den Worten „Du Generalstaatsanwalt“ auf ihn gedeutet haben. Eine schriftliche Ernennungsurkunde schien im damaligen Tohuwabohu überflüssig. Der Übersetzer hatte die Frage Bersarins statt auf die Bedeutung auf die Körpergröße bezogen. Kühnast, der die Anekdote durchaus auch im kleinen Kreis selbst verbreitet haben soll, war tatsächlich der größte Jurist weit und breit. Ernst Reuß (Vgl. „Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten“, Seite 39 ff.)
Shulamit Volkov, die emeritierte Professorin für Vergleichende Europäische Geschichte der Universität Tel Aviv, beschreibt die deutsche Geschichte aus jüdischer Sicht und zeigt jüdische Perspektiven auf Revolutionen, Kriege, Ideologien und auf die sozialen Verhältnisse.
Dies allerdings nur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Sie zeigt die Aufklärung mit den Augen Moses Mendelssohns, den Wiener Kongress aus der Perspektive jüdischer Delegationen und die Revolution von 1848 aus Sicht von Opfern antijüdischer Ausschreitungen. Genauso handhabt sie es mit der Kaiserzeit, dem Ersten Weltkrieg, der Weimarer Zeit, dem Zweiten Weltkrieg und den Nachkriegsjahrzehnten, jeweils aus der Sicht jüdischer Protagonisten. Viel umfassender ist Michael Wolffsohns Werk „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“. Der deutsche Historiker und Publizist beginnt lange vor unserer Zeitrechnung und macht einen akribischen und flotten Parforceritt durch alle Länder, in denen Juden lebten und überall ähnliche antisemitische Erfahrungen machten. Ein schön und ironisch geschriebenes, viel Wissen voraussetzend Buch, das die jüdischen „Existenzen auf Widerruf“ in den einzelnen Ländern beschreibt, in denen es immer wieder die gleichen antisemitischen Muster gibt. So wie die Legenden vom Ritualmörder, über den Gottesmörder zum finsteren Weltverschwörer, denen oft Taten und Pogrome folgten. Meist ging es nur darum unliebsame Schuldner auszulöschen. Auch religiöse Dogmen nimmt Michael Wolffsohn unter die Lupe. So schreibt er, dass früher im Judentum durchaus Schwein gegessen wurde und die Beschneidung nicht immer ein Dogma war. Wolffsohn meint aber auch, dass „Religions- und Volksbegriff, Theologie und Ethnologie, Individuum und Kollektiv im jüdischen Religionsbegriff nicht wirklich voneinander zu trennen sind.“ denn „üblicherweise hat ein Volk ein Land, lebt jedenfalls auf einem Territorium. Das war bei den Juden in den Jahren 70 bis 1948 anders. Ihre geistig-geistliche Führung wollte dieses Volk ohne Land als Volk erhalten. Mangels eines jüdischen Territoriums machten die talmudischen Weisen Blut zum besonderen Saft, zum jüdischen Bindemittel.“ Ernst Reuß Shulamit Volkov: „Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“. C.H. Beck, München 2022, 336 S., 28 € Michael Wolffsohn: „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“ Herder, Freiburg 2022, 368 S., 28 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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