Der Aufstand im Warschauer Ghetto - nicht zu verwechseln mit dem Warschauer Aufstand, mehr als ein Jahr später - war ein Aufstand der jüdischen Bewohner gegen die Liquidierung des Ghettos und ihrer Deportation ins Vernichtungslager.
Mehr als ein Jahr nach der Kapitulation der polnischen Hauptstadt Warschau war das Ghetto am 15. Oktober 1940, errichtet worden. Auf 2,4 % der Fläche Warschaus sollten zusammengepfercht über 450 000 Menschen in katastrophalen Umständen leben und sterben. Ab Juli 1942 wurde mit der so genannten "Endlösung der Judenfrage" begonnen. Täglich wurden mehr als 6 000 Menschen abtransportiert, in erster Linie nach Treblinka. Schon bis Ende 1942 sollen 300 000 der Ghettobewohner in die Vernichtungslager deportiert worden sein. Die jüdischen Widerstandsorganisationen beschlossen ein Zeichen zu setzen und sich mit Waffengewalt zu wehren. Getragen wurde der Aufstand von der Jüdischen Kampforganisation Zydowska Organizacja Bojowa (ŻOB) unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz. Unter seinem Kommando erhoben sich mehrere hundert der völlig unzureichend bewaffneten Ghettobewohner am 19. April 1943 gegen die weit überlegenen SS-Truppen. Ein aussichtsloser Kampf. Die meisten der am Aufstand Beteiligten hatten mit ihrer Familie und vielen Freunde oft alles was ihnen persönlich wichtig war verloren. Sie wollten sich nicht widerstandslos wie „Lämmer zur Schlachtbank“ führen lassen. Am 19. April 1943 gegen 3 Uhr begannen die Deutschen, das Ghetto zu umstellen um es liquidieren zu können. 850 Männer der SS marschierten drei Stunden später hinein, wo sie sofort beschossen wurden und sich wieder zurückziehen mussten. Während der rund vier Wochen dauernden Kämpfe wurden tausende Juden von SS- und Polizeieinheiten getötet oder in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nur wenigen gelang die Flucht. Das Areal, auf dem sich das Ghetto befunden hatte, wurde Häuserblock für Häuserblock gesprengt. Am 16. Mai erklärte die SS die Kämpfe für beendet und ließ am am gleichen Tag die Große Synagoge sprengen. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fertigte Marek Edelman, einer der wenigen Überlebenden und ein Kommandeur des Aufstands, eine unvollständige Liste der Aufständischen an. Jahrzehnte später hatte die polnische Journalistin Hanka Grupińska die Liste in einem Londoner Archiv wiederentdeckt. Sie machte es sich zur Aufgabe, den Lebenswegen der zumeist jungen Kämpferinnen und Kämpfer nachzugehen. Durch ihre Recherchen sind Kurzbiografien - oft mit Bildern - von 308 namentlich bekannten Aufständischen entstanden. Marek Edelmann bezeichnet es in seinem Vorwort als Friedhof aus Buchstaben. Nun liegt diese Erinnerung, die in Polen bereits 2003 erschienen war, auch auf Deutsch vor. Eine Erinnerung an diejenigen, deren Gebeine irgendwo unter dem Schutt Warschaus liegen und nie ordentlich bestattet worden waren. Zwei der Kurzbiographien betreffen Mordechaj Anielewicz und seine Freundin Mira Fuchrer, die sich zuletzt im Kommandobunker aufhielten. Am 7. Mai wurde der von den Deutschen entdeckt. Die Insassen überlebten nicht. Die genauen Umstände ihres Todes ist unbekannt, da keine überlebenden Augenzeugen bekannt sind, und die Toten auch nicht offiziell geborgen wurden. Teilweise wird von einem kollektiven Suizid ausgegangen, von anderen wird angenommen, dass die im Bunker Eingeschlossenen durch von den Deutschen eingeleitete Abgase erstickten. Anielewicz galt als mutig und war erst im 24. Lebensjahr als er starb. Die ein Jahr jüngere Fuchrer galt laut ihrer Kurzbiographie als hübsch, warmherzig, stark und geheimnisvoll. Ernst Reuß Hanka Grupińska, Die Liste lesen. Erzählungen über die Warschauer Aufständischen der Jüdischen Kampforganisation, Aus dem Polnischen von Andreas Volk, Studien zu Holocaust und Gewaltgeschichte, Band 6, Metropol Verlag, Berlin 2023, 239 Seiten, 26 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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