Prof. Dr. Jörg Kinzig ist Direktor des Instituts für Kriminologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und widerlegt in seinem klugen und gut lesbaren Essay „Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe“ gängige Klischees.
Er schreibt: „Betrachtet man die Entwicklung der Kriminalität (…) über einen längeren Zeitraum, ergibt dies keinen Anlass zu besonderer Beunruhigung. Ein Hoch mit insgesamt über 6,5 Millionen Straftaten hatten wir zuletzt in den Jahren 1993-1997 und dann wieder von 2002-2004 zu verzeichnen. (…) Im Krisenjahr 2016 waren es gut 6,3 Millionen, im Folgejahr dagegen nur 5,7 Millionen und aktuell gar nur 5,6 Millionen Straftaten. Das ist zugleich der niedrigste Stand seit 1992!“ Auch die Gewaltkriminalität ist gesunken, obwohl immer wieder das Gegenteil behauptet wird. Bei der Ausländerkriminalität gilt es kriminologische Faktoren zu berücksichtigen. Der Autor meint jedenfalls, dass „das Label Deutscher oder Ausländer (…) für kriminologische Aussagen weitgehend untauglich“ ist. Nicht die Nationalität, aber „Geschlecht, Alter, Bildung, Beruf, Einkommen“ sind dagegen kriminologische Faktoren, die es sinnvollerweise zu berücksichtigen gilt. Sexualmorde, von denen es in den 90er Jahren jährlich um die 40 gab, sind auf durchschnittlich 14,3 in der letzten Dekade zurückgegangen. Durch die Befeuerung in den (sozialen) Medien kann man diesbezüglich einen ganz anderen Eindruck haben und den haben auch viele Menschen, die sich in ihrer Furchtsamkeit nicht von Fakten beeindrucken lassen. Besonders nach spektakulären, grausamen oder gewalttätigen Verbrechen wird die Angst gerne angeheizt. Selbst dem Autor wird nach eigenem Bekunden mulmig, wenn er Aktenzeichen XY gesehen hat; eine Sendung, die seit über 50 Jahren Zuschauer fesselt und auch Furcht verbreitet. Genau erforscht ist diese Kriminalitätsfurcht jedoch nicht und Kinzig gibt selbst zu derartige Ängste zu kennen. Er hat sie beispielsweise dann, wenn er abends alleine im Wald joggt, auch wenn er weiß, dass die Wahrscheinlichkeit Opfer eines Verbrachens zu werden verschwindend gering ist. Der Begriff der deutschen „Kuscheljustiz“ ist ein Dauerbrenner nicht nur an den Stammtischen der Republik. In Deutschland sind pro 100 000 Einwohner etwa 77 Menschen im Gefängnis. In den USA sind das dagegen 650. Der Autor sieht nicht, dass es diesbezüglich einen amerikanischen Sicherheitsvorsprung gibt, auch nicht durch die Todesstrafe. Kinzigs Büchlein ist der Versuch, den irrational geführten und von manchen Politikern geschürten Debatten Fakten eines Fachmanns entgegenzusetzen, auch wenn viele Menschen faktenresistent sind. Ausgesprochen lesenswert! Sei es auch nur zur Vorbereitung auf den nächsten Stammtischbesuch. Ernst Reuß Jörg Kinzig: Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe, Orell Füssli, Zürich 2020, 124 Seiten, 10 Euro.
„Bereits am 28. April 1945 hatte der Militärkommandant der Stadt Berlin, Generaloberst Bersarin, mit dem Befehl Nr. 1 bekannt gegeben, dass die gesamte administrative und politische Macht in Berlin auf ihn übergegangen sei.
Erst vier Tage später, am 2. Mai 1945, wurde dann in Tempelhof durch den letzten deutschen Kampfkommandanten für Berlin, General Helmuth Weidling, die Kapitulationsurkunde für die Reichshauptstadt unterzeichnet. Er, der bereits zuvor die Kapitulationsbedingungen sondiert hatte, aber gemäß Hitlers Weisung nicht kapitulieren durfte, hatte in den Morgenstunden desselben Tages den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen gegeben. Nach Hitlers Suizid war er nicht mehr an dessen Durchhaltebefehle gebunden und hielt sich vernünftigerweise auch nicht mehr daran. Er gab in den Morgenstunden des 2. Mai 1945 den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen. Sein Kapitulationsbefehl lautete: „Am 30. April 45 hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm Treue geschworen hatten, im Stich gelassen [...]. Jede Stunde, die ihr weiterkämpft, verlängert die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung Berlins und unserer Verwundeten. Jeder, der jetzt noch im Kampf um Berlin fällt, bringt seine Opfer umsonst [...].“ Weidling, der kurz vorher durch ein Missverständnis von Hitler zum Tode durch Erschießen verurteilt worden war, war sofort nach Aufhebung des Urteils – erst zehn Tage vor der Kapitulation – zum Kampfkommandanten bei der Schlacht um Berlin ernannt worden. Weidling kam nach der Kapitulation Berlins in ein russisches Gefangenenlager, wo er 1955 starb. Durch diese Unterzeichnung, bereits einige Tage vor der gesamtdeutschen Kapitulation, befand sich Berlin schon zu diesem Zeitpunkt vollständig in der Gewalt der Roten Armee. Kurz nach der Kapitulation machte sich die sowjetische Besatzungsmacht sofort daran, nicht nur die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, sondern auch einen neuen Verwaltungsapparat aufzubauen. Die sowjetischen Verwalter in Berlin wurden dabei von einer Gruppe kommunistischer Emigranten aus Moskau unterstützt. Die sogenannte „Gruppe Ulbricht“, die am 2. Mai in Berlin ihre Tätigkeit aufnahm, wurde vom späteren Staatsratsvorsitzenden der DDR Walter Ulbricht geführt. Mit dem Aufbau der Verwaltung ging es hurtig voran, sodass bereits am 8. Mai im Bezirksamt Charlottenburg eine Eheschließung registriert wurde, die nach den NS-Rassegesetzen – wegen „Blutsverschiedenheit“ – niemals möglich gewesen wäre. Die sowjetische Verwaltung sorgte auch dafür, dass bereits ab dem 14. Mai die ersten U-Bahn-Züge wieder verkehrten. Bereits am 19. Mai 1945 nahm der in Berlin von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzte Magistrat seine Tätigkeit auf. Die „Gruppe Ulbricht“ hatte die Zusammensetzung beschlossen. Oberbürgermeister wurde Dr. Arthur Werner, obwohl es Bedenken in der „Gruppe Ulbricht“ gab, Werner sei zu alt und eventuell „nicht mehr richtig im Kopf“. Ulbricht selbst soll das egal gewesen sein, denn starker Mann des Magistrats sollte der Erste Stellvertreter des Oberbürgermeisters sein. Für diesen Posten hatte man das Mitglied der „Gruppe Ulbricht“ Karl Maron auserkoren, einen linientreuen Kommunisten. Dem von den neuen Befehlshabern eingesetzten Magistrat gehörten schließlich, neben sechs kommunistischen Funktionären, je zwei Sozialdemokraten und Parteilose sowie sieben dem bürgerlichen Lager zuzurechnende Mitglieder an. Eine der aus heutiger Sicht kuriosen Maßnahmen der Siegermacht war unter anderem die, dass ab dem 20. Mai 1945 die Moskauer Zeit eingeführt wurde. Nach der wohl auch als Zeichen der Macht zu wertenden Maßnahme hatten sich alle Arbeiter und Ladeninhaber zu richten. Die Geschäfte wurden jetzt nicht, wie gewöhnlich, um neun Uhr, sondern bereits um sechs Uhr geöffnet.“ (zitiert aus: Ernst Reuß, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern: Justizalltag im Nachkriegsberlin, erma, Berlin 2017, 196 Seiten, S. 10 ff.)
Der Herausgeber Wieland Giebel, der am Anhalter Bahnhof das Berlin Story Museum im alten Luftschutzbunker unterhält und für seine sehenswerte Ausstellung „Hitler – wie konnte es geschehen“ Zeitdokumente ausgräbt und auch in Buchform veröffentlicht, hat nun mit „Ich traf Hitler“, ein weiteres dieser Zeitdokumente veröffentlicht. Es enthält 45 Interviews mit Menschen, die mit Hitler in Kontakt standen. Die Interviews wurden fast 50 Jahre nach Ende des Krieges geführt, von einem sich dafür in rechtsradikalen Kreisen bewegenden Medienhändler, der offenbar das Vertrauen der Interviewten besaß.
Es sind Köchinnen, Kammerdiener, Gauleiter, Generäle und andere Wegbegleiter, die meist „nicht die geringste Ahnung“ von den Verbrechen des Nationalsozialismus hatten, oft immer noch fasziniert sind von Adolf Hitler und ihn vereinzelt in Schutz nehmen. Mitunter wird naiv behauptet Hitler hätte von den Verbrechen des Naziregimes nichts gewusst. Ein SS-Mann, der spätere Mitinhaber der Henkell & Co Sektkellerei und Sprecher der Geschäftsleitung des Bankhauses Lampe behauptet noch 1997: „Hitler wollte sicher keinen Krieg, was sollte ihm ein Krieg bringen?“ Ein anderer SS- Mann behauptet noch 1990 „Dass behauptet wird, es seien Zivilisten wahllos erschossen worden, trifft uns ganz tief in unserem Ehrgefühl. Ich wie viele andere Kameraden haben unmöglich etwas getan, was gegen die Ehre eines anständigen deutschen Soldaten ging.“ Das Buch passt in die Reihe von schon früher erschienenen Büchern des Berlin Story Verlages. Beispielsweise zu „Warum ich Nazi wurde“, wo Besinnungsaufsätze von Hitlerfans aus der Vorkriegszeit abgedruckt sind, zum Werk „Hitler. Das Itinerar“ wo auf mehr als 2400 Seiten jeder einzelne Lebenstag Hitlers aufgezeichnet ist und zu „Hitler – Das letzte Jahr, Chronologie einer Apokalypse“ wo aufs Genaueste dessen letztes Lebensjahr nachgezeichnet wird. Warum sind die Menschen Nazis geworden? Was ging in ihren Köpfen vor? Warum sind sie Hitler hinterher gelaufen? Das sind die Fragen, die all diese Bücher thematisieren. „Ich traf Hitler“ macht deutlich, wie die Ideologie des Nationalsozialismus noch nach fünfzig Jahren wirkt. Die meisten Interviewten leugnen und verharmlosen immer noch die Taten des Dritten Reiches, auch wenn so viele Jahrzehnte vergangen sind und sie es eigentlich besser wissen müssten. Ein Wort des Bedauerns sucht man vergeblich im Buch. Das Buch wird abgerundet mit der These eines Geschichtsprofessors aus Aberdeen, der glaubt aus einem der Interviews herauslesen zu können, dass Hitlers Antisemitismus schon vor dem Ersten Weltkrieg ausgeprägt war. Noch dazu glaubt er, dass möglicherweise die verschmähte Liebe zu einem jüdischen Mädchen der Grund gewesen sein könnte. Eine sehr gewagte These, deren Beweiskraft aufgrund des Alters der Zeugin, ziemlich eingeschränkt ist. Noch dazu, dass sie sich weitestgehend auf die Erzählungen ihrer Eltern beruft. Die Interviewte war damals ein 8-Jähriges Kind und machte die Aussagen 80 Jahre später. Der Verleger schreibt: „Wir hoffen, dass das vorliegende Buch ein weiterer Mosaikstein dazu ist, zu verstehen, wie es zu dem totalitären NS-System, zu Krieg und Völkermord kommen konnte.“ Das ist zu hoffen. Dafür lohnt sich jedenfalls ein Besuch im Bunker mit der über mehrere Etagen gehenden eindrücklichen und ausführlichen Ausstellung. Wer der Ansicht ist, dies könne heute nicht mehr geschehen, sollte die Ausstellung anschauen oder die Hassmails lesen, die die Macher der Ausstellung bekommen haben und immer noch regelmäßig bekommen. Heute ist leider vieles wieder salonfähig geworden, an was angesichts unserer Geschichte eigentlich nicht mehr zu denken ist. Ernst Reuß Wieland Giebel (Herausgeber), Ich traf Hitler, Die Interviews von Karl Höffkes mit Zeitzeugen, Berlin Story Verlag, Berlin 2020, 570 Seiten, 39,95 €
„Es ist überraschend, dass 75 Jahre nach Kriegsende immer noch neue, interessante Quellen zur Zeit des Nationalsozialismus und zum Ende des Zweiten Weltkriegs auftauchen.“, schreibt der Verleger Wieland Giebel in seinem Vorwort. Ausgegraben wurden von ihm die Tagebücher Curt Cowalls, eines Verlegers aus Berlin-Kreuzberg. Herausgegeben werden die Tagebücher aus den Jahren 1940 bis 1945 von einem Neffen Cowalls, der die Aufzeichnungen seines Onkels inzwischen besitzt und sich die Mühe gemacht hat, sie auszuwerten und zu kommentieren.
Cowall wurde durch die Nazis reich, für die er in seinem „Wirtschafts-Werbeverlag“ Propagandawerke unter die Leute brachte. Noch 1944 machte Cowall 100 000 Reichsmark Gewinn. Anfänglich begeistert er sich für die militärischen Erfolge. Seine Tagebucheinträge sind oft mit Zeitungausschnitten garniert, die häufig im Faksimile abgedruckt wurden. Am 12. Juli 1940 schrieb er euphorisch: „Noch ist England – der letzte Gegner – noch nicht besiegt (…) Doch niemand zweifelt, daß der Tag kommt, an dem der deutsche Adler auch dem britischen Löwen den Garaus macht.“ Die ersten Zweifel gibt es anscheinend, als Rudolf Heß plötzlich von der Nazipresse als Wahnsinniger dargestellt wird. Er schreibt: „Wenn jemand (…) gesagt hätte, R. Heß ist geistesverwirrt, wäre er sofort ins K.Z. gekommen!“ Eine ernsthafte Reflektion mit dem Hitlerregime findet in seinen Tagebüchern jedoch anfangs nicht statt. Er hofft immer noch auf den versprochenen Sieg. Zum Schluss verdammt er seine Geschäftspartner als auch ihn der Krieg erreichte und seine Kreuzberger Verlagsgebäude in der Ritterstraße 71-75 zerstört wird. Am 1. März 1945 schreibt er: „Wir sind ja mit unseren Nerven so hin mit dem Terror aus der Luft, daß wohl kein Berliner mehr sagen kann, er zittere nicht, wenn es oben in der Luft brummt.“ Ausgesprochen interessant und eindringlich seine Schilderungen der Schlacht um Berlin, in der auch der einfache Berliner um sein Überleben kämpft. Als der Untergang nicht mehr aufzuhalten ist fühlt er sich plötzlich „an der Nase herumgeführt“ und „auf das Schmählichste missbraucht“. Diejenigen, denen er anfangs bei ihren Siegen euphorisch zugejubelt hat, sind am 21. März 1945 nun „Scharlatane und Dummköpfe“. Am 28. April 1945 kommt er zur späten Erkenntnis: „Verbrecher haben uns regiert von 1933 an“ und „Deutschland hatte von 1933 an nur einen Feind - und dieser heißt Hitler!“ Überfällige Erkenntnis eines der vielen Mitläufer, der auch Parteimitglied war, was er jedoch nach dem Krieg leugnet. Das Buch endet mit einem wehleidigen Tagebucheintrag vom 1. Juni 1945: „Was kommt nun? Wie werden diesmal die Sieger mit uns umgehen, die wir doch als Volk im Ganzen gesehen diesen verfluchten Krieg nie gewollt haben?“ Ernst Reuß Peter Dörp (Herausgeber) Die Tagebücher des Verlegers Curt Cowall 1940-1945, Von Hitler in Paris bis zur Schlacht um Berlin, Berlin Story Verlag, Berlin 2020, 300 Seiten, 19,95 €
Das angesichts des 70. Jahrestags des Kriegsendes neu aufgelegte Buch „SS im Einsatz“ ist selbst ein historisches Zeitdokument.
1957 in der Hochzeit des „Kalten Krieges“ gab es die Erstauflage des Buches. Es wurde vielfach übersetzt und 1964 bearbeitet. Der Grund war, so steht es im neuen Vorwort, dass „der Neofaschismus in Westdeutschland immer mehr um sich gegriffen hat, weil sich der revanchistische und aggressive Charakter der Bundesrepublik ständig verstärkt“. Die SS hinterließ eine Blutspur quer durch Europa, die selbstverständlich nie vergessen oder verdrängt werden darf. Heutzutage wissen wir von deutlich mehr Verbrechen, vor allem nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“, das hier nur am Rande gestreift wird. Das in der DDR vor einigen Jahrzehnten erstmals herausgegebene Buch beschäftigt sich hauptsächlich mit der Bundesrepublik und der dortigen Vergangenheitspolitik, die sicherlich mehr als kritikwürdig war. Dort herrschte schon damals eine „Schlussstrichmentalität“ vor. Verständnis gab es eher für die Täter, als für die Opfer. Während Opfer des NS-Regimes um gesellschaftliche Anerkennung und Entschädigung kämpften, gab es für die Täter mitunter umfassenden Beistand. Sicherlich verdienstvoll, wenn man damals darauf hinwies, aber eben auch Ausdruck des „Kalten Krieges“. Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mich dem „Wiedererstehen der SS in Westdeutschland“. Im Schlusskapitel „Faschisten und Militaristen wieder am Hebel der Macht“ wird Walter Ulbricht zitiert, der die DDR preist, während „in Westdeutschland (…) die reaktionärsten und verderblichsten Kräfte, die Todfeinde der deutschen Nation und die Todfeinde aller friedliebenden Völker ihre blutbefleckten Hände an den Hebeln der Macht“ haben. Schade, dass in der Neuauflage der zeithistorische Kontext nicht möglichst neutral kommentiert und historisch eingeordnet wurde. Stattdessen geht es auch im Nachwort hauptsächlich um die Bundesrepublik und deren Vergangenheitsbewältigung, weniger um die SS selbst, wie es der Titel suggeriert. Dazu gibt es ein Interview mit einem MfS-Mann, der einen Täter, vor dessen Exekution am 29. Juli 1969 während eines Zeitraums von 18 Monaten verhörte. Es handelte sich um einen der Soldaten auf dem Titelbild des Buches. Auch damit soll die vorbildliche Strafverfolgung in der DDR und die mangelnde Aufarbeitung in der BRD dargestellt werden. Fast so als würde der „Kalte Krieg“ zwischen den beiden deutschen Staaten immer noch heftig toben. Ernst Reuß SS im Einsatz, Eine Dokumentation über die Verbrechen der SS, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2014, 608 Seiten, 19,99 €
Nach dem Krieg wollte niemand mehr dabei gewesen sein. Plötzlich waren die meisten Deutschen schon immer gegen die Nazis gewesen und klammheimlich im Widerstand aktiv.
Ganz anders Eva Sternheim-Peters. Sie schreibt in ihrem Buch: „Ich bin nicht mitgelaufen, sondern begeistert mitgestürmt.“ Es ist die „Lebensbeichte“ der 1925 geborenen Frau, deren Buch bereits 1987 unter einem anderen Titel veröffentlicht und nun unter dem Titel: „Habe ich denn allein gejubelt?“ überarbeitet und neu verlegt wurde. Es ist die Geschichte einer Frau aus Paderborn, die noch beim Einmarsch der Amerikaner eine überzeugte Nationalsozialistin war. Das Buch erzählt sowohl von der Verführbarkeit von Menschen, als auch von Antisemitismus und Fremdenhass in der Provinz. Parallelen zu heute sind dabei unverkennbar. Weder das Unheil der älteren Brüder – beide überzeugte Nazis – die im Krieg sterben, noch das traurige Schicksal der jüdischen Verwandtschaft und jüdischer Klassenkameradinnen hatten sie von ihrem Irrglauben abbringen können. Erst später begriff sie entsetzt, wo sie da „mitgestürmt“ war. Sie selbst schreibt in ihrem Vorwort, dass ihr Buch keine Autobiografie sei, „sondern ein subjektives Geschichtsbuch, in dem zwei Jahrzehnte deutscher Innen- und Außenpolitik mit Erinnerungen, Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen eines Kindes, einer Heranwachsenden und ihrer Umwelt belegt, politische und menschliche Verhaltensweisen damaliger Zeitgenossen weder gerechtfertigt noch entschuldigt, sondern nachvollziehbar dargestellt werden.“ Die Nachkriegszeit änderte ihre Einstellung zum Nationalsozialismus und Antisemitismus grundlegend. Im Vorwort führt sie dazu aus: „Seinerzeit für belanglos erachtete Erlebnisse wurden erst unter dem Eindruck von Nachkriegsinformationen zu Schlüsselerlebnissen, flüchtige Gedanken, vage Gefühle erhielten erst nachträglich eine politische Bedeutung.“ Auschwitz hatte sie auch lange nach dem Krieg für ein Gräuelmärchen gehalten. Erst mit der „Re-Education“ erkannte sie ihren Irrtum. Nach dem Krieg arbeitete sie als Psychologin und heiratete 1968 einen jüdischen Maler und Publizisten. Das 784-seitige Buch ist aufgrund der Ehrlichkeit der Autorin als Zeitdokument sehr interessant, aber mitunter leider etwas langatmig, da zu ambitioniert alle der Verfasserin am Herzen liegenden Thematiken aufgegriffen wurden. Störend wirkt auch, dass die Autorin von sich nur in der dritten Person spricht, als ob sie sich von sich selbst distanzieren möchte. Ernst Reuß Die Zeit der großen Täuschungen. Mädchenleben im Faschismus, 1987. Ab der 5. Auflage überarbeitet, aktualisiert und erweitert: Habe ich denn allein gejubelt? Eine Jugend im Nationalsozialismus. Berlin 2012. 784 Seiten, gebunden, 24,99 €
Die Gedenkstätte Stille Helden in Berlin erinnert an jene Menschen, die während der Nazizeit verfolgten Jüdinnen und Juden halfen. Eine Publikationsreihe der Gedenkstätte erinnert auch an die stillen Helden in anderen Ländern.
Während des nationalsozialistischen Völkermords an den Jüdinnen und Juden Europas gab es rund sechs Millionen Opfer. Überall in Europa gab es Menschen, die den Verfolgten helfen wollten. Ihnen soll mit dieser Buchreihe gedacht werden. Häufig entwickelten sich dabei Helfer-Netzwerke. Für jeden „Untergetauchten” waren bis zu zehn, bisweilen auch erheblich mehr nichtjüdische Unterstützerinnen und Unterstützer aktiv. Viele Hilfsaktionen scheiterten. Das im Lukas Verlag erschienene Buch „Rettung kennt keine Konventionen“ enthält nicht nur die Porträts einiger dieser „stillen Helden“ aus Lettland, sondern auch interessante historische Fotografien. Der bekannteste lettische Helfer und Held war der Hafenarbeiter Jānis Lipke. Er sah wie tausende Rigaer Juden in langen Kolonnen zu ihrer Ermordung getrieben wurden und rettete insgesamt 54 Menschenleben. Andere Helfer hatten weniger Glück. Alma Pole, die im Keller ihres Hauses in der Rigaer Altstadt sieben Juden verbarg, wurde entdeckt. Alle Beteiligten wurden von der Sicherheitspolizei erschossen. Die baltischen Staaten sollten für eine „Germanisierung“ der Ostgebiete Europas genutzt werden. Für viele Letten waren die Deutschen dennoch „Befreier“ vom sowjetischen Joch. Im vorauseilenden Gehorsam massakrierten Lettische Nationalisten unmittelbar nach Erscheinen der deutschen Truppen ortsansässige Juden. Danach wurden die Juden von den deutschen Besatzern zur Zwangsarbeit verschleppt, dann ins Rigaer Zentralgefängnis gebracht und von dort aus in regelmäßigen „Aktionen“ im Wald von Biķernieki, am Stadtrand Rigas, erschossen. All dies vollzog sich vor den Augen der lettischen Bevölkerung und häufig unter Mitwirkung von Einheimischen. Den meisten Letten war das Leid der Juden vollkommen gleichgültig. Bald war die jüdische Gemeinde Lettlands de facto ausgelöscht. Nicht nur in Biķernieki kam es zu Massenerschießungen, auch im nicht weit entfernten Wald von Rumbula geschah dies. Bei den Opfern dort handelte sich meist um lettische Juden aus dem Ghetto Riga, aber auch um deutsche Juden, die von Berlin aus deportiert worden waren. So wie sie wurden tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ nach Lettland deportiert und zumeist in Biķernieki erschossen. In Biķernieki existiert seit 2001 ein Mahnmal. Stelen aus Granit in unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern an die vielen Opfer und benennen die Orte, aus denen die Transporte kamen. Auf einem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch: „ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ In Rumbula steht seit 2002 ein ähnliches Denkmal. Ernst Reuß Katrin Reichelt, Rettung kennt keine Konventionen, Hilfe für verfolgte Juden im deutsch besetzten Lettland 1941–1945, 264 Seiten, 80 Abb., Lukas Verlag, Berlin 2016
Das Buch „Der Anfang vom Ende der DDR. Begegnungen einer Diplomatenfrau mit Dissidenten, Spitzeln, Bonzen und anderen Bürgern“ ist das Porträt eines Teils der Gesellschaft der DDR zu Beginn der achtziger Jahre. Es beschreibt in Tagebuchaufzeichnungen und mit Protokollen der Staatssicherheit das spezielle Leben einer Diplomatengattin in der DDR. Sylvia A. Smith war, zusammen mit ihrem bei der US-Botschaft in Ost-Berlin beschäftigten amerikanischen Ehemann und den drei Kindern, zwischen 1982 und 1984 in der Hauptstadt der DDR.
Sylvia Smith ist eine gebürtige Bundesdeutsche, die mit ihrem Diplomatenvisum im westdeutschen Pass die gesamte Republik bereisen konnte. Sie war an Land und Leute interessiert und traf zahlreiche Dissidenten, für die sie eine gewisse Sympathie empfand. Dabei wurde sie von Agenten der Staatssicherheit und den IMs“ unter ihren vermeintlichen Freunden ständig beobachtet. Sie führte Tagebuch und kommentiert ihre Einträge, nach Einsicht in ihre Stasiakten. Historisch wird das Ganze vom Herausgeber, einem promovierten Politologen, eingeordnet. Ein Zeitzeugnis der DDR in der beginnenden Agonie. Ernst Reuß Sylvia A. Smith, Hans-Jürgen Brandt (Hrsg.), Der Anfang vom Ende der DDR. Begegnungen einer Diplomatenfrau mit Dissidenten, Spitzeln, Bonzen und anderen Bürgern 1982-1984, 232 Seiten, Berlin 2019, 29.00 €
Ben Ferencz war gerade mal 27 Jahre alt, als er hochrangige SS-Offiziere vor Gericht brachte. Er klagte Mitglieder der „Einsatzgruppen“ an, jener SS-Killerkommandos, die skrupellos hunderttausende wehrlose Menschen ermordeten. Er ist der letzte noch lebende Chefankläger der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse.
Geboren wurde er in Siebenbürgen. Als Migrant kam er zusammen mit seinen Eltern in die USA und wuchs in äußerst ärmlichen Verhältnissen in verrufenen Stadtteilen von New York auf. Doch Ferencz war begabt, übersprang mehrere Schulklassen und bekam Stipendien. Trotz der prekären Verhältnisse, in denen er aufwuchs und eines gewissen Widerspruchsgeistes, schaffte er es, in Harvard erfolgreich Jura zu studieren. Zu seinem 100ten Geburtstag am 11. März 2020, den Ferencz gesund und munter feierte, erschien beim Piper Verlag ein Buch, in dem seine außergewöhnlich spannende Lebensgeschichte erzählt wird. Als junger Soldat der US-Armee war er der War Crimes Investigation zugeordnet und damit beauftragt, in Mauthausen, Dachau oder Buchenwald Beweismaterial für die Kriegsverbrechen der Deutschen zu sammeln. Es war für ihn kaum zu ertragen, was er dort sah. Er beschrieb das Grauen in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, die im Buch immer wieder zitiert werden. Später kam er zurück nach Deutschland, obwohl er die Nase voll hatte von dem, was er da gesehen hatte. Er leitete für den US-Hauptankläger der Nürnberger Prozesse, Telford Taylor, ein Rechercheteam. In Berlin überlebte er und Taylor zusammen mit ihren Frauen durch einen mutigen Fallschirmabsprung eine Flugzeughavarie. Als er wiederum in Berlin von einem seiner Helfer drei prall gefüllte Aktenordner über „Ereignismeldungen“ aus der UdSSR auf den Schreibtisch gelegt bekam, wusste er, dass das für einen Prozess genügen würde. Sorgfältig war darin dokumentiert, welche Einheit an welchem Ort wie viele Menschen ermordet hatte. Er zählte mit einer Rechenmaschine die Opfer, bei einer Million hörte er auf. Doch da es zu wenig Personal für einen neuen Prozess gab, wurde er kurzerhand selbst zum Chefankläger ernannt. Es war sein erster Fall und sein wichtigster. Er konnte nur die schlimmsten Mörder anklagen, viele andere fielen durch die Maschen und führten im Nachkriegsdeutschland ein sorgenfreies Leben. Die meisten Deutschen hatten eher Verständnis für die Täter als für die Opfer. Trotzdem blieb Ferencz ein Menschenfreund. Sein ganzes Leben hat er dem Kampf für Recht und Gerechtigkeit verschrieben. Die Wiedergutmachung von Juden und Zwangsarbeiter war in den nächsten Jahrzehnten eine weitere wichtige Aufgabe für ihn. Adenauer unterschrieb das deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen mit dem Stift, den Ferencz von seiner Frau als Glücksbringer geschenkt bekam, als er in den Krieg ziehen musste. Ben Ferencz war in der Nachkriegszeit auch einer der intellektuellen Wegbereiter des Internationalen Strafgerichtshofs. Das war auch der Grund, warum er 2011 mit 91 Jahren das Schlussplädoyer gegen einen kongolesischen Milizenführer halten durfte. Es war das erste rechtskräftige Urteil des Gerichts. Dem Historiker und Journalisten Philipp Gut ist mit dem Buch „Jahrhundertzeuge Ben Ferencz. Chefankläger der Nürnberger Prozesse und leidenschaftlicher Kämpfer für Gerechtigkeit“ eine interessante und sehr gut zu lesende Biographie eines erstaunlichen Lebens gelungen. Die Biographie über einen großen Mann und Humanisten, auch wenn er mit 1,55 m immer zu den kleinsten Männern gehörte. Der letzte Satz des Buches und dieser Rezension gehört ihm, der in den sozialen Medien immer noch äußerst aktiv ist: „Ich bedauere, dass ich nicht mehr so lange auf der Welt herumlungern kann, um zu sehen, wie alles läuft. Ich wünsche der Welt viel Glück!“ Ernst Reuß Philipp Gut: Jahrhundertzeuge Ben Ferencz. Chefankläger der Nürnberger Prozesse und leidenschaftlicher Kämpfer für Gerechtigkeit. Piper Verlag, München 2020. 352 S., 24 €.
Von der Besiedlung im Urstromtal, über die Slawenburgen, bis zum Bau der Mauer und der Wiedervereinigung handelt das Buch des Historikers Felix Escher mit dem Titel „Berlin wird Metropole“. In neun interessanten Kapiteln wird die Geschichte Berlins dargelegt.
Bereits vor 50 000 Jahren während der Eiszeit waren erste Menschen im Berliner Raum. Als das Klima wärmer wurde, kamen vor 5 000 Jahren die ersten Siedler. Um 1 000 v. Chr. gab es bereits eine erstaunliche Siedlungsdichte, die später lange Zeit nicht mehr erreicht wurde. Im 5. Jahrhundert n. Chr. verließen die Germanen während der Völkerwanderung den Siedlungsraum, andere Völker zogen her, insbesondere die Slawen, ab dem 7. Jahrhundert. Wer weiß schon, dass der Begriff „Kiez“, wohl von dem slawischen Wort kiza (Hütte) abstammt. Es gab Aufstände, Vertreibungen, aber auch Assimilation. Wichtige Handelswege führten von Brandenburg über Spandau nach Köpenick. Dazwischen entstanden im späten 12. Jahrhundert die Kaufleutesiedlungen Berlin und Cölln, die 1709 auf Befehl König Friedrichs I. zusammen mit Friedrichswerder, Dorotheen- und Friedrichsstadt mit der Spandauer-, Rosenthaler- und Georgenvorstadt zu einer Stadt mit dem Namen Berlin wurden. Mit und wegen der nach dem 30-Jährigen Krieg erfolgten Ansiedlung von Flüchtlingen gedieh die Stadt prächtig. Es begann die industrielle Revolution und Berlin wurde zur Kaiserstadt. 1912 und 1920 entstand vor und nach dem Ersten Weltkrieg durch Eingemeindung im großen Stil die Weltstadt Berlin, mit den sogenannten Goldenen Zwanzigern und dem was danach kam. Zerstörung, Teilung, Wiederaufbau und Wiedervereinigung. Das alles nicht nur interessant erzählt, sondern auch schön illustriert. Ernst Reuß Felix Escher, Berlin wird Metropole, Eine Geschichte der Region, Elsengold Verlag, Berlin 2020, 176 Seiten, 29,95 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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