Jens Söring wurde 1986 wegen des Doppelmordes an den Eltern seiner damaligen Freundin verhaftet und 1990 in den USA zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt. Seine potentiellen Schwiegereltern waren im März 1985 in ihrem Haus im US Bundesstaat Virgina mit dutzenden von Messerstichen regelrecht abgeschlachtet worden, ihre Kehlen wurden durchgeschnitten.
Als Söring und seine kanadische Freundin unter Verdacht gerieten, flohen sie nach Europa. Ein Jahr später wurden sie in London wegen Scheckbetrugs verhaftet und später an die USA ausgeliefert. Söring selbst beteuert bis zum heutigen Tag seine Unschuld. Ende 2019 wurde der 55-Jährige nach 33 Jahren, 6 Monaten und 25 Tagen wegen guter Führung auf Bewährung freigelassen und nach Deutschland abgeschoben. Der Sohn eines deutschen Diplomaten, hatte die Morde aus dem Jahr 1985 zunächst gestanden, später aber das Geständnis widerrufen und immer wieder erfolglos seine Entlassung oder Überstellung nach Deutschland beantragt. Begnadigt worden ist er nicht und darf nun nie wieder in die USA einreisen. Laut eigener Aussage machte er das falsche Geständnis nur um seine Freundin zu schützen, die wiederum aussagte er habe es alleine getan. Sie wurde wegen Beihilfe zu 90 Jahren Haft verurteilt und gemeinsam mit Söring inzwischen ebenfalls auf Bewährung in ihr Heimatland abgeschoben. Das Paar habe die Tötung gemeinsam geplant, befand das Gericht. Ausgeführt habe sie Söring allein. Nun hat er das Buch „Rückkehr ins Leben: Mein erstes Jahr in Freiheit nach 33 Jahren Haft“ veröffentlicht. Es ist schon sein achtes Buch. Es gibt unterschiedliche Ansichten was die Schuld oder Unschuld Jens Sörings betrifft. Darum geht es im Buch auch weniger, obwohl er immer wieder mal seine Unschuld beteuert und seine damalige Freundin beschuldigt. Das Buch beschäftigt sich eher mit seinen Schwierigkeiten und Gefühlen nach der Entlassung und den schwierigen Haftbedingungen in den USA. Er musste nun lernen, sich in einem normalen Alltag zurechtzufinden. Wen das interessiert, der kaufe dieses Buch. Ernst Reuß Jens Sörings, „Rückkehr ins Leben. Mein erstes Jahr in Freiheit nach 33 Jahren Haft“, München 2021, 304 Seiten., 20 €.
Hans Mommsen, einer der bedeutendsten deutschen Zeithistoriker, meinte bereits vor vielen Jahren: „Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand ist eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkrieges.“
Obwohl bis zu 3,3 Millionen von 5,7 Millionen Gefangenen in den Lagern umgekommen sind und die sowjetischen Kriegsgefangenen somit neben den Juden diejenige Opfergruppe waren, die das schlimmste Schicksal im Zweiten Weltkrieg erleiden musste, wurde viele Jahre nichts Genaueres über sie ermittelt. Nach dem Krieg bestand nicht nur in Deutschland wenig Interesse am Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener. Anteilnahme erregten hierzulande meist nur das eigene Leid, die enormen deutschen Verluste in der Sowjetunion und das Schicksal deutscher Soldaten in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern - das allerdings nicht mit dem der sowjetischen Kriegsgefangen zu vergleichen ist. Die eigenen Verbrechen, soweit überhaupt zur Kenntnis genommen, wurden mit Taten der Alliierten aufgewogen. Die geschätzt 27 Millionen sowjetischen Opfer, darunter mehr als 13 Millionen Frauen, Kinder und Greise, interessierten da nicht. In Westdeutschland wurden Mahnmale, die von den Sowjets oder von Überlebenden der Kriegsgefangenenlager errichtet worden waren, beseitigt oder entschärft. Schon harmlose Inschriften waren offenbar dem Wirtschaftswunderdeutschen nicht mehr zuzumuten. Sollten gar Sowjetstern oder Hammer und Sichel auf den Denkmälern zu sehen sein, wurde dies in der noch jungen BRD häufig entfernt. Nicht verwunderlich, dass die von Deutschen verübten Massenmorde auf dem zwei Kilometer vom KZ Dachau entfernten SS-Schießplatz Hebertshausen, wo auch Verurteilte der SS- und Polizeigerichte hingerichtet worden sind, eher verschwiegen wurden. Nach dem Krieg will keiner davon gewusst haben, obwohl es nicht geheimgehalten werden konnte. Die Transporte zum Schießplatz wurden von Anwohnern registriert, die Schüsse konnten nicht überhört werden. Dort jedenfalls ermordete die Lager-SS 1941 und 1942 über 4 000 sowjetische Kriegsgefangene. Beginnend mit August 1941, trafen durchschnittlich alle zwei Wochen ungefähr 70 Gefangene in Dachau ein und wurden oft umgehend liquidiert. Einer der Täter, der stellvertretende Lagerführer Sebastian Eberl, bezeichnete die Massenexekution als ein „Schützenfest“. Ernsthafte Ermittlungen gegen ihn begannen erst Ende der 60er Jahre, aber aus angeblich gesundheitlichen Gründe verzögerte sich der Prozessbeginn bis zu seinem Tod in den 80er Jahre. Der 1974 in Dachau verstorbene Lagerführer Egon Zill war einer der wenigen der deswegen verurteilt, aber bereits nach acht Jahren wieder entlassen wurde. Die Opfer waren meist zuvor mit dem Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941 aus anderen Kriegsgefangenenlagern in Bayern „ausgesondert“ worden. Sieben von den neun im Begleitband zur dortigen Open-Air-Ausstellung beschriebenen Opfern kamen aus dem Kriegsgefangenenlager im unterfränkischen Hammelburg. Insbesondere kommunistische Funktionäre, Angehörige der „Intelligenz“ (bspw. Lehrer, Studenten, höhere Beamte) und Juden fielen dem Massenmord zum Opfer, aber auch willkürlich ausgewählte einfache Soldaten. Man hatte schließlich ein gewisses „Soll“ zu erfüllen. In Hammelburg wurden jeweils zwei Güterwaggons angefordert. Wehrmachtssoldaten übergaben die aneinander geketteten Soldaten an das Einsatzkommando, die sie nach Dachau begleiteten, wo sie schließlich „sonderbehandelt“, sprich auf dem Schießplatz Hebertshausen erschossen wurden. Bis Januar 1942 wurden auf diese Weise 652 Soldaten „ausgesondert“. Im Lager Moosburg protestierten Wehrmachtsangehörige erfolgreich gegen dieses Vorgehen. Das blieb aber die Ausnahme. Auch wenn die Ermordung gefangener Soldaten gegen Heeresdienstvorschriften und Völkerrecht verstießen, wurde alleine wegen diesen Aussonderungen niemand bestraft. Man hatte ja nur Befehle befolgt und die meisten Taten waren schon verjährt, als man mit Ermittelungen begann. Die sowjetischen Soldaten stellten den größten Teil der Gefangenen in Hammelburg. Auch dort, wie in anderen Lagern, war die Todesrate von Sowjets am höchsten - sie galten schließlich als „Untermenschen“ und wurden dementsprechend behandelt. Knapp 3 000 von ihnen sollen im Friedhof „Am Felschen“ beigesetzt worden sein. Die Ermittlung von Namen ist noch nicht abgeschlossen. Die vorläufige Liste und Dokumente kann man hier einsehen: https://www.stsg.de/cms/sites/default/files/dateien/texte/Buch_Hammelburg.pdf Zwar wurde in Hebertshausen 1964 in privater Initiative ein Gedenkstein auf dem Schießplatz errichtet, doch erst nach langem Kampf wurde 2014 ein neugestalteter Erinnerungsort eröffnet. Noch zum 60. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, wollte der örtliche Bürgermeister in einem Brief an die damalige bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier „nicht als neuer KZ-Ort im Landkreis Dachau“ abgestempelt werden. Heute gibt es dort eine sehenswerte Gedenkinstallation. Der bebilderte Begleitband zur Ausstellung enthält sieben Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der Morde, der Motivation der Täter und zur Reaktion der Bevölkerung, außerdem neun Biografien von Opfern, darunter einem Überlebenden. Er, der im November 1941 schon vor Kälte zitternd nackt vor dem Erschießungskommando stand, überlebte nur deshalb, weil kurz bevor er an die Reihe kam, der Gestapobeamte den Befehl „Genug!“ ausgab. Für die Gedenkinstallation sollen nach nicht einfachen Recherchen bis jetzt ungefähr eintausend Opfer identifiziert worden sein. Weitere werden folgen. Ernst Reuß Gabriele Hammermann, Andrea Riedle (Hg.): Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942, Wallstein-Verlag, Göttingen 2020, 208 Seiten, 20 Euro. Ernst Reuß, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, Berlin, erma 2013, 263 Seiten
„Der große Atlas der Menschheit“ ist ein Prachtband, der jede Bibliothek schmückt.
Im Atlantenformat beleuchtet das Buch bildgewaltig die Entstehung der Menschheit. Erzählt wird darin, woher wir kommen und wie wir wurden was wir heute sind. Das Format ist zwar unhandlich, kommt aber besonders den Karten und dem Bildmaterial zugute. Beeindruckende Abbildungen, wie beispielsweise diejenigen, die die Verschiebung der Kontinente im Laufe der Zeit beschreiben, Fotos der Höhlenmalereien und Bilder von Gesichtsrekonstruktionen unserer Vorfahren zeigen äußerst anschaulich die Anfänge der Menschheit, also wie wir die Welt besiedelten und wie unsere ersten kulturellen Gehversuche aussahen. Die französische Erstauflage des Buches erschien 2012, was bedeutet, dass es seitdem immer wieder neue Funde und Entwicklungen gab, worauf auch ein Hinweis an den Leser hindeutet. Demnach können im Buch dargestellte Forschungsergebnisse, eventuell schon überholt sein - wie zum Beispiel die Annahme des Zeitpunkts der Auswanderung unserer Vorfahren aus Afrika, die möglicherweise schon einige Zeit länger andauert als bisher angenommen. Aber auch die Vorgänger des Homo Sapiens werden beleuchtet, die schon lange vor ihm existierten und später ausstarben, wie der Neandertaler oder der Denisova-Mensch. Der Homo sapiens, also der moderner Mensch, ist die einzige noch lebende Art der Gattung und unterscheidet sich genetisch von den eben benannten Vorgängern. Der Atlas gibt den Blick frei auf die Vielzahl menschlicher Arten und umfasst einen sehr langen Zeitraum, der in den 208 Seiten des Buches versucht wird zu beschreiben. Das Buch eignet sich zum schmökern, anschauen, nachdenken und immer wieder zum nachblättern, für denjenigen der wissen will wie der Homo Sapiens nach und nach die gesamten Erde besiedelte. Der Atlas zeichnet die weltweiten Wanderrouten der Hominiden nach. Erste Fußstapfen sind in der Vulkanasche erhalten geblieben und man kann das Nebeneinander mit Verwandten, wie beispielsweise dem Neandertaler, nachempfinden. Warum der Mensch und nicht seine Verwandtschaft überlebt hat, bleibt weiterhin rätselhaft und spekulativ. Mit den kulturellen Handlungen entwickelten sich unsere kognitiven Fähigkeiten, die möglicherweise die Überlegenheit unserer Art zementierten. Ernst Reuß Telmo Pievani, Valéry Zeitoun, Homo Sapiens. Der große Atlas der Menschheit, Aus dem Französischen von Renate Heckendorf, mit zahlreichen farbigen Abbildungen und Karten., 26,8 x 36,8 cm, wbg Theiss, Darmstadt 2020, 208 Seiten, 70 €.
Nördlich von Berlin wurde 1936 von Häftlingen das Konzentrationslager Sachsenhausen errichtet, das nicht nur das „Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt“, sondern ein zentrales Muster- und Ausbildungslager war. Benannt wurde es nach einem heutigen Stadtteil von Oranienburg, der damals noch eine selbständige Gemeinde war.
Ungefähr 200.000 Menschen aus etwa 40 Nationen wurden in Laufe der Jahre dort inhaftiert. Zunächst waren es die politischen Gegner des NS-Regimes, dann „Minderwertige“ (so wurden damals Juden, Homosexuelle, „Zigeuner“, „Asoziale“ oder Zeugen Jehovas bezeichnet) und nach Kriegsbeginn Bürger der überfallenen Staaten. Zehntausende kamen dort durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, Misshandlungen oder medizinischer Experimente um, mindestens 13.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden systematisch ermordet. Zuvor hatte man dort bereits an sowjetischen Kriegsgefangenen einen Gaswagen erprobt, der dann im Osten eingesetzt wurde. Es gab eine „Genickschussanlage“ und eine Gaskammer, in der neue Vergasungsmethoden erprobt wurden. Beim Umfang der Menschenversuche für medizinische und andere Zwecke erreichte das KZ einen traurigen Rekord. Am 21. April 1945 begann die Räumung des KZ Sachsenhausen durch die SS. Die Rote Armee stand nur noch wenige Kilometer entfernt. 33.000, der noch verbliebenen 36.000 Häftlinge, wurden in Gruppen von 500 Häftlingen nach Nordwesten in Marsch gesetzt. Tausende Häftlinge starben dabei an Entkräftung oder wurden von der SS erschossen. Die Überlebenden kamen auf unterschiedlichen Wegen in die Nähe von Schwerin, wo sie, inzwischen von ihren SS-Bewachern verlassen, auf Einheiten der Roten Armee und der US Army trafen. Die befreiten Häftlinge wurden anschließend in Kasernen und Krankenhäusern untergebracht, wo sie gesund gepflegt wurden - was nicht immer gelang. Am 22. und 23. April 1945 erreichten sowjetische und polnische Streitkräfte das Hauptlager und befreiten die zurückgebliebenen 3.000 Kranken, sowie die Ärzte und Pfleger. Mindestens 300 Befreite starben noch in den folgenden Wochen an den Folgen der KZ-Haft. Im Mai konnten die meisten westeuropäischen Häftlinge in ihre Heimatländer zurückkehren, während Häftlinge aus Osteuropa zunächst eine Überprüfung in Repatriierungslagern über sich ergehen lassen mussten. Heute ist das ehemalige KZ eine beeindruckende Gedenkstätte. Gerade erschien im Metropol Verlag ein 734-seitiges, sehr lesenswertes Werk zum KZ Sachsenhausen, das auch als Zentrum zur Verteilung der Gefangenen in andere Lager diente. Verfasst wurde das umfassende Werk von dem Historiker und ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme Hermann Kaienburg, der damit im Ruhestand eine Forschungsarbeit abgeschlossen hat und den neusten Stand der Forschung akribisch darstellt. Dem Todesmarsch sind dabei nur ein paar Seiten gewidmet. Ein Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes berichtete: „Am Morgen des 22. April entdeckten wir die ersten 20 erschossenen Häftlinge am Straßenrand auf einer Strecke von 7 km zwischen Löwenberg und Lindow; alle waren durch Kopfschuss getötet worden. In dem Maße, in dem wir vorankamen, stiessen wir auf eine immer grössere Anzahl von erschossenen Häftlingen am Straßenrand oder in den -gräben. In den Wäldern zwischen Neu-Ruppin und Wittstock fanden wir dann regelmäßig an den Stellen, wo die Häftlinge übernachtet hatten oder an den Halteplätzen mehrere Leichen, die zum Teil in die Lagerfeuer geworden und halbverkohlt waren.“ Ernst Reuß Hermann Kaienburg, Das Konzentrationslager Sachsenhausen 1936–1945. Zentrallager des KZ-Systems, Metropol Verlag, Berlin 2021, 734 Seiten, 39.00 €
Gemeinhin gilt Ferdinand Magellan, nach dem die von ihm als ersten Europäer endeckte Magellanstraße benannt wurde, auch als erster Weltumsegler. Doch dem ist nicht so. Zwar kam am 6. September 1522 eines seiner Schiffe nach ihrer abenteurlichen Weltumrundung wieder in Spanien an. Es war allerdings Juan Sebastián Elcano, der fast drei Jahre nach dem Aufbruch der Expedition mit Magellans Schiff wieder im spanischen Heimathafen einfuhr. Die erste Weltumsegelung war ein Meilenstein in der Geschichte der Seefahrt
Magellan selbst war bereits am 27. April 1521 gestorben. Genauso erging es vielen seiner Crew. Ein kümmerlicher Rest von 18 Mann, der einstmals ungefähr 240 Besatzungsmitglieder auf fünf Schiffen, war übrig geblieben. Weitere Expeditionsteilnehmer kamen allerdings auf anderem Weg wieder nach Spanien zurück. Einer von diesen 18 Seeleute war der Italiener Antonio Pigafetta, dessen Reisebericht überliefert ist und nun auf deutsch vorliegt. Der Historiker Christian Jostmann ordnet in seiner sehr interessanten Einleitung den Bericht ein. Pigafetta schrieb über die Rückkehr: „Danach segelten wir zwei Monate unentwegt nach Nordwesten, ohne irgendwelche frische Nahrung aufzunehmen. In dieser Zeit starben uns 21 Männer. Wenn wir sie ins Meer warfen, sanken die Christen mit dem Gesicht nach oben in die Tiefe, und die Inder stets mit dem Gesicht nach unten. Und wenn Gott uns nicht gutes Wetter besorgt hätte, wären wir alle Hungers gestorben.“ Erst durch seinen Bericht, in dem er seinen von ihm anscheinend sehr verehrten und inzwischen verstorbenen Kapitän ein Denkmal setzte und ihn gegen seine Feinde und Kritiker verteidigte, wurde Magellan zum Mythos. Es gab durchaus auch andere Ansichten zu Magellan. Während der Reise kam es zu heftigen Konflikten zwischen Kapitän und Mannschaft, einschließlich Meutereien, Desertionen und von Magellan angeordneten Hinrichtungen. Der mit viel Seemansgarn aufgehübschte, subjektive Reisebericht ist sehr lesenswert und amüsant. Er zeigt die Vorstellungswelt eines im 16. Jahrhundert lebenden Europäers, der auszog um die Welt kennzulernen. Viele erklärende Fußnoten lassen seinen Bericht besser verstehen. Beispielsweise schrieb Pigafetta: „Dieses Land von Verzin ist sehr üppig und größer als Spanien, Frankreich und Italien zusammen. Es gehört dem König von Portugal. Die Völker dieses Landes sind keine Christen und beten nichts an. Sie leben nach den Gebräuchen der Natur und werden 125 und 140 Jahre alt.“ Die Bevölkerung dieses Landes, also die Brasilianer, bezeichnete er als Menschenfresser, aber nicht weil es ihnen schmecken würde, sondern weil es ein alter Brauch sei, der damit begann dass eine Frau einem Krieger aus Wut über den Tod ihres Sohnes in die Schulter biss. Pigafetta beschreibt die Einheimischen durchweg als nackte Wilde. So sah man das wohl damals und nötigte den Einwohnern ihren Willen und ihre christliche Religion auf. Portugal und Spanien hatten die Erde in einem Vertrag mit dem Papst unter sich aufgeteilt, nun galt es auch die „Heiden“ zu bekehren und zu erlösen. Außerdem musste das Land für den König formell in Beschlag genommen werden. Pigafetta schrieb über all das mit bemerkenswerter Offenheit und interessierte sich sehr für die sexuellen und kulturellen Gebräuche der Einheimischen, die er meist als Inder bezeichnete. Am 20. September 1519 war Magellan im Auftrag der spanischen Krone in See gestochen, auf der Suche nach einer besseren Route zu den sagenhaften Gewürzinseln. Dorthin also, wo unter anderem der sehr wertvolle Pfeffer wuchs. Magellan selbst starb auf der kleinen Philippinen-Insel Mactan. Als Herrenmensch wollte er ein Exempel an der rebellischen Bevölkerung statuieren, scheiterte aber an seiner Arroganz und seinen Überlegenheitsphantasien. Auch Pigafetta war bei diesem Gefecht dabei, überlebte aber seinen Kapitän mit dem Streifschuss eines Pfeils im Gesicht. Er berichtete daher als direkter Augenzeuge „Magellan befahl nun, das Dorf in Brand zu stecken. Aber der Anblick der Flammen machte die Insulaner noch wilder und blutgieriger. (...) Einem Insulaner gelang es, Magellan mit der Lanze im Gesicht zu verwunden. Der Generalkapitän durchbohrte seinen Gegner auf der Stelle mit seiner eigenen Lanze, die nun aber im Körper des Getöteten steckenblieb. Er wollte seinen Degen ziehen, vermochte ihn aber nur halb aus der Scheide zu bringen. Der ebenfalls verwundete rechte Arm gehorchte ihm kaum mehr. Als die Insulaner dies sahen, drangen sie in einem Pulk auf ihn ein. Magellan empfing einen Lanzenstich in den linken Schenkel und fiel auf das Gesicht. Im selben Augenblick warfen sich alle Feinde auf ihn und hieben mit ihren Waffen auf ihn ein. So starb unser treuer Führer, unser Licht, unsere Stütze.“ Ernst Reuß Antonio Pigafetta, Die erste Reise um die Welt - An Bord mit Magellan. Historischer Reisebericht. Die erste vollständige deutsche Ausgabe inkl. Original-Illustrationen. ... und kommentiert von Christian Jostmann, wbg Edition, Darmstadt 2020, 272 Seiten, 29 €
Am 26. September 1980 geschah in München der bis heute folgenreichste Anschlag in Deutschland. Es war das Oktoberfest-Attentat mit 13 Toten und mehr als 200 Verletzten. Drei Monate später, am 19. Dezember 1980, wurde in Erlangen der jüdische Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke ermordet.
Spuren beider Verbrechen führten zur antisemitischen „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die bis 1980 ungestört in Bayern ihre Unwesen treiben konnte, bevor sie der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum verbot. Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß machte unmittelbar nach dem Oktoberfestattentat genau diesen Innenminister als Verharmloser des „linken Terrors“ für das Attentat mitverantwortlich. Strauß und seine Mitstreiter hatten zuvor die Wehrsportgruppe Hoffmann immer wieder bagatellisiert und fanden das Verbot der Gruppe überflüssig, denn „Wehrsport“ sei schließlich nicht strafbar. Kurz danach war für Strauß und seinem Innenminister klar, dass es sich um einen „Einzeltäter“ handeln musste. Später machte eine von Hoffmann initiierte antisemitische Verschwörungserzählung die Runde, dass der israelische Geheimdienst dahinter stecken würde. „Einzeltäter“ sind es auch heute immer wieder, die rechtsradikale Taten begehen. Hintermänner und Hetzer wurden und werden damals wie heute nicht belangt. In München starb der angebliche Einzeltäter mit seiner Bombe, der Täter von Erlangen soll im Libanon Selbstmord begangen haben, wohin ihm mit Hilfe von Hoffmann die Flucht gelungen war. Somit waren die Fälle vom Tisch. Lediglich der Journalist und Autor Ulrich Chaussy forschte trotz Hemmnisse weiter. Er war einer der wenigen, der die Legende um den Einzeltäter hartnäckig hinterfragte und immer wieder auf das rechtsextreme Netzwerk rund um die Wehrsportgruppe Hoffmann hinwies. Chaussy zeichnet ein plastisch nachvollziehbares Bild der Oktoberfestmorde, zeigt den gemeinen Wiesnbesucher, der mehr an der Aufklärung des „Schankbetrugs“ auf der nicht abgebrochenen „Wiesn“, als an der Aufklärung des Verbrechens interessiert ist. Er zeichnet das Bild des wahrscheinlichen Attentäters Gundolf Köhler, der überhaupt nicht so verzweifelt und verbittert suizidal zu sein schien, wie es die Polizei und Staatsanwaltschaft im Abschlussbericht darstellte. Außerdem gab es Zeugen, die Begleiter von Köhler gesehen haben wollen und eine abgerissene Hand am Tatort, die niemandem zugeordnet werden konnte. Ein von Köhler angeblich abgestellter Koffer verschwand. Die Asservaten wurden seltsamerweise vernichtet, so dass eine inzwischen mögliche DNA Analyse der Hand und von Zigarettenstummeln in Köhlers Auto nicht durchgeführt werden kann. Wo die Bombe gebaut worden ist, wurde nicht geklärt. Ein polizeibekannter Bombenbauer beging Suizid um seine Kameraden nicht verraten zu müssen. Auch er galt seltsamerweise als „Einzeltäter“. Das Buch liest sich wie ein Krimi. Chaussy lässt auch die Opfer, Zeugen, Familie und Bekannte des Täters sprechen. Die jetzige Fassung des bereits 1985 erschienen Buches wird um neue Erkenntnisse erweitert, denn Chaussy schrieb auch das Drehbuch zum 2013 erschienen sehenswerten Spielfilm „Der blinde Fleck“, der das Oktoberfestattentat thematisierte. Neu dazu gekommen ist auch der nur drei Monate nach dem Oktoberfestattentat stattgefundene Doppelmord in Erlangen. Shlomo Lewin hatte sich als jüdischer Rabbiner für das Verbot der Wehrsportgruppe Hoffmann aus seiner fränkischen Umgebung stark gemacht. Die Tat wurde von medialer Seite zuerst auf sein angebliches Vorleben zurückgeführt. Bei den NSU-Morden sollte es Jahre später genauso sein. Verdächtigt wurden auch dort erst mal die Opfer. Am Tatort wurde die Sonnenbrille von Hoffmanns Lebensgefährtin gefunden. Täter war trotzdem wieder ein „Einzeltäter“ namens Uwe Behrendt, der der Wehrsportgruppe als Hoffmanns engster Mitarbeiter angehörte. Die Tatsache, dass Hoffmann ihm zur Flucht verhalf und ihn im Libanon beförderte, wo er seine Wehrsportgruppe nach dem Verbot weiter betrieb, führte zu keinen strafrechtlichen Konsequenzen. Leider wird Behrendts Schicksal und die Umstände der Tat nicht so ausführlich beschrieben, wie das Oktoberfestattentat. Beide Taten sind im Gegensatz zu den RAF Verbrechen jener Zeit, weitgehend vergessen. Umso wichtiger sind die spannenden Recherchen und Erkenntnisse, die hauptsächlich dem ehemaligen Radiojournalisten des Bayerischen Rundfunk Ulrich Chaussy zu verdanken sind. Ernst Reuß Ulrich Chaussy, Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen, Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden, 4. Auflage, Berlin 2020, 360 Seiten, 20 €
Gleich zwei neue Krimireihen beschert der Buchherbst. Einmal wird im Leningrad der Nachkriegszeit gemordet, das andere Mal im Hamburg der Zwischenkriegszeit.
Stalin spielte 1951 noch seine unrühmliche Rolle, als im gefürchteten bitterkalten russischen Winter fünf verstümmelte Leichen außerhalb von Leningrad an einer Bahnlinie gefunden werden. Da willkürliche Verhaftungen in jener Zeit an der Tagesordnung sind, betrifft das auch die lokale Polizeidienststelle, die wegen „Verrats“ kollektiv verhaftet worden war. Darum macht sich die Leningrader Volksmiliz an die Arbeit. Leutnant Revol Rossel übernimmt anfangs unwillig die Ermittlungen, doch relativ schnell nach der schwierigen Identifizierung stellt er fest, dass er die Leichen kennt. „Der kalte Glanz der Newa“ ist ein Thriller im winterlichen und stalinistisch geprägten Russland. Stalins gefürchtetes Ministerium für Staatssicherheit spielt dabei eine entscheidende Rolle. Das unter dem Pseudonym Ben Creed firmierende Autorenduo bedient sich dabei Horrorszenarien, die im Kalten Krieg entstanden sein könnten. Der Krimi ist ihr erstes gemeinsames Werk und der erste Fall für Leutnant Revol von der Leningrader Militärpolizei, daher kann man als zeitgeschichtlich interessierter Leser auf die Fortsetzung der angekündigten Trilogie gespannt sein. Der zweite Krimi spielt im Hamburg des Jahres 1928, genauer gesagt auf St. Pauli. Dort gibt es eine weibliche Kriminalpolizei, zu der auch bald eine junge, vorlaute Sekretärin gehört. Sie ähnelt sehr der Hauptdarstellerin aus „Babylon Berlin“. Im Gegensatz zu Charlotte Ritter aus Berlin kommt die Hamburgerin Paula Haydorn jedoch aus wohlhabenden Elternhaus, was bei der Aufklärung des Falles eine entscheidende Rolle spielen wird. Ihre Eltern haben kein Verständnis für ihren Berufswunsch und wollen es ihr verbieten. Sie selbst und ihre Kolleginnen müssen sich gegen die männlichen Vorgesetzten behaupten, die anfangs wenig begeistert sind von Frauen in ihrer Männerdomäne. Erste Spuren führen ins Rotlichtmilieu und in einschlägig bekannte Freudenhäuser, also in ein Umfeld, das Paula völlig fremd ist. Bald tauchen Parallelen zu den Taten von Jack the Ripper auf, der vor 40 Jahren in London ganz ähnliche Taten begangen hat. Auch auf St. Pauli werden Frauen grausam ermordet und verstümmelt. Ungeachtet der Ähnlichkeiten zu „Babylon Berlin“ beschreibt der Roman historische Begegebenheiten, zumindest was den Aufbau der weiblichen Kriminalpolizei in Hamburg betrifft. Er gibt außerdem Einblicke in das Prostituiertenmilieu auf St. Pauli und beleuchtet die Situation der dort oft aus purer Not arbeitenden Mädchen und Frauen. Spannend geschrieben. Man darf sich auf weitere Teile der Serie freuen. Ernst Reuß Helga Glaesner, Die stumme Tänzerin, Hamburg 2021, 364 S., 10 € Ben Creed, Der kalte Glanz der Newa: Thriller. Der erste Fall für Leutnant Revol Rossel (Die Leningrad-Trilogie 1), München 2021, 328 S. 14,99 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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