Nördlich von Berlin wurde von Häftlingen 1936 das Konzentrationslager Sachsenhausen errichtet. Benannt wurde es nach einem heutigen Stadtteil von Oranienburg, der damals noch eine selbständige Gemeinde war.
Ungefähr 200.000 Menschen aus etwa 40 Nationen wurden im Laufe der Jahre dort inhaftiert. Zunächst waren es politische Gegner des NS-Regimes, dann „Minderwertige“ (so wurden damals Juden, Homosexuelle, „Zigeuner“, „Asoziale“ oder Zeugen Jehovas bezeichnet) und nach Kriegsbeginn Bürger der überfallenen Staaten. Zehntausende kamen dort durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, Misshandlungen oder medizinischer Experimente um. Mindestens 13.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden systematisch ermordet. Zuvor hatte man dort bereits an sowjetischen Kriegsgefangenen einen Gaswagen erprobt, der dann im Osten eingesetzt wurde. Es gab eine „Genickschussanlage“ und eine Gaskammer, in der neue Vergasungstechniken erprobt wurden. Heute ist das ehemalige KZ eine beeindruckende Gedenkstätte.
Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, hat eine bemerkenswerte Dokumentation geschrieben. Er belegt 69 relativ unbekannte Todesurteile des Kammergerichts Berlin wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung und Landesverrat. Das erste nachgewiesene Todesurteil vom Juli 1943 ist gegen einen 31-Jährigen polnischen Landarbeiter namens Stefan Rydynski, weil er an das Polnische Rote Kreuz Geld spendete. Das galt als Vorbereitung zum Hochverrat. Der in Camburg/Saale in der Bahnmeisterei arbeitende Mann wurde am 6. August 1943 in Plötzensee enthauptet. Das letzte Urteil vom April 1945 gegen den 46-Jährigen Kommunisten Erwin Scholz, wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Waffenbesitz und „Rundfunkverbrechen“, konnte nicht mehr vollstreckt werden, da er von Einheiten der Roten Armee wenige Stunden vor der Hinrichtung in Plötzensee gerettet wurde. Mindestens acht seiner mit ihm verhafteten Genossen hatten weniger Glück, sie waren schon zuvor ohne Gerichtsurteil erschossen worden. Bereits seit 1933 hatte das Kammergericht gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Gegner des Naziregimes „Recht“ gesprochen. Tuchel vermutet, dass alleine das Kammergericht zwischen 1933 und 1945 mindestens 5.000 Menschen in politischen Strafsachen verurteilte.
Als einziges deutsches Gericht, das auf eine mehr als 500- jährige Geschichte zurückblicken kann, wurde das Kammergericht zumeist als einen Hort richterlicher Unabhängigkeit und Liberalität gefeiert. Über die Schreibtischtäter, die sich dem Hitler-Regime ohne den geringsten Widerspruch anpassten und das Schicksal ihrer jüdischen Berufskollegen ohne auch nur eine Andeutung von Protest hinnahmen, ist nur wenig zu lesen. Man konnte den Eindruck gewinnen, der Nationalsozialismus sei urplötzlich wie ein böser Spuk über dieses makellose deutsche Gericht gekommen. Noch im September 2013 erschien ein Buch des ehemaligen Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg in dem der Volksgerichtshof als ein „verbrecherischen Gast“ des liberalen Kammergerichts bezeichnet wurde. Der Volksgerichtshof hatte, wie beim Schauprozess nach dem Stauffenberg-Attentat, mitunter im selben Gebäude getagt. Die ehemalige Präsidentin des Kammergerichts schreibt nun in ihrem Vorwort: „In Kenntnis der Forschungsergebnisse von Johannes Tuchel wird man fortan wohl nicht länger davon sprechen können, dass der ›Volksgerichtshof‹ nur als Gast im Kammergericht tagte. Er war, eine wenig schmeichelhafte Bilanz für das älteste deutsche Gericht, dessen vertrauter Partner im Unrecht.“ Leider sind im Buch die biographischen Angaben der namentlich bekannten Richter und Staatsanwälte, die an Todesurteilen beteiligt waren, nur äußerst rudimentär vorhanden und es fehlt ein Personenregister. Dazu seien noch umfangreiche weitere Recherchen notwendig, was man als Leser nicht so ganz nachvollziehen kann. Immerhin wird bei zwei Beteiligten ihre Nachkriegskarriere als Landgerichtsdirektor in Kiel, beziehungsweise als Senatspräsident am Finanzgericht Hannover erwähnt. Da es sich bei der Dokumentation laut Autor lediglich um ein Zwischenergebniss handelt, bleibt zu hoffen, dass diesbezüglich weitere Ergebnisse in Bälde veröffentlicht werden. Das schön layoutete Buch enthält viele Originaldokumente und Bilder. Erstmals wurden sechs Anklageschriften und 19 Todesurteile des Kammergerichts in Faksimile dokumentiert. Immer wieder erschreckend ist dabei, für welche Lappalien damals Menschen im Namen der Justiz umgebracht worden sind. Die 69 Todesurteile konnten aus verschiedenen Akten und Archiven rekonstruiert werden, denn die meisten Verfahrensakten wurden vernichtet. Wann und durch wen bleibt auch nach Lektüre des Buches im Dunkeln. Der Autor resümiert: „Die Funktion des Kammergerichts bei der Unterdrückung der politischen Opposition in der Vorkriegszeit ist also evident, aber noch nicht ausreichend untersucht.“ Ernst Reuß Tuchel, Johannes, Die Todesurteile des Kammergerichts 1943 bis 1945, Eine Dokumentation, 456 Seiten, 165 x 240 mm, Klappenbroschur, zahlreiche farbige Abbildungen, 1. Auflage, Januar 2016, ISBN 978-3-86732-229-4, Preis 24,90 |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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