Natascha Wodin gelingt das, was Autoren von historischen Sachbüchern oft nicht gelingt. Sie kleidet die Welt des letzten Jahrhunderts mit ihren katastrophalen Verwerfungen und den Auswirkungen auf die Familien in wunderbare Prosa, so dass man das Buch in einem Rutsch durchlesen kann, ohne es aus der Hand zu legen.
In der auf Tatsachen beruhenden Erzählung geht es vordergründig um das Leben ihrer ukrainischen Mutter, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte und mit ihrem Mann 1943 als „Ostarbeiterin“ nach Deutschland verbracht wurde. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Niedergang ihrer Familie im Bürgerkrieg und anschließendem Terror miterlebte, beging 1956 mit 36 Jahren Selbstmord, als die Tochter gerade einmal zehn Jahre alt war. Eine dramatische Familiengeschichte in Zeiten von Revolution, Hunger, Krieg, Gulag, Selbstmorden, Mord und dem Leben als „Heimatloser Ausländer“ in der fränkischen Provinz. Die wechselvolle Geschichte ihrer Familie ist sowohl ein Familiendrama als auch eine Flüchtlingsgeschichte aus dem letzten blutigen und sehr ereignisreichen europäischen Jahrhundert. Mit Hilfe eines computeraffinen Hobbyhistorikers aus Russland rekonstruiert sie die Herkunft ihrer Mutter. Die Geschichte dieser im ersten Teil des Buches aufgeschriebenen Recherche liest sich wie ein Krimi. Der zweite Teil des Buches verdankt sie den dadurch entdeckten Aufzeichnungen ihrer nicht mehr lebenden Tante. Er führt aus deren Perspektive vom vorrevolutionären Russland einer zu großem Vermögen gekommenen italienischstämmigen und adligen Familie, zu stalinistischen Terror und furchtbaren Hungersnöten. Ihre 1920 geborene Mutter hatte die einstmalige Pracht nie erlebt und daher auch nie thematisiert. Ihr Leben begann im revolutionären Chaos und stolperte von einer Katastrophe in die nächste. Ihre bürgerliche Herkunft war in der Ukraine lediglich eine Bürde und war für sie kein Grund in der Vergangenheit zu schwelgen. Der dritte Teil des Buches erzählt den Werdegang der Mutter, die trotz ihrer bürgerlichen Herkunft studieren konnte und nach dem Einmarsch der Wehrmacht eine Anstellung beim deutschen „Arbeitsamt“ fand, der Vermittlungsstelle für Zwangsarbeiter. Möglicherweise war diese Form von Kollaboration auch ein Grund ihres Weges nach Deutschland und im Gegensatz zu vielen anderen Ostarbeitern keine Verschleppung. Wodin wurde in einem Arbeitslager des Flick-Konzerns gezeugt und kam 1945 auf die Welt. Der vierte und letzte Teil des Buches erzählt von der Nachkriegszeit. Im Schuppen einer Eisenwarenfabrik in Nürnberg wächst die rebellische Tochter schließlich in ärmlichsten und schwierigen Verhältnissen auf. In ihrem Elternhaus mit einem gewalttätigen Vater und einer depressiven Mutter herrschen chaotische Verhältnisse, ansonsten wird geschwiegen. Wodins Mutter trauerte ihren engsten Familienangehörigen nach, die sie alle zu verloren haben scheint. Erst ihre Tochter findet nun wieder die Spuren dieser Familie und stellte dabei fest, dass man - ohne voneinander auch nur zu ahnen - sich nach dem Krieg an Orten befand, die nicht allzu weit entfernt waren. Die Nachkriegszeit und der beginnende Kalten Krieg ließen jedoch kein Wiedersehen zu. Für das Buch mit dem Titel „Sie kam aus Mariupol“ wurde Natascha Wodin zu Recht mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017 für Belletristik ausgezeichnet. Ernst Reuß Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 364 Seiten, 19,95 Euro.
Mit seinem Buch „Proud Boys“ analysiert der Autor Carl Kinsky, die erst vor einigen Jahren entstandene „Proud Boys Bewegung“. Er beginnt seine Analyse mit den Vorläufern dieser rechten Bewegung in den USA und skizziert ein aufgehetztes und gespaltenes Volk.
Die Proud Boys sind eine „gewaltorientierte Männergemeinschaft“, eine „Bruderschaft zur Wiedererlangung der authentischen Männlichkeit“. Pornographie und Masturbation sind verpönt, dafür gibt es die „Proud Boys Girls“. Das Motto lautet „arbeiten kämpfen ficken“. Der 2016 vom Mitbegründer des Online- und Print-Magazins VICE ins Leben gerufene Männerbund nahm einen rasanten Aufstieg von einem Männerstammtisch in New York zu einem bundesweit aufgestellten Netzwerk mit Kontakten ins politische Umfeld von Donald Trump, der sie bat „bereit zu sein“. Bei der gewalttätigen Erstürmung des US-Kapitols am 6. Januar 2021 spielten sie eine Schlüsselrolle. Trump hatte sie schließlich dazu aufgerufen, weil er seine Wahlniederlage bis heute nicht anerkennt. Den völlig unbelegten Vorwurf des massiven Wahlbetrugs hatte er auch am 6. Januar vor Anhängern in Washington wiederholt, als der Kongress Bidens Wahlsieg bestätigen wollte. Trump rief seine Zuhörer dabei auf zum Kapitol zu marschieren und „auf Teufel komm raus zu kämpfen“. Kurz danach stufte zumindest die kanadische Regierung die Bruderschaft offiziell als terroristische Vereinigung ein. Warum das in den USA noch nicht geschehen ist und warum gegen den Anstifter der Kapitolstürmung immer noch keine Anklage erhoben wurde, steht nicht im Buch. Das Büchlein hat nur 88 Seiten, aber mehr braucht es auch nicht um die Absurdität und die Gefährlichkeit solcher Bewegungen ausreichend darzustellen. Der letzte Satz des Buches ist eine Warnung, die der vernunftbegabte Teil der amerikanischen Politiker durchaus ernst nehmen sollte: „Mit der zunehmenden Positionierung der Republikanischen Partei als Fundamentalopposition zur liberalen Demokratie droht ein Abgleiten von Teilen der Partei in offen faschistische Politik.“ Ernst Reuß Carl Kinsky, Proud Boys, Trumpismus und der Aufstieg ultranationalistischer Bruderschaften, unrast transparent Band: 20, Münster 2021, 88 Seiten, 7,80 €
„Dieses Buch geht zurück auf eine mehrjährige Recherche für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) und das Handelsblatt. Was mit einem Fall von illegaler Polizeigewalt begann, auf den wir 2017 aufmerksam gemacht wurden, weitete sich schnell aus zu einer vertieften Langzeitbeobachtung. Denn recht bald wurde uns klar, dass hinter Polizeigewalt und anderem polizeilichem Fehlverhalten ein Systemversagen steckt.“ So beginnt das Buch „Tatort Polizei“ von zwei renommierten Journalisten vom Handelsblatt, beziehungsweise vom WDR.
Es ginge nicht darum die Polizei unter Generalverdacht zu stellen, sondern man wolle lieber dafür „streiten, das das Wirken der Polizei durch unabhängige Kontrolle gegen Zweifel und Vertrauensverlust schützt.“ schreiben die Autoren Jan Keuchel und Christina Zühlke in ihrem Vorwort. Es geht also darum Vertrauen zu generieren. Das Buch ist ein Plädoyer für unabhängige Ermittlungsbehörde auch gegen homophobe, rassistische und rechtsradikale Umtriebe. Es sind keine absolut spektakulären Fälle über die berichtet wird, sondern die eher unspektakulären, wie den einer gewaltsamen Festnahme am Christopher Street Day in Köln, der sich durch das ganze Buch zieht. Spektakulär wird der Fall erst mit der Vehemenz der Staatsanwaltschaft, die das Opfer und nicht die vermeintlichen Täter verfolgt. Erst nach Jahren und mehreren Prozessen, wird von einem nicht der Kumpanei verdächtigen Richter Recht gesprochen. Der Angeklagte wird freigesprochen, Polizei und Staatsanwaltschaft stehen am Pranger. Der Polizei wird ein schwerer Job, aber auch rechtswidriges Handeln attestiert. Die Staatsanwaltschaft gibt trotzdem nicht klein bei und erwirkt ein weiteres Verfahren - ebenfalls erfolglos. Die Ermittlungen gegen die Polizei gehen nur sehr, sehr langsam voran und enden nach Jahren mit einer Einstellung des Verfahrens gegen eine geringe Geldbuße. Ermittelt hatte dieselbe Staatsanwältin, die das Verfahren gegen das Opfer mit aller Vehemenz vorantrieb. Wenn Polizisten das Gesetz brechen, werden sie in den meisten Fällen nicht angezeigt, denn die Opfer fürchten zurecht die Ausweglosigkeit dieses Unterfangens. Bei Ermittlungen errichten Polizisten aufgrund des „Korpsgeistes“ oftmals eine „Mauer des Schweigens“. Aussagen werden verweigert und man deckt sich gegenseitig. Ein anderer Fall: eine Hinweisgeberin von rechtsradikalen Chats, wurde erst vom zuständigen Innenminister gelobt, dann vom Polizeipräsidium suspendiert. Die Verfasser der rechtsradikalen Chats erst mal nicht. Wer bei der deutschen Polizei intern aufbegehrt oder gar Kollegen anzeigt, büßt oft mit Schikane und Mobbing. Wenn wie im Ausgangsfall Polizisten beleidigen, drohen und schlagen, werden sie so gut wie nie bestraft. Nur selten kommt es zu einer Anklage. Zumindest nicht gegen die Polizeibeamten. Geht ein Verfahren gegen Polizisten doch einmal vor Gericht, dann sprechen Polizisten ihre Aussagen offenbar ab. In diesem Fall hatte eine Polizeischülerin nicht mitgemacht. Schnell wurde trotzdem auch hier ein „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ konstruiert und mit einer Gegenanzeige gekontert. Solche Fälle sind vielfach belegt. Die Staatsanwaltschaft hat eigentlich die Aufgabe nicht nur die belastenden, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände objektiv zu ermitteln und wird daher häufig auch als „objektivste Behörde der Welt“ bezeichnet. Mit der Wirklichkeit hat das nur zum Teil zu tun, denn Staatsanwaltschaft und Polizei arbeiten eng zusammen. Das „Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei“ ist ein Dauerthema der justiz- und kriminalpolitischen Diskussion in Deutschland. Offiziell gelten Polizisten als „Hilfsbeamte“ der Staatsanwaltschaft, auch wenn es oft umgekehrt scheint. Objektiv wirkt die Staatsanwaltschaft, wie in den im Buch beschriebenen Fällen, oftmals nicht. In anderen Ländern funktionieren Ermittlungen gegen Polizisten anders: Sie sind ausgelagert und unabhängig. Neutrale Ermittlungsbehörden helfen auch gerade der Polizei selbst, denn die stünde dann nicht mehr im Geruch des Korpsgeistes. Das würde ihnen in ihrem - gerade in der heutigen Zeit - äußerst schwierigen Job, letztendlich viel mehr nutzen, als Taten von schwarzen Schafen innerhalb der Behörde zu verschleiern. In Deutschland wehrt sich nicht nur die Polizeigewerkschaft gegen solche Pläne. Ernst Reuß Keuchel, Jan / Zühlke, Christina, Tatort Polizei, Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle, ein Report, München 2021, 219 S., 16 €
„Auch außerhalb dieser drei Lager kam es zu Erschießungen. Im September 1941 und im Frühjahr 1942 sogar zu Massenerschießungen. 33 150 Juden hatten 1939 in Winniza gelebt, was immerhin 35,6% der Gesamtbevölkerung war. Als die Deutschen am 19. Juli 1941 die Stadt einnahmen waren noch 18 000 jüdische Bürger in der Stadt, der Rest war geflohen. Schätzungen gehen davon aus, dass am 19. September 1941 mehr als 10 000 Juden durch das 45. Reserve-Polizeibataillon erschossen wurden. Am 15 April 1942 wurden nochmal knapp 5 000 Juden kurz vor den Toren der Stadt Winniza umgebracht. Ungefähr 1 000 unabkömmliche Handwerker ließ man vorerst noch am Leben.
Rhodes beschreibt in seinem Buch „Die deutschen Mörder“ das zweite Massaker wie folgt: 'Schneider, Schuhmacher, Tischler, Bauhandwerker und alle anderen mit einer Arbeitserlaubnis der obersten Kategorie wurden nach links gewiesen und konnten in die kleinen Konzentrationslager neben ihren Werkstätten zurückkehren; die übrigen etwa 5ooo Menschen - Alte, Frauen und Kinder - wies man nach rechts. Anschließend wurden sie unter deutscher Aufsicht von den ukrainischen Hilfstruppen zu Fuß oder per Lastwagen zu der Gärtnerei gebracht, auf deren Gelände im Norden der Stadt sieben Monate zuvor bereits 1o ooo Menschen ermordet worden waren. In der Anlage klaffte eine große Grube; ein mit Brettern ausgelegter Pfad und ein lächelnder deutscher Offizier, der den Damen seine stützende Hand bot, sollten den Abstieg zum Grubenboden erleichtern. Am Grubenrand saß ein Ukrainer mit einem Maschinengewehr, rauchte eine Zigarette und ließ die Beine baumeln. In drei Metern Abstand von dieser langgestreckten großen Todesgrube hatten die Deutschen noch eine kleinere, quadratische Grube von vielleicht vier Metern Seitenlänge angelegt. Bei jedem Schub von Opfern, den sie zur großen Grube trieben, verlangten sie die Herausgabe der Kinder. Sie übernahmen die Kleinen, zerrten den Müttern die Babys aus den Armen, stießen, schlugen und brüllten die jammernden Mütter an - und erschlugen oder erschossen dann die Kinder an der kleinen Grube, während sie mit den Erwachsenen in der großen eine ‚Sardinenpackung‘ machten.' Direkt nach dem Krieg sollen gerade noch 74 Bürger jüdische Überlebende gezählt worden sein. Heute ist nur noch 1 % der Bevölkerung jüdischen Glaubens.“ (Ernst Reuß, Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, S. 84) Beide Massenerschießungen fanden vor den Toren der Stadt statt. Dort waren zwei Gruben ausgehoben worden. Heute ist die Stadt gewachsen und die Stätten der Massenmorde befinden sich jetzt auf dem Gelände einer privaten Gärtnerei. Drei erst in jüngster Zeit von jüdischen Organisationen errichtete kleine Denkmäler weisen auf die Erschießungsorte hin; sonst gibt es nichts. Da die Denkmäler sich auf einem Privatgelände befinden, ist der Zugang nicht immer gewährleistet. Die Massaker sind weitestgehend vergessen. Eines der Denkmäler erinnert an die ermordeten Kinder, die ihren Müttern weggenommen und am Rand der einen Grube ermordet worden waren. Ernst Reuß
Stalag 329 war ein Kriegsgefangenenlager in der Ukraine. In den erhalten gebliebenen Statistiken wurden erstmals am 1. September 1941 13 491 Kriegsgefangene erwähnt. Anfangs wurden nichtrussische Kriegsgefangene, insbesondere Ukrainer, noch entlassen, soweit sie nutzbringend im deutschen Interesse eingesetzt werden konnten. Diese Politik hatte aber schon im November 1941 ein jähes Ende gefunden. Grund dafür war die Angst vor einem Anwachsen der Partisanenbewegung.
„Gut ging es den Gefangen sicherlich nicht, wie auch das Massengrab zeigt, in dem heute noch mehrere tausend Leichen liegen. In einem der wenigen Zeitzeugenberichte eines in Winniza gefangenen Rotarmisten hieß es: ‚Ich geriet Ende Juli 1941 in Kriegsgefangenschaft und befand mich im Lager bei Winnica [Stalag 329] in der Ukraine. Wir lebten hinter Stacheldraht. Leben? Kann man das als „Leben“ bezeichnen? Weder Verletzten noch Kranken wurde geholfen. Es starben Dutzende. Morgens holte ein spezielles Kommando die Verstorbenen ab. Sie starben vor Hunger, Verwundungen, Krankheiten. Ich war aber jung und vor der Gefangennahmen absolut gesund. Hauptsache, ich wollte leben. Ich habe überlebt. Im Herbst wurden Gesunde und Junge mit einem Güterzug nach Deutschland abtransportiert.‘“ (aus: Ernst Reuß, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, S. 84 ff.) Von 5,7 Millionen Gefangenen in den Lagern kamen bis zu 3,3 Millionen um. Sowjetische Kriegsgefangene sind neben den Juden diejenige Opfergruppe, die das schlimmste Schicksal im Zweiten Weltkrieg erleiden musste. Die Ukraine ist auch heute im Kriegszustand. Stalag 329 befindet sich zum Teil auf militärischem Sperrgebiet, das man nur mit Sondergenehmigung und beschränkter Fotografiererlaubnis besuchen darf. Eine Baracke blieb erhalten. Dort befindet sich am Fundort eines Massengrabes das Mahnmal für die 2008 an diesem Ort exhumierten Überreste der verscharrten Kriegsgefangenen. Im nahe gelegenen frei zugänglichen Teil des ehemaligen Stalags 329 befindet sich ebenfalls ein Mahnmal. Ernst Reuß
„Franken war eine bedeutende Wiege jüdischer Geschichte und Kultur in Süddeutschland. Heute blicken wir auf eine fast tausendjährige jüdische Geschichte zurück, in der sich vielfältige und bedeutende kulturelle Traditionen entwickelten, mit großen Gelehrten, eigenen religiösen Riten, fränkisch-jüdischen Dialekten, besonderen kulinarischen Gebräuchen, erstaunlich vielen Synagogenbauten und über hundert jüdischen Friedhöfen.“
Dieses Zitat aus dem Buch „Die Juden in Franken“ sagt schon viel aus. Im Gegensatz zu anderen Territorien des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ wurden Juden nie dauerhaft aus ganz Franken vertrieben und lebten daher seit dem Ende des 11. Jahrhunderts kontinuierlich in diesem Gebiet. Als Kaufleute, Händler und Geldverleiher standen sie unter dem Schutz der jeweiligen Herrscher, die sie für ihre eigenen Geschäfte nutzten. Grund war das mittelalterliche Zinsverbot, das den gewerbsmäßigen Geldverleih als verdammenswert hinstellte und für Christen, aber nicht für Juden galt. Juden gehörten seit Jahrhunderten denselben Vereinen an wie Christen, saßen in denselben Wirtshäusern und waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im dörflichen Gemeinderat vertreten. Allerdings gab es auch viel Misstrauen den Andersgläubigen gegenüber. Im 13. und 14. Jahrhundert erlebten fränkische Juden eine Vielzahl von Vertreibungswellen und Pogromen. Die tiefgreifendsten waren die „Rintfleisch-Verfolgung“ von 1298, der Armleder-Pogrom zwischen 1336 und 1338, sowie die Vertreibungen zur Zeit der Pest um 1348. Die „Rintfleisch-Verfolgung“ begann aufgrund eines angeblichen Hostienfrevels. Eine Gruppe von „Judenschlägern“ zog unter der Führung eines Mannes namens Rintfleisch durch Franken und den angrenzenden Gebieten. Am 20. April 1298 wurden 21 Juden in der Stadt Röttingen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Rintfleisch behauptete, er habe vom Himmel eine persönliche Botschaft erhalten und sei zum Vernichter aller Juden ernannt worden. Insgesamt wurden mindestens 4 000 bis 5 000 Juden ermordet. Es erwischte allerdings auch einige Christen, die ihre Nachbarn schützen wollten. Jüdische Gemeinden vieler Städte in Franken wurden ausgerottet. Große Opferzahlen hatten Neustadt an der Aisch, Iphofen, Ochsenfurt, Bad Mergentheim Bad Windsheim, Rothenburg ob der Tauber, Nördlingen, Heilbronn, Weißenburg, Neumarkt, Bamberg und Nürnberg zu beklagen. In Würzburg wurden am 24. Juli 1298 alleine mindestens 900 Juden ermordet. Nur einige Jahrzehnte später von 1336 bis 1338 kam es zum „Armlederaufstand“ mit einer Reihe von Massakern an jüdischen Gemeinden im südwestdeutschen Raum und im Elsass. Anführer des Aufstands war Ritter Arnold III. von Uissigheim, ein abgehalfterter Edelmann, der auch „König Armleder“ genannt wurde. Die marodierende Truppe konnten erst unter Mithilfe der Würzburger Stadtbevölkerung bei Ochsenfurt aufgehalten werden. Armleder wurde festgenommen und am 14. November 1336 in Kitzingen hingerichtet. Die Leiche brachte man in sein Dorf Uissigheim und begrub sie in der Kirche. Dort wurde er bis ins 18. Jahrhundert als Wundertätiger verehrt. Im „Arnolds-Kasten“ wurden von den Bauern Opfer dargebracht, um Seuchen und Krankheiten von ihrem Vieh abzuwenden. Später wurde die Geschichte umgeschrieben und Armleder wurde plötzlich zum Opfer von Juden umgedeutet, die eine Fronleichnamsprozession verspottet hatten. Fake-News gab es also auch schon zur damaligen Zeit, auch wenn sie noch nicht so genannt wurden. Die ehemalige Hauptstraße in Uissigheim heißt übrigens heute noch „Ritter-Arnold-Straße“. Die Armledermassaker waren sozusagen ein Vorspiel zu den Judenverfolgungen zur Zeit der Pest, die zehn Jahre später in ganz Mitteleuropa ausbrachen. Neben den üblichen „Hostienfrevel“ und dem „Ritualmord“ wurden den Juden nun vor allem die „Brunnenvergiftung“ und die Einschleppung der Seuche vorgeworfen. Auch in Würzburg kam es am 21. April 1349 erneut zu einem Massaker. Papst Clemens VI. versuchte zwar das Schlimmste zu verhindern und argumentierte, dass auch die Juden selbst von der Pest heimgesucht worden und Orte, in denen keine Juden gewohnt hätten, auch nicht von der Seuche verschont geblieben seien. Er verbot daher, Juden ohne Gerichtsverfahren hinzurichten, hatte allerdings wenig Chancen bei dem wütenden und aufgehetzten Christenmob. Gründe fand man also immer, um Juden zu massakrieren. Allerdings lässt sich im Nachhinein sagen, dass vor allem ökonomische Faktoren das wesentliche Motiv der „Judenschläger“ war. Man wollte schlicht und einfach seine Schulden loswerden. Vor allem in den weitgehend monokulturellen Weinbauregionen Unterfrankens, des Mittelrheins und des Elsass gab es Missernten und man hatte daher einen erheblichen Kreditbedarf, den man nur beim Juden decken konnte; Christen waren ja Geldgeschäfte verboten. Auch die Verteilung des jüdischen Besitzes und Außenstände wurden meist bereits im Vorfeld geregelt. Das sollte sich später im „Dritten Reich“ wiederholen. Einige Jahrhunderte später, nach der Eingliederung Frankens in das bayerische Königreich, griff das sogenannte bayerische Judenedikt von 1813, das die rechtlichen Verhältnisse der dortigen jüdischen Bevölkerung neu regelte. Von den 53 208 Juden in Bayern im Jahr 1818 lebten über 65 Prozent in Franken. Die dichteste jüdische Bevölkerungsansiedelung bestand in Unterfranken, dessen 16 337 Juden 3,38 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Das Edikt eröffnete den Juden zwar neue wirtschaftliche Perspektiven, erstrebte aber gleichsam eine Begrenzung der jüdischen Bevölkerung. Die Einführung einer „Obergrenze“ ist also keine ganz neue Idee. Bis 1819 wuchs die neue jüdische Gemeinde Würzburgs auf etwa 400 Personen an. Im selben Jahr kam es zu den sogenannten „Hepp Hepp Krawallen“. Auf verteilten Flugblättern stand: „Hepp, hepp, der Jude muß inn Dreck“ oder „Hepp, hepp, Jude verreck“. Jüdische Bürger wurden beschimpft, bedroht, misshandelt und ihre Synagogen, Geschäfte oder Wohnungen angriffen und teilweise zerstört, was stark an die sogenannte „Reichskristallnacht“ erinnert. Obwohl die jüdische Bevölkerungszahl in Franken bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark zurückgegangen war, war insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg ein deutlicher Anstieg antisemitischer Bewegungen zu verzeichnen. Viele Antisemiten wie Julius Streicher fanden früh in Franken ein Betätigungsfeld. Im Zuge der „Arisierung" stach Franken besonders hervor. In Bayern lebten zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme 41 939 Juden. Die meisten von ihnen - etwa 22 000 Menschen, weit über 60 Prozent - waren in Franken beheimatet, insbesondere in Mittelfranken und Unterfranken. Lediglich fünf bayerisch-jüdische Gemeinden hatten mehr als tausend Mitglieder, nämlich München (9005), Nürnberg (7502), Würzburg (2145), Fürth (1990) und Augsburg (1030). In neun Orten - Bamberg, Aschaffenburg, Bad Kissingen, Regensburg, Kitzingen, Schweinfurt, Ichenhausen, Coburg und Bayreuth – zählte die jüdische Gemeinde zwischen 300 und 1000 Mitglieder. Eigentlich nicht viele Andersgläubige, aber für die nun Herrschenden anscheinend doch noch zu viel. Der Ausgang der neuerlichen Pogrome ist bekannt. Am Ende des „1000-jährigen Reiches“ gab es kaum noch Juden in Franken und Bayern. Eigentlich sollte so etwas im aufgeklärten Zeitalter nicht mehr passieren können, doch sicher kann man sich leider nicht sein, wenn man sieht, wie leicht sich auch heute noch Massen aufhetzen und manipulieren lassen, wenn es um Minderheiten oder Schwächere geht und Sündenböcke gesucht werden. Ernst Reuß Weitergehende Informationen: v. Brenner, Michael / Eisenstein, Daniela F. (Hrsg.), Die Juden in Franken, Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern VI, 295 Seiten, Gebunden, € 34.95
Der bereits 1820 gegründete Pustet Verlag aus Regensburg hat sich auf Regionalliteratur spezialisiert. Neben theologischer Literatur auch auf die Regionalgeschichte.
Für gebürtige Franken besonders interessant sind natürlich die Bücher über Franken. Es gibt die kleine Geschichte Ober-, Mittel- und Unterfrankens, aber auch die kleine Geschichte Frankens. Geschrieben von der leider zu früh verstorbenen Historikerin Anna Schiener. Ein sehr interessantes Buch in dem man erfährt, dass die ersten Frühmenschen bereits vor 600 000 Jahren dort gewesen sind. Viel Spuren haben sie nicht hinterlassen, anders als der Homo Sapiens mit seiner Besiedlungsgeschichte viele Jahre später - ab 35 000 v. Chr. Einiges später kamen Kelten, Germanen und Römer. Die Vandalen und Sueben plünderten, bevor sich eine gotisch-thüringische Allianz im 6. Jahrhundert gegen die neue Bedrohung aus dem Westen wappnete. Die Franken kamen. Sie hatten sich so Mitte des 3. Jahrhunderts aus verschiedenen germanischen Stämmen am Niederrhein zusammengeschlossen und wurden von den Römern als „franci“ bezeichnet, was soviel wie die Frechen, Mutigen beziehungsweise die Kühnen bedeutete. Diese germanischen Stämme und die Einheimischen vermischten sich im Laufe der Zeit sprachlich und kulturell. Der Großteil der Bevölkerung war bis weit ins Frühmittelalter heidnisch. Die Ersten, die versuchten zu missionieren, waren seit Anfang des 7. Jahrhunderts irische Wanderprediger. Franken wurde auch deswegen später zur Hochburg der Hexenverfolgung. Franken war stets ein umkämpfter Raum. Im Gebiet des heutigen Franken kam es daher auch zu einer Art „Game of Thrones“ mit dem Königsgeschlecht der Merowinger und der Karolinger. Kaiser, Könige, Adlige, Ritter, Päpste, Bischöfe und einfache Bürger rangen hier rücksichtslos um die Macht. Viele Kriege hatte die Bevölkerung zu überstehen. Vom Bauernkrieg über den Markgrafenkrieg zum Dreißigjährigen Krieg. Es entstand ein Gebiet mit vielen Zentren, aber ohne zentrale Herrschaft, bis Franken 1803 unter dem Druck Napoleon Bonapartes große Teile seines Gebietes an Bayern verlor. Die heutige Region Franken ist auf die Bundesländer Hessen, Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg aufgeteilt. Nicht nur das, sondern auch andere interessante Einzelheiten erfährt man im Buch. So wurde in Franken schon hundert Jahre vor Friedrich dem Großen Kartoffel angebaut. Was es mit der „weißen Frau“ und dem „grindigen Heinz“ auf sich hat, kann man nachlesen. Es geht im Buch auch um heute und um die Nazizeit. Vor der Zeit des Nationalsozialismus galt Franken als eine jüdische Hochburg, leider auch bei den Pogromen. Judenpogrome, wie die „Rintfleisch-Verfolgung“, den „Armlederaufstand“ und andere Massaker werden trotz der sonstigen Ausführlichkeit der Darstellungen erstaunlicherweise nicht erwähnt. Ernst Reuß Anna Schiener, Kleine Geschichte Frankens, 'Bayerische Geschichte'. Regensburg, 6. Auflage 2019, 198 Seiten, 14,95 € Erich Schneider, Kleine Geschichte Unterfrankens, 'Bayerische Geschichte'. Regensburg 2020, 164 Seiten, 14,95 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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