Babyn Yar (oder Babi Jar) war eine Schlucht kurz vor den Toren der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Dort fand 1941 das größte Massaker an jüdischen Männern, Frauen und Kindern im Zweiten Weltkrieg statt.
„In der Schlucht von Babi Jar bei Kiew wurden am 29. und 30. September 1941 insgesamt 33 771 Menschen bestialisch ermordet. Die am Morden in der Schlucht von Babi Yar beteiligten Polizeibataillone sollen auch hier ‚nur‘ abgesperrt und die Opfer zum Erschießungsort getrieben haben, was zur Zeit der Ermittlungen als verjährte Beihilfe nicht mehr bestraft werden konnte. Da auch bei den Erschießungen alles seine Ordnung haben musste, wurde normalerweise die Kleidung der Massakrierten fein säuberlich auf Lastwagen verfrachtet, desinfiziert und der NS-Volkswohlfahrt zugeführt. Auch das wurde penibel dokumentiert: ‚137 Lastwagen Bekleidungsstücke, die im Zuge der in Shitomir und Kiew vorgenommenen Judenaktionen angefallen waren, wurden der NSV zur weiteren Verwendung zur Verfügung gestellt. Der größte Teil davon gelangte nach der notwendigen Desinfektion zur Verteilung an Volksdeutsche. U. a. konnte auch ein Kriegslazarett der Waffen-SS seinen Bedarf an Wolldecken usw. aus diesem Vorrat decken.‘“ (Ausschnitt aus Ernst Reuß, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, S. 35 f.) In Deutschland wurden diese Verbrechen lange verdrängt. 1968 sagte eine der wenigen Überlebenden vor dem Landgericht Darmstadt aus und wurde wenig beachtet. Lediglich ein Lokalblatt berichtete. In der Sowjetunion wurde in der Erinnerungspolitik eher an Helden als an Opfer erinnert. Die besondere Erinnerung an Opfergruppen insbesondere der jüdischen Opfergruppe war unerwünscht. Heute gibt es diese Schlucht so nicht mehr. Die Stadt Kiew ist inzwischen größer geworden. Der U-Bahn Ausgang ist genau dort, wo einst die Menschen zu ihrer Erschießung getrieben worden waren. Es gab dort nicht nur dieses eine große Massaker Ende September 1941, sondern viele weitere Erschießungen. Nach dem Krieg wurden die Leichen exhumiert, mindestens 65 000 sollen es nach neuesten Erkenntnissen gewesen sein. Danach sollte dort ein Vergnügungspark entstehen. Inzwischen erinnern im aufgeschütteten parkähnlichen Gelände jedoch viele Gedenktafeln und Denkmäler an die Opfer und an die verschiedenen Opfergruppen. Auch ukrainischen Nationalisten wird gedacht. Babyn Jar ist inzwischen ein umkämpfter Erinnerungsort. Im Augenblick wird ein Konzept für ein einheitliches Gedenkzentrum entwickelt. Man streitet sich über verschiedene Konzepte. Es geht auch da viel um nationalistische und antirussische Bestrebungen und es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis man sich auf ein gemeinsames Konzept geeinigt hat. Erinnerungspolitik im eher schlechten Sinn, bei der es immer auch um die Sichtweise der jeweiligen Machthaber geht und weniger um das Gedenken an das größte Massaker an jüdischen Männern, Frauen und Kindern im Zweiten Weltkrieg. Mit Babyn Jar hat sich anlässlich des 80. Jahrestags des Verbrechens auch die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde beschäftigt und veröffentlichte das Themenheft „Babyn Jar – Der Ort, die Tat und die Erinnerung“ in ihrer Zeitschrift Osteuropa 1-2/2021. Intensiv beschäftigt man sich dort mit dem Verbrechen, analysiert die juristische Aufarbeitung, die erinnerungspolitischen Konflikte, die künstlerische Aufarbeitung und dokumentiert die Aussagen von Dina Proničeva eine der wenigen Überlebenden. Lesenswert! Ernst Reuß Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. (Hrsg.), Osteuropa 1-2/2021, Babyn Jar – Der Ort, die Tat und die Erinnerung, Berlin 2021, 20 €.
Nach fünfzehn Monaten ist die Koalition aus der „Lega Nord“ Matteo Salvinis und der Fünf-Sterne-Bewegung 2019 zerbrochen. Der Putinfreund Salvini wollte Neuwahlen, um nach der ganzen Macht zu greifen. Dass das eine Fehlkalkulation war, hat sich nach der Bildung einer neuen Koalition, bestehend aus Fünf-Sterne und Sozialdemokraten, herausgestellt. Am 25. September 2022 gab es jedoch schon wieder Wahlen, Salvini gehört zu den Siegern und wird wohl wieder einer Regierung angehören.
Lorenz Gallmetzer, gebürtiger Südtiroler und langjähriger ORF Korrespondent, analysiert in seinem kurz vor dem Zerbrechen der Koalition geschriebenen Buch „Von Mussolini zu Salvini“ die neueste italienische Geschichte. Seine These von „Italien als Vorreiter des modernen Nationalpopulismus“ untermauert er mit einem Rundumschlag der politischen Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg. Er will deutlich machen, dass der Aufstieg der radikalen Rechten zur stärksten Kraft in einem der wichtigsten Staaten der Eurozone mehr ist als eine der gewohnten italienischen Regierungskrisen. In seinem Buch geht es um mehr als um Salvini. Salvini forderte einst die Schaffung eigener, „nur für Mailänder reservierter Waggons in der U-Bahn und Sitzplätze in den Bussen. Die Kritiker derartiger Vorkommnisse quittierte Salvini mit verächtlichem Gegenangriff – alles nur Geschrei linker Gutmenschen.“, schreibt Gallmetzer. Salvini hatte früher auch kein Problem damit, gegen Süditaliener zu hetzen. Nun vertritt er auch sie und entwirft neue Feindbilder. Geschickt gelingt ihm „die propagandistische Vermengung von Migration, Kriminalität, Mafia und Drogenhandel, Gewalt gegen Frauen und ‚anpassungsunwilligen Roma‘“. Inzwischen führt er für alle Italiener einen Kreuzzug gegen das Böse und erklärte sich zum Beschützer des kleinen Mannes. Er plädierte jetzt für die Trennung von Italienern und Einwanderern in Zugabteilen. Während er früher „Padanien“, also die eher nördlich gelegen Regionen, vom „römischen“ Südteil abspalten wollte, will er nun Italien aus der EU abspalten. Ein Drittel der Italiener halten die Migration für das größte Problem des Landes. Die Zahl der in Italien befindlichen Ausländer wird oft auf ein Viertel der Bevölkerung geschätzt; tatsächlich sind es lediglich sieben Prozent, der zweitniedrigste Anteil in ganz Westeuropa. Trotzdem sind Ablehnung bis hin zu Feindseligkeit gegenüber Migranten in der italienischen Bevölkerung so weit verbreitet wie in kaum einem anderen westlichen EU-Land. Und das, obwohl fast jede Familie einen mehr oder weniger nahen Verwandten mit Migrationsgeschichte hat! Für die Ablehnung gibt es laut Gallmetzer auch Gründe. Mit den Flüchtlingsströmen wurde Italien lange Zeit alleine gelassen. Außerdem sei Italien praktisch das einzige europäische Land, das sich von der Finanzkrise 2008 nicht erholt habe. Besonders im Süden herrscht große Arbeitslosigkeit. „Matteo Salvini brachte die Zuspitzung der Migrationskrise spürbaren Aufwind“. Nun rückte „die Rettung Italiens vor den ‚anstürmenden Migranten‘ und die Warnung, Europa könnte zu ‚Eurabien‘ werden, ins Zentrum seiner Reden und Propaganda- Slogans.“, schreibt der Autor. Für die Süditaliener begann die „Flüchtlingskrise“ schon nach dem Fall der Berliner Mauer. Seit jener Zeit wurde Italien zum Zielland von Hunderttausenden Migranten – vom Balkan, aus dem Nahen Osten und vor allem aus Afrika. „In den kleinen und großen Häfen des Südens wurden die Küstenwache, die Fischer mit ihren Booten und die Bevölkerung unfreiwillig zu Dauer-Seenotrettern und zugleich zum schwer zu ertragenden Bestattungsdienst für die vielen Ertrunkenen. Das restliche Europa schaute weg oder kritisierte Italien gar, weil es die Migranten nicht daran hinderte, nach Norden weiterzuziehen.“ Ob Agitation und Mobilisierung von orientierungslosen und verängstigten Italienern, zeitgleich mit Nationalismus und Hetze gegen Minderheiten schon als neuer Faschismus zu werten ist, lässt der Autor offen. Er legt sich nicht fest, lässt aber andere sprechen, um die Debatte darüber darzustellen. Dasselbe Prinzip wendet er an um darzulegen, was ein Wahlsieg Salvinis bedeuten würde und meint: „Die großen Reformen zur Bekämpfung der Bürokratie und der Korruption, zur Sanierung der maroden Infrastruktur, zur Modernisierung des Landes sind jedenfalls nicht in Sicht.“ Ernst Reuß Lorenz Gallmetzer, Von Mussolini zu Salvini, Italien als Vorreiter des modernen Nationalpopulismus, 192 Seiten, Kremayr & Scheriau, Wien 2019, 22,00 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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