Wie viele Menschen seit Ende des Krieges in Deutschland durch rechte Gewalt getötet wurden ist umstritten. Man muss schließlich das Motiv des Täters dafür kennen. Das ist nicht immer einfach. Auf jeden Fall sind es viel zu viel Getötete.
Der Autor Thomas Billstein zählt in seinem eben im Unrast Verlag erschienenen Buch „Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945“ über 300 Todesopfer auf. Er berichtet darin über die Taten, die Täter und erinnert an die Opfer. Viele Verbrechen werden offiziell nicht als rechtsradikale Taten eingestuft, aber der Leser kann sich anhand des Buches selbst eine Meinung bilden. Zahlreiche Opfer sind vollkommen unbekannt. Die Opfer wurden laut Billstein allein aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihrer Religion, ihrer Lebensweise oder ihres politischen Engagements gejagt, verfolgt, verprügelt, gefoltert, misshandelt und getötet. Ausländer oder „Assis“ „klatschen“ war und ist bei vielen Jugendlichen aus dem rechtsradikalen Milieu immer noch angesagt. Das Buch will nach Aussage des Verlages „nicht nur der Opfer gedenken, sondern auch auf die unvermindert drohende Gefahr durch rechte Gewalt aufmerksam machen.“ Man kann nur wünschen, dass dem Vorhaben Erfolg beschieden ist. Ernst Reuß Thomas Billstein, Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945, Unrast Verlag, Münster 2020, 344 Seiten, 19,80
True Crime ist angesagt und kann auf verschiedene Art und Weise erzählt werden. Der Autor Fred Sellin versetzt sich in seinem Buch „Nur Heringe haben eine Seele“ überzeugend in einen Serienmörder und Triebtäter hinein und erzählt einen auf Tatsachen basierenden Roman aus der Perspektive des Mörders. Der Titel beruht auf eine Weisheit des Serienkillers Rudolf Pleil, der zu wissen glaubte, dass Menschen keine Seele haben, denn das hätte er beim „Totmachen“ bemerkt. Bei Heringen sei das etwas anderes gewesen. Die traurige Lebensgeschichte eines Serienmörders von ihm persönlich erzählt, also. Die Morde selbst spielen da eher eine Nebenrolle. Es ist eine Lebensbeichte, immer wieder unterbrochen von aussagekräftigen Akten aus dem Niedersächsischen Landesarchiv. Anhand von protokollierten Aussagen und Gutachten, geht es dabei um ein Stück Zeitgeschichte und die Lebensumstände des Täters während der Nazizeit, die zu einer ständigen Verrohung führten.
Der in einem Dorf im sächsischen Erzgebirge geborene Rudolf Pleil war 23 Jahre alt, als er 1947 verhaftet wird. Er wird zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er einen Kaufmann aus Hamburg erschlagen hatte. Aber damit nicht genug. Pleil ist ein Serienmörder, was sich erst durch seine Prahlerei im Zuchthaus herausstellt. Er brüstet sich der „beste Totmacher Deutschlands“ zu sein und gesteht mehr als 25 Morde, zumeist an Frauen, um sie sexuell zu missbrauchen. Pleil ist geltungssüchtig und will den bisherigen „Star der Branche“ Fritz Haarmann übertreffen, dem 24 Morde zur Last gelegt wurden. Dieser Ehrgeiz trieb ihn auch dazu, detaillierte Aufzeichnungen über seine Taten anzufertigen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Pleil genoss die Aufmerksamkeit um seine Person und versuchte sich so oft wie möglich in den Mittelpunkt zu stellen. Die Mordserie am Zonenrandgebiet im Harz gehörte zu den größten Verbrechen der Nachkriegszeit und der anschließende Prozess gilt als das spektakulärste Gerichtsverfahren im Nachkriegsdeutschland, über das Medien im In- und Ausland berichteten. Pleil war als „Grenzgänger“ im Harz tätig und half zahlenden Menschen die Grenze illegal zu passieren. Fred Sellin hat für sein Buch Gerichts- und Ermittlungsakten eingesehen, darunter auch die von Rudolf Pleil eigenhändig auf 127 Seiten verfassten Geständnisse mit dem selbstgewählten Titel „Mein Kampf – von Rudolf Pleil, Totmacher a.D.“. Schreckliche Zeugnisse eines vollkommen harmlos und nett aussehenden, untersetzten kleinen Mannes, mit einer runden Intellektuellenbrille, der auf dem ersten Blick scheinbar kein Wässerchen trüben kann. Ein Intellektueller war er freilich nicht, wie man anhand seiner Aufzeichnungen sehen kann. Sellin versucht Pleils Ton zu treffen und schreckt dabei auch nicht vor grässlichen und nur schwer zu ertragenden Einzelheiten zurück. Pleil, war ein sadistischer Triebtäter, den Blut und die Taten erregten, so dass er auch ohne weiteres eigenes Zutun ejakulierte. Teilweise hatte er bei seinen Taten Komplizen, die scheinbar ähnlich brutal waren wie er, ohne dabei Triebtäter zu sein. Anfangs wird ihm aufgrund seiner Geltungssucht nicht geglaubt, später können ihm die Ermittler elf Morde und einen Mordversuch nachweisen. Viele der anderen von ihm gestandenen Fälle bleiben bis zum heutigen Tag ungeklärt. Da die Todesstrafe kurz zuvor abgeschafft wurde, wird er zu lebenslanger Haft verurteilt. 1958 erhängt er sich in seiner Zelle. Für Menschen mit starken Nerven absolut lesenswert! Ernst Reuß Fred Sellin, Nur Heringe haben eine Seele, Geständnis eines Serienmörders - der Fall Pleil, Droemer HC, München 2020, 320 Seiten, 20 €
Über 500 Biographien zu Karl V., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, gibt es bereits. Auch er selbst hatte schon 1550 seine Memoiren geschrieben. Trotzdem gibt es immer wieder Neues zu erfahren, wie auch in einem aktuellen und umfassenden Buch über Kaiser Karl.
Geoffrey Parker, einer der renommiertesten britischen Historiker, porträtiert darin äußerst akribischen den Lebensweg des Habsburgers, der im Jahre 1500 geboren und 1520 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wurde. Sieben Kurfürsten entschieden darüber, wer Kaiser werden soll. Sie wurden mit „Wahlgeld“ vom richtigen Kandidaten überzeugt. Beinahe die Hälfte seines Lebens verbrachte Karl in den Niederlanden, ungefähr ein Drittel in Spanien und ein Sechstel in Deutschland. Den Rest verbrachte er auf seinen vielen Reisen und Feldzügen, bevor er 1558 starb. Er war der am weitesten gereiste Herrscher der Frühen Neuzeit. Karl, der zeitlebens an der vorstehenden „Habsburger Unterlippe“ litt, erbte von beiden Großeltern auch vier politisch eigenständige Reiche, darunter die eroberten Überseegebiete. Als gebürtiger Flame sprach er Französisch, Latein und Niederländisch, Deutsch und Spanisch sprach er eher schlecht. Gegen den französischen König Franz I. führte er zahlreiche Kriege um die Vorherrschaft im Zentrum seines Reiches. Beide Monarchen hatten die Idee eines friedlichen, einheitlichen Europas, in dem ein dominanter Machthaber den innereuropäischen Frieden sichern und das Abendland, sprich Europa, vor den Osmanen schützen sollte. Beide wollten dieser Machthaber sein. Karl V. setzte sich durch und wurde schließlich zum mächtigsten Herrscher der Welt. Den Protestantismus konnte er, trotz seiner Versuche und der „Reichsacht“ über Martin Luther, nicht wirksam eindämmen, denn das war nicht sein einziges Problem im riesigen Weltreich. Ohne die militärische Bedrohung durch die Osmanen hätte Karl die Reformation wohl unterdrückt, so der Autor. Karl war seit 1522 mit der sagenumwobenen Mary Tudor, Schwester des englischen Königs, verlobt. Trotzdem entschloss er sich zur Heirat mit Isabella von Portugal, der Tochter des portugiesischen Königs. Später sollte Mary Tudor seine Schwiegertochter werden. Mit seiner Gattin lebte er nur wenige Jahre zusammen, zumal diese stets in Spanien blieb - zeugte mit ihr aber einige Nachkommen. Uneheliche Kinder, zu denen sich Karl zum Teil bekannte, zeugte er allerdings auch. Die Ausbeutung des gewaltigen Vizekönigreich Neuspanien in Nord und Mittelamerika und des Vizekönigreichs Peru, halfen ihm bei seinen finanziellen Abenteuern. Auch die nach seinem Sohn benannten Philippinen gehörten zum riesigen Reich. Er regierte ein Imperium und der Autor musste viele Archive, Museen und Bibliotheken rund um die Welt für seine Biographie auswerten. Nicht einfach, wenn die dort aufgefundenen Quellen und eigenhändig geschriebenen Dokumente in unterschiedlichen Sprachen verfasst wurden, wegen der Handschrift nur schwer entzifferbar sind und räumlich weit auseinander aufbewahrt werden. Karl unterzeichnete mindestens 100 000 offizielle Dokumente und hinterließ mehr handschriftliches Material als irgendein anderer Herrscher aus dem damaligen Europa. Mit der 1532 verfassten Peinlichen Halsgerichtsordnung erließ Karl V. im Übrigen das erste allgemeine Strafgesetzbuch im Heiligen Römischen Reich, über das Juristen heutzutage immer noch staunen. 1556 trat Karl V. von seinen Herrscherämtern zurück und er machte seine zwei ehelich legitimen Söhne zu seinen Nachfolgern. Die Habsburger teilten sich daher in eine spanische und eine österreichische Linie. Er selbst zog sich nach seiner Abdankung in die abgeschiedene Extremadura zurück und bezog 1557 ein Haus, das an ein abgelegenes Kloster angeschlossen war. Er starb dort 1558 an Malaria, die in der Gegend grassierte. Man konnte dies allerdings erst 2004 anhand eines seiner Fingerglieder nachweisen Wer die 880 Seiten des Buches (von denen fast 300 Seiten Anhänge sind) mit seinen vielen Kriegen, Intrigen, Morden, Verhandlungen, Irrungen sowie politischen und religiösen Wirrungen der verschieden Herrscher Europas durchgelesen hat, wird an Game of Thrones erinnert. Dem Leser werden in Zukunft die EU-Gipfel und unsere heutigen Probleme wie harmlose Kaffekränzchen vorkommen. Vielleicht kann er dann unsere heutigen Errungenschaft und die EU eher zu schätzen wissen. Ernst Reuß Parker, Geoffrey, Der Kaiser. Die vielen Gesichter Karls V.. aus dem Engl. von Thomas Bertram, Tobias Gabel und Michael Haupt, 880 Seiten, Darmstadt 2020,. wbg Theiss, 50 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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