"Sex sells“, das wissen auch der Verleger des Berlin Story Verlages und die Autoren des Buches mit dem Titel „Kittys Salon“.
Der Salon Kitty war ein Bordell in Berlin-Charlottenburg in der Giesebrechtstraße 11, unweit des Kudamms. Das 500 Quadradmeter große Etablissement im dritten Stock des Wohnhauses soll neun Schlafzimmer und eine für mindesten drei Personen ausgelegte Badewanne im bespiegelten Badezimmer gehabt haben. Über dieses Bordell ranken sich Legenden. Da Sex immer auch Auflage verspricht, würzten einige Autoren ihre Bücher und Biographien zur Nazizeit mit Legenden zum „Salon Kitty“. Ein ob seines Wahrheitsgehalts umstrittener Roman wurde 1976 mit Helmut Berger als Hauptdarsteller verfilmt. Ein Film, der von den Kritikern als eine „unerquickliche Mischung aus NS-Schwulst und Sado-Maso-Klischees“ bezeichnet wurde. Das Buch gibt einen informativen Einblick in die Prostitution der Weimarer Republik und während des Dritten Reiches, mit KZ- und Wehrmachtsbordellen, Denunziationen und dem exzessiven Sexualleben einiger Parteibonzen. Ein Höhepunkt der Doppelmoral, denn Prostituierte wurden gemeinhin als asozial eingesperrt. Danach folgen Kurzbiographien bekannter weiblicher Agentinnen und es geht zum eigentlichen Thema des Buches. Der Salon Kitty war erstaunlicherweise auch während der Nazizeit ein exklusives Bordell in Berlin, das möglicherweise auch zur Aushorchung von illustren Gästen, vor allem aus dem Ausland, dienen sollte. Viele bekannte Personen, ausländische Diplomaten und hochrangige Funktionäre der Nazis gehörten zum Kundenstamm. Der Salon soll von 1939 bis 1942 zu Spionagezwecken instrumentalisiert worden sein, bis er von einer Bombe getroffen wurde. Man hatte nun in Berlin andere Probleme. Prostitution ist ein verschwiegenes Gewerbe und die Besitzerin „Kitty Schmidt“ schwieg bis zu ihrem Tod 1954. „Kitty“ wurde als Kätchen 1882 im Hamburg geboren und ging als junge Klavierlehrerin nach England, wo auch ihre Tochter zur Welt kam. 1918 ging die alleinerziehende Mutter dann nach Berlin, wo sie fortan als „Rentiére“ ihr Geld verdiente. So stand es zumindest im Berliner Adressbuch. Als „Rentiére“ vermietete sie Zimmer, aber dort schon bald darauf auch „Dienstmädchen“. Kurz danach eröffnete sie einen „Salon“ in der Budapester Straße, später dann das zuerst als „Fremdenheim“ bezeichnete Etablissement in der Giesebrechtstraße. Ihre Tochter Kathleen schwieg ebenfalls. Viel redete nur der Enkel, wobei es aber nicht klar ist, was er aus erster Hand erfahren hat. Mit ihm und der bekannten Schauspielerin Evelyn Künnecke, die von ihrer Nachbarin erfolglos angeworben wurde, redete auch Rosa von Praunheim in einem der Dokumentarfilme zu „Kittys Salon“. „Meine Oma hatte einen „Nazipuff“, hieß seine Doku aus dem Jahr 1994. Nach Kittys Tod führte ihre Tochter Kathleen das Etablissement als „Pension Florian“ weiter. Eine Künstlerpension, in dem es aber auch ein Zimmer gab, in dem Männer ungestört Besuch empfangen konnten. Kathleen rief die Mädchen an, wenn sie gebraucht wurden. In den verklemmt, miefigen Wirtschaftswunderzeiten ließ sich dort wahrscheinlich viel Geld verdienen. Der Enkel wandelte das Etablissement in den frühen 1990er Jahren schließlich zu einer Pension für Asylbewerber um, musste aber nach Protesten von Anwohnern bald schließen. Die Geschichte des Hauses ist sicherlich auch ein Spiegel der Geschichte Deutschlands. Die Autoren des gerade erschienen Buches versuchen an den wahren Kern der Legenden heranzukommen und räumen gut recherchiert mit einigen hartnäckigen Mythen auf. Die meisten Geschichten über den „Salon Kitty“ dürften der ausufernden Fantasie und Geschäftemacherei der Erzähler geschuldet sein. Trotzdem könnte laut den Buchautoren etwas an den Abhörgerüchten dran sein, auch wenn man keine Beweise mehr fand. Ob Kitty Opportunistin, Profiteurin, Kollaborateurin oder Opfer des Nazi Regimes war, bleibt wohl ewig im Dunkeln. Nachkommen in Deutschland gibt es nicht mehr. Das Familiengrab wird wohl im Jahre 2034 aufgelassen. Ernst Reuß Urs Brunner, Julia Schrammel, KITTYS SALON, Legenden, Fakten, Fiktion - Kitty Schmidt und ihr berüchtigtes Nazi-Spionagebordell, Berlin Story Verlag, Berlin 2020, 300 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 19,95 €
Wer als Mörder erlebt hat was jahrelanger Knast bedeutet, sollte eigentlich geläutert sein und nie wieder töten. Doch dem ist nicht immer so.
Der Psychiater Hans-Ludwig Kröber präsentiert in seinem Buch „Mord im Rückfall“, 45 rückfällige Mörder. Es handelt sich ausschließlich um Männer, die mehrfach getötet haben. Kurz, komprimiert, atemlos und meist sachlich berichtet Kröber von den Fällen. Dass er bei seiner Fallschilderung nicht immer chronologisch vorgeht, macht es dem Leser nicht immer leicht die traurigen Schicksale nachzuvollziehen. Es sind entsetzliche Fälle, die der Autor zusammengetragen hat. Eine Sammlung aus seinem Berufsleben und eher nicht repräsentativ. Man blickt dabei jedenfalls in tiefe menschliche Abgründe. Kröber gilt als herausragender Vertreter der Forensischen Psychiater Deutschlands. Dieses Urteil hat er wohl verinnerlicht, denn seine eigene Expertise hält er - im Gegensatz zu den Gutachten von kritisierten Kollegen - für unumstößlich. Das gibt er auch deutlich zu verstehen, in dem er sich von diesen „Sachverständigen“ mit Anführungszeichen distanziert oder sie als „grundgütig“ bezeichnet. Selbst die juristische Fachkompetenz von so manchem Richtern stellt er in Frage. „In dubio pro reo“ und der Unterschied zwischen „Mord und Totschlag“ scheint dabei ein sekundäres Problem zu sein. Man hätte auch den Beschluss der Straßburger Richter zur nachträglichen Sicherungsverwahrung erläutern können, anstatt immer nur darauf zu verweisen. Auch dafür hat es gute juristische Gründe gegeben. Kröber selbst ist nicht ganz unumstritten. So wird ihm vorgeworfen im Fall Gustl Mollath ohne persönliche Untersuchung eine „wahnhaften Störung“ diagnostiziert zu haben. Die einzelnen Kapitel wie „Raubmord“, „Vergewaltigung und Tötung“, „Beziehungsstörung zu Frauen“, „sadistisch motivierte Taten“ oder „reine Gewalt und Gewöhnung ans Töten“ und „Schizophrene Mehrfachtöter“ könnten unterschiedlicher nicht sein, und dennoch ähneln sich die Lebensläufe der Täter sehr häufig. Heimaufenthalte, immer wieder exzessiver Alkoholmissbrauch und Verwahrlosung. Eine Ansammlung düsterer Biographien des Scheiterns, in denen es meist nur bergab geht. Freilich gibt es wie immer - auch dabei - Ausnahmen. Ein „Restrisiko“ wird nach der Verbüßung der Strafe wohl bleiben, auch wenn Sachverständige und Juristen versuchen eine Lösung zu finden, die dem Menschen und der Allgemeinheit gerecht werden. Hinterher ist man immer schlauer, Kröber auch. Es scheint bei dieser durchaus spannenden Fallsammlung eine ständige Aneinanderreihung von Fehlgutachten zu sein, die den Taten vorausgehen. Zum Schluss stellt der Autor überraschenderweise dann doch fest, dass bei Mördern die Rückfallquote generell sehr gering sei und es keine allgemeine Theorie des Rückfalls geben kann. Gott würfele eben doch, meint er und exkulpiert damit die zuvor gescholtenen Gutachter und Richter - möglicherweise eher ungewollt. Ernst Reuß Hans-Ludwig Kröber, Mord im Rückfall, 45 Fallgeschichten über das Töten, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2019, 247 Seiten, 14,95€
Robert Capa ist eine Ikone der Fotografie und wurde vor allem als Kriegsreporter bekannt. Seine Aufnahmen aus dem Spanischen Bürgerkrieg oder die Bilder vom D-Day hat jeder schon gesehen. Er war oft an vorderster Front und starb 1954 im Ersten Indochinakrieg, als er auf eine Mine trat.
„Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran“, lautete sein Motto. Robert Capa ist ein Künstlername. Er hieß eigentlich Ernö Friedman und wurde als Sohn einer jüdischen Schneiderfamilie in Budapest geboren. Von dort musste er aus politischen Gründen nach Deutschland flüchten, wurde aus der Not heraus Fotoassistent und veröffentlichte 1932 seine ersten Bilder im Berliner Weltspiegel. Nach der Machtübernahme durch die Nazis musste er erneut fliehen. Zuerst nach Wien und dann nach Paris. 1935 wurde er für eine Fotoreportage nach Spanien geschickt. Dort entstand am 5. September 1936 das Foto eines fallenden republikanischen Soldaten im Augenblick seines Todes, das ihn bekannt und zu einer Fotoikone machte. Drei Jahre später musste er erneut flüchten, diesmal nach New York. Im Zweiten Weltkrieg fotografierte er als Kriegsberichterstatter unter anderem den D-Day, mit der Landung der Alliierten in der Normandie am Omaha Beach. Mit den vorrückenden Amerikanern kam er wieder nach Deutschland. Auf einem Leipziger Balkon machte er am 18. April 1945 während der Besetzung Leipzigs ein weiteres berühmtes Foto von dem eben getöteten US-Soldaten Raymond J. Bowman, der im heutigen „Capa-Haus“ vor seinen Augen erschossen wurde. 1947 gründete Capa zusammen mit anderen die berühmte Fotoagentur Magnum und fotografierte in weniger gefährlichem Umfeld. 1954 kehrte er jedoch aushilfsweise zur Kriegsberichterstattung zurück. Seine letzten Fotografien zeigen den Minen-Suchtrupp bei dem er starb. Weitgehend unbekannt blieben die mehr als 600 Fotos, die Robert Capa im Sommer 1945 in Berlin aufnahm. Capa hatte einen Auftrag des Life Magazins. Er war deswegen ein paar Wochen vor Ort und hatte in der Zeit wohl eine Beziehung mit Ingrid Bergman. Seine Fotos sind ein Blick auf die befreite, aber ziemlich zerstörte Stadt und ihre Menschen. Die jetzt im Berliner Centrum Judaicum ausgestellten Bilder, zeigen das Nachkriegsberlin mit Schwarzmärkten und dem ersten jüdischen Neujahrsgottesdienst nach der Nazizeit. Es war am 9. September 1945 in der kleinen Synagoge am heutigen Fraenkelufer. Viele Fotografien aus dieser Zeit sind jetzt im Begleitband zur Ausstellung „Berlin Sommer 1945“ zu sehen. Es sind Schnappschüsse, die Capa vom Alltag in Berlin machte. Sie sind schon deshalb interessant, weil sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit gemacht wurden. Beeindruckend vor allem die Fotos, für die er auf das Brandenburger Tor kletterte. Die Tage im Sommer 1945 bedeuteten nach dem Krieg eine Wende in seinem Leben, das leider so tragisch endete. Capa kehrte nie mehr nach Berlin zurück, wo seine Fotografenkarriere 15 Jahre zuvor aus Not und Zufall begonnen hatte. Ernst Reuß Chana Schütz (Hrsg.) ROBERT CAPA – BERLIN SOMMER/SUMMER 1945, Salzgeber Verlag , Berlin 2020, 160 Seiten, 25 €.
Wolfgang Benz, eine Koryphäe der Antisemitismusforschung, ist sauer. Zumindest kann man das aus den Beiträgen des Herausgeber des im Metropolverlag erschienenen Sammelband „Streitfall Antisemitismus“ herauslesen. Er ist sauer über eine aus dem Ruder laufende Debatte zum Antisemitismus in Deutschland. Er fragt sich ob Kritik an israelischer Politik tatsächlich bereits antisemitisch sei und plädiert für einen wissenschaftlichen Vergleich von Antisemitismus und sonstigem Hass gegen Minderheiten, denn dies sei keine Relativierung des Holocaust.
Im Sammelband werden von 15 namhaften Historikern und Antisemitismus-Experten die strittigen Thematiken und Begriffe analysiert und erläutert. Man ist dabei zumeist der Ansicht Kritik an Israel wird vorschnell als antisemitisch verunglimpft. Dafür reiche schon der Vorwurf man gäbe Israelfeinden ein Podium. Die Fallbeispiele Dieter Hanitzsch, Jüdisches Museum Berlin und Achille Mbembe werden im Buch ausführlich besprochen und sind abschreckende, verschiedenartige Beispiele dafür, wie Antisemitismus-Vorwürfe auch instrumentalisiert werden und sich verselbständigen können. Immer wieder geht es auch um die BDS (Boykott, Desinvestition and Sanktionen), eine politische Kampagne, die Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, um die Okkupation von palästinensischen Gebieten zu beenden. Der Deutsche Bundestag verurteilte im Mai 2019 Boykottaufrufe gegen Israel und bewertete die BDS-Bewegung als antisemitisch. „Don't Buy“-Aufkleber auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole „Kauft nicht bei Juden!“, hieß es. Dagegen wehren sich viele Intellektuelle, auch in diesem Buch. Immer wieder heißt es, einzelne Auswüchse der BDS-Bewegung könne man nicht auf die ganze Bewegung ausdehnen. Das wäre eine pauschale Verurteilung. Ähnlich argumentiert die AFD. Laut Ansicht der Kritiker helfe der Bundestagsbeschluss „der am weitesten rechts stehenden Regierung in der Geschichte Israels, jeden Diskurs über palästinensische Rechte und jede internationale Solidarität mit den Palästinensern, die unter militärischer Besatzung und schwerer Diskriminierung leiden, zu delegitimieren“. Dabei zeige sich wie erfolgreich die israelische Regierung mit der Israelisierung des Antisemitismus-Begriffes geworden sei. Israels Ministerpräsident Netanjahu hatte schon beim jüdischen Museum erfolgreich interveniert. Dadurch sei eine Atmosphäre entstanden, die den Diskussionsraum zunehmend einenge, was laut Benz ein Schaden für die Freiheit der Wissenschaft sei. Man muss nicht mit jedem Beitrag im Buch übereinstimmen, aber der Sammelband ist ein wichtiger Beitrag zu einem sehr konfliktgeladenen Thema. Ernst Reuß Wolfgang Benz (Hrsg.), Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Metropol Verlag, Berlin 2020, 328 Seiten, 24 €
Ein Foto geht um die Welt. Von Madrid über Berlin, München, Oslo und Den Haag nach Syracuse/New York.
Es ist ein Foto aus Schweinfurt, das schon mal um die Welt ging. Das Foto stammt von der 1971 im Alter von 67 Jahren gestorbenen Life-Fotografin und Korrespondentin Margaret Bourke-White, die immer wieder in Ausstellungen gehuldigt wird. Fotografiert wurde das Bild am 12. April 1945, kurz nach der Einnahme Schweinfurts durch die Amerikaner. Es zeigt den erweiterten Suizid einer vermeintlich fanatischen Nationalsozialistin. Fotografiert von Margaret Bourke-White, nachdem sie mit den Soldaten der 42. US-Infanterie-Division „Rainbow“ in Schweinfurt einmarschiert war. Bourke-White war die erste Kriegsberichterstatterin der US-Armee und in der männlich dominierten Fotografenszene war sie ein Medienstar. Eines ihrer Bilder, The Living Dead of Buchenwald - Die lebenden Toten von Buchenwald -, hat schon jeder gesehen und zählt – laut Wikipedia - zu den berühmtesten Fotos des 20. Jahrhunderts. 1946 erschien ihr Buch „Deutschland, April 1945“, worin sie ihre Erlebnisse in den letzten Kriegstagen schilderte. Der US-Chefankläger verwendete das Werk mit dem Originaltitel „Dear Fatherland, Rest Quietly“ in den Nürnberger Prozessen als Beweismittel. Eines der darin abgebildeten Fotos wurde in Schweinfurt gemacht. Es handelt sich um das hier abgedruckte Bild, zu dem Bourke-White im Untertitel schrieb: „The bodies of two children in a Schweinfurt apartment house; after hearing that her husband had died in the fighting on the outskirts of the city after its liberation by Allied forces, she killed her children and committed suicide.” Auf deutsch also: „Der Körper zweier kleinen Kinder in einem Schweinfurter Appartement; nachdem sie gehört hatte, dass ihr Ehemann außerhalb der Stadt bei der Befreiung durch alliierte Kräfte getötet wurde, brachte sie ihre Kinder um und beging Selbstmord.“ Damit lag Bourke-White allerdings nicht ganz richtig. Anhand von Unterlagen des Stadtarchivs Schweinfurt kann nachvollzogen werden, um wen es sich bei den Toten handelte. Es war die 1908 in Schweinfurt, als Tochter des Malermeisters Karl Fischer und seiner Ehefrau Lisette, geborene Kontoristin Margareta Raithel und ihre beiden 3 und 6 Jahre alten Töchter Ursula und Barbara. Im Sterberegister wird als Todesursache der Mutter „Selbstmord durch Erschießen.“ angegeben. Bei den Töchtern heißt es lapidar: „Durch die Mutter erschossen.“ Ein gemeinsamer Sohn der Raithels war bereits 1942 gestorben. Es kann nur vermutet werden, dass für Margareta Raithel mit dem Untergang des Dritten Reiches eine Welt unterging. Margareta Raithel war die Witwe des gebürtigen Waigolshäusers Dr. Konrad Raithel, der bereits zwei Monate vorher im Alter von 59 Jahren an einem Schlaganfall gestorben war. Dr. Raithel war als Rechtsanwalt Syndikus beim Industrie- und Handelsverband in Schweinfurt, von 1925 bis 1929 war er - als Mitglied der Deutschen Volkspartei - Stadtrat, 1930 bis 1938 war er Bürgermeister und danach wieder Stadtrat. Nach der Reichstagswahl von 1933 hatte die Nazis willkürlich die Zahl ihrer Stadträte von zwei auf neun erhöht. Fünf der damals dreizehn SPD-Stadträte wurden aus dem Rat ausgeschlossen und vom Rest war die Hälfte bereits in „Schutzhaft“ genommen worden. Raithel war das einzige Nicht-NSDAP-Mitglied, das auch unter den Nazis Bürgermeister blieb. Am 1. Mai 1933 hatte er aber vorsichtshalber schnell seine Partei, noch vor deren Selbstauflösung, gewechselt und war ordentliches Mitglied der NSDAP geworden. Vom nationalsozialistischen Oberbürgermeister Ludwig Pösl wurde er später besonders gewürdigt, da er sich stets persönlich dafür einsetzte „marxistische Tendenzen“ im Stadtrat zu verhindern. Pösl meinte damit wohl die vormalige Mehrheitsfraktion der Sozialdemokraten, denn Kommunisten waren seit 1932 nicht mehr im Schweinfurter Stadtrat. Der 1903 geborene Oberbürgermeister Pösl war nicht nur diesbezüglich mit Raithel verbunden, sondern er war - neben Raithels Witwe - der zweite Schweinfurter Suizid am 12. April 1945, dem Tag nach der Befreiung Schweinfurts von den Nazis. Er sprang aus dem Fenster der Goetheschule, wo alle männlichen Bewohner Schweinfurts von den Amerikanern überprüft worden waren. Das Goldene Parteiabzeichen soll er– offenbar stolz - noch in seiner Brusttasche getragen haben. Angeblich hatte man Pösl die Nachricht überbracht, dass seine Ehefrau sich und die gemeinsamen Kinder umgebracht habe. Oberbürgermeister Pösl soll seiner Frau vor Beginn der Kämpfe eine Waffe gegeben haben, damit sie sich und die Kinder bei Bedarf selbst umbringen könne. Es war jedoch nicht seine Frau, die das getan hatte sondern Margareta Raithel. Möglicherweise war dieser tragische Irrtum das eigentliche Motiv für seinen Selbstmord. Im Sterberegister hieß es: „(…) Oberbürgermeister Ludwig Pösl (…) ist am 12. April 1945 zwischen 6 und 7 Uhr in Schweinfurt, im Hofe der Goetheschule, Goethestraße 5 verstorben (…) Todesursache: Selbstmord.“ Der gebürtige Scheinfelder Pösl, der in Schweinfurt auf das humanistische Gymnasium gegangen ist, war bereits am 1. Januar 1929 in die NSDAP eingetreten und wurde bereits 1932 als Abgeordneter für die NSDAP in den Bayerischen Landtag gewählt. Am 27. April 1933 wurde er Oberbürgermeister der Stadt Schweinfurt und war damit der jüngste Oberbürgermeister im gesamten Deutschen Reich. Ein Vorzeigenazi also. Von März 1933 bis zum Ende der NS-Herrschaft im Frühjahr 1945 gehörte Pösl dem gleichgeschalteten Reichstag als Abgeordneter für Franken an. Raithel und Pösl waren laut Sterberegister die einzigen Selbstmorde in Schweinfurt, die unmittelbar nach der Befreiung durch die Amerikaner stattgefunden haben. Die weitaus meisten Einwohner Schweinfurts waren offensichtlich klug genug den Untergang des Dritten Reiches nicht mit ihrem persönlichen Schicksal zu verknüpfen. Ernst Reuß Margaret Bourke-White. Moments in History Erschienen bei La Fábrica, Madrid 2013, Autoren: Oliva María Rubio, Sean Quimby, Festeinband 26,7 x 22,6 cm, 191 Seiten, ca. 150 Abbildungen, englisch ISBN 978-84-15303-96-1 Museumsausgabe 35 Euro (Der Autor ist gebürtiger Schweinfurter und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch: Mord und Totschlag in Berlin: Neue spektakuläre Kriminalfälle, Verlag für Berlin-Brandenburg 2018)
Im Frühjahr 1291 ist ein muslimisches Heer auf dem Weg zur von Kreuzrittern verteidigten Küstenstadt Akkon.
Der inzwischen heiliggesprochene Papst Urban II hatte zwei Jahrhunderte zuvor zum Kreuzzug aufgerufen, um das Christentum und vor allem Jerusalem zu befreien. Muslime, „ein fremdes Volk, ein ganz gottfernes Volk“ trieben dort ihr Unwesen predigte der Papst und beschrieb anschaulich die Gräueltaten, die im Osten von ihnen begangen worden sein sollen. Die Erlösungsverheißung des Papstes erinnern an heutige Ereignisse, auch wenn damals nicht von Jungfrauen die Rede war. Da der Papst Ablass und Immunität versprochen hatte, mischten sich unter die „Ritter“ - auch in späteren Kreuzzügen - all diejenigen , die nichts mehr zu verlieren hatten. Es waren also eher „Glücksritter“, aber auch Verbrecher darunter. Einige weitere Kreuzzüge mit unterschiedlichen Erfolgen sollten danach folgen und erst vor kurzem berief sich im neuseeländischen Christ Church ein Attentäter auf die Kreuzzüge und Papst Urban II. Der Hafen von Akkon hatte aufgrund seiner günstigen Lage eine große Bedeutung für den Handel im Mittelmeer. 1104 war Akkon von Christen erobert, 1187 durch Sultan Saladin zurückgewonnen, aber schon 1191 wieder von den Kreuzrittern erbeutet worden. Richard Löwenherz sollte dabei eine entscheidende Rolle spielen. Am 18. Mai 1291 fällt nach sechswöchiger Belagerung und erbitterten Kämpfen schließlich Akkon, als eine der wichtigsten Bastionen der Kreuzritter im Heiligen Land. Es ist das Ende des Traums eines Jerusalems unter christlicher Herrschaft. Akkon ist die Stadt wo Richard Löwenherz nur 100 Jahre zuvor fast 3 000 muslimische Gefangene enthaupten ließ. Nachdem einige Jahrzehnte zuvor für die Christen der Verlust Jerusalems zu beklagen war, war Akkon einer der letzten Stützpunkte der Kreuzfahrer. Mit dem Verlust Akkons waren die Kreuzzüge nun gescheitert. Es war eine gewaltige muslimische Streitmacht, die das bewerkstelligte. Akkon war ein fast uneinnehmbaren Ort, der mit einer beeindruckenden Festung verteidigt wurde. Der Sachbuchautor Crowley zeigt anhand einer Vielzahl von Quellen auch die logistischen Schwierigkeiten bei der zweimonatigen Belagerung durch die 25 000 Mann starke Armee. Vor dem Zeitalter des Schießpulvers wurde die Stadt mit Riesenkatapulten bombardiert. Mit Tunneln wurden die Mauern Akkons unterminiert. Der Kampf um die Stadt wurde bis zum letzten Mann und dem letzten Turm geführt. Es war ein unvorstellbares Gemetzel an zutiefst zerstrittene Christen verschiedener Glaubensrichtungen, die sich nicht rechtzeitig über das Meer in Sicherheit bringen konnten. Der Autor erzählt die Geschichte von beiden Seiten. Vom Verlauf des Kampfs berichten christliche und muslimische Augenzeugen unterschiedlich. Die Eroberer ließen nach der Einnahme die Mauern schleifen und ein Kirchenportal aus Akkon wurde als Trophäe nach Kairo gebracht. Ein spannendes Stück Geschichte, das bis heute nachwirkt. Ernst Reuß Crowley, Roger, Der Fall von Akkon, Der letzte Kampf um das Heilige Land, Aus dem Engl. von Norbert Juraschitz, wbg Theiss, Darmstadt 2020, 288 Seiten, 28 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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