Das wie immer schön illustrierte Buch des Elsengold Verlags stellt die Geschichte Berlins vom Mittelalter bis in die heutige Zeit anhand seiner Migranten dar.
Hugenotten, Juden, Böhmer, Schlesier, Flüchtlinge, Gastarbeiter in Ost- und West-Berlin und viele andere machten und machen aus dieser Stadt eine Stadt, die für viele Menschen Heimat geworden ist und von vielen Touristen gerade wegen ihrer Vielfalt besucht und geschätzt wird. Der Autor schreibt in seinem Vorwort: „In den wenigsten Fällen funktionierte das Zusammenleben mit den eingesessenen Berlinern reibungslos und selten wurden die Neuberliner von den Einheimischen geliebt. Ohne Zweifel jedoch hatten die Zuwanderer eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung der Stadt.“ Migration sei ein Thema, an dem man in diesen Tagen kaum vorbeikommt, meint der Autor. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür sei eben Berlin, das ohne seine zahlreichen Einwanderer überhaupt nicht vorstellbar wäre. Berlin sei eine Erfolgsgeschichte der kulturellen Vielfalt. Selbst die Hohenzollern, die mit ihren Kurfürsten, Königen und Kaisern jahrhundertelang in Berlin residierten, stammten ursprünglich nicht aus der Mark Brandenburg, sondern aus Schwaben. Argwohn schlug auch den meisten „Réfugiés“ entgegen, als sie nach dem Edikt von Potsdam des Großen Kurfürsten anno 1685 in Brandenburg-Preußen Asyl suchten und fanden. Sie galten als Fremdlinge, die ein „wüstes Leben“ führten und Ungeziefer einschleppten. Heute weiß man, dass sie handwerkliches und militärisches Know-how mit nach Berlin brachten und den Wohlstand der Stadt förderten. Ihre Nachkommen, wie die „de Maizières“, sind auch heute noch in Staatsdiensten zu finden. Ein Buch, das „besorgte Bürger“ lesen sollten, aber wohl nicht tun werden. Zwar würde es die meisten nicht intellektuell überfordern, aber für die Mehrzahl dieser Menschen wird der Buchinhalt jenseits ihres Horizonts liegen, den man nicht zu erweitern gedenkt. Ernst Reuß Tobias Allers, Neuberliner, Migrationsgeschichte Berlins vom Mittelalter bis heute, 176 Seiten, ca. 120 Abbildungen, 21 x 28 cm, Berlin 2017, Hardcover mit Schutzumschlag, 29,95 €
Mit „Meine liebe Elli!“ beginnen die meisten der rund zweihundert Briefe die Johann Bösche 1942 und 1943 seinem Bruder August und seiner Gattin Elisabeth schrieb. Am Tag vor seiner Einberufung hatte er die zehn Jahre jünger Frau geheiratet. Der 1907 geborene Bösche war 1933 in die NSDAP eingetreten, weil er sich davon Vorteile versprach. Kurzfristig sollte das auch so sein. Als Sonderführer für die besetzten Ortsgebiete unterstützt er die Ausbeutung der ukrainischen Landwirtschaft. Dort wurde nach dem Scheitern des „Blitzkriegs“ eine spezielle Landwirtschaftsverwaltung aufgebaut, um den Krieg weiterführen zu können. Die Ukraine galt als Kornkammer für das „Dritte Reich“ und für die besetzten Ostgebiete. Er selbst beschrieb seine Tätigkeit so: „Ich bin im Stabe des hiesigen Gebietslandwirtes, also ein richtiger Büromensch. Dienstzeit von 7-12h und von 13.30-17h, sonnabends bis 13h und nachmittags frei.“
Die Briefe und die vielen Fotos, die er dort knipste, sind zeitgeschichtlich hochinteressante Dokumente. Es zeigt deutsche Herrenmenschen im Hinterland, die vom Kriegsalltag an der Front kaum etwas mitbekamen. Häufig ging es in den Briefen um finanzielle Dinge, was auch die Prioritäten beschreibt. Zu Beginn seiner Tätigkeit in der Ukraine schrieb Bösche: „Die Bewohner sind Ukrainer und Polen. In der Kleidung kennt man teils die Einheimischen nicht von den Deutschen ab. Die Mädel gehen teils sehr elegant mit geschminkten Lippen. Die Ukrainer verrichten Militär- und Polizeidienste im Dienste der deutschen Wehrmacht. Viele der Ukrainer sind bei der Gefangenenbewachung eingesetzt. Die gefangenen Russen sind ein völliges Völkergemisch, die sind bei den Aufräumarbeiten beschäftigt.“ Der Hungertod von Kriegsgefangenen wurde von der Wehrmacht billigend in Kauf genommen. Mit dem vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft entwickelten „Hungerplan“ wurde außerdem einkalkuliert, dass infolge des Entzugs von Nahrungsmitteln bis zu dreißig Millionen sogenannte „slawischen Untermenschen“ verhungern würden. Es galt Platz zu schaffen für „arische“ Siedler. Die Briefe blenden dies jedoch vollkommen aus. Es geht dort um banale Alltagsprobleme, nur selten scheint die – für die einheimische Bevölkerung - schreckliche Realität durch. Am 24. August 1942 schrieb er: „Wenn dies Land einmal richtig bewirtschaftet werden kann, so läßt sich hier bestimmt gut leben. Fruchtbar ist das Land nun einmal. Über die Zukunft wollen wir uns mal keine Gedanken machen, vor allem müssen wir den Krieg gewinnen. Ich möchte den Krieg nicht überleben, wenn es anders kommen sollte. Ein Zurück gibt es für uns nicht mehr.“ Diesbezüglich irrte er sich, denn nach der verheerenden Niederlage von Stalingrad im Januar 1943 begann der allmähliche Rückzug. Ab März 1943 wurden Bösches Sorgen größer, denn Partisanen, im NS-Sprachgebrauch „Banditen“ genannt, wurden auch in seiner unmittelbaren Umgebung aktiv. Man spürt in den Briefen die aufkommende Angst. Bösche denkt wohl an sein Vermächtnis, als er am 21. März schrieb: „Meine liebe Elli, wenn ich jetzt etwas niederschreibe, was Dich vielleicht beunruhigt, so geschieht es nicht aus dem Grunde, weil ich annehme, nicht mehr in die geliebte Heimat zurück zu kehren, sondern nur meine Gedanken für die Erziehung unserer Kinder Ausdruck zu geben. (…) Nimm Dir meine Zeilen bitte augenblicklich nicht zu sehr zu Herzen und vor allem verliere nicht den Lebensmut.“ Seit März gab es viele Angriffe von Partisanen. Kollaborateure wurden umgebracht. Bösche wähnte sich selbst auch auf deren Todesliste und schrieb: „Ich lege allerdings keinen Wert darauf, in diesem Sand begraben zu werden. Hoffentlich kommt es auch nicht dazu. Es ist hier noch immer unruhig. Die Bürgermeister werden in den einzelnen Dörfern nachts, gestern auch schon am Tage, erschossen. Die für uns arbeiten fühlen sich nicht mehr sicher und wir können auch nichts dabei machen.“ Die danach folgenden Briefe wurden immer kürzer und angespannter. Am 10. November 1943 durfte er Iwankow, wo er zuletzt tätig war, verlassen. Die Rote Armee war durchgebrochen. Im Sommer 1944 war die gesamte Ukraine von der Wehrmacht befreit. Johann Bösche wird Flaksoldat und überlebt in englischer Gefangenschaft. Die Briefe und Fotos lagen viele Jahrzehnte auf dem Dachboden, bis ein deutsch-ukrainisches Jugendforschungsprojekt sich mit der Geschichte von Iwankow zu beschäftigen begann, Die Ergebnisse wurden schließlich lobenswerterweise in diesem schön illustrierten Buch dokumentiert, welches von einem der Söhne Bösches herausgegeben wird. Ernst Reuß Bösche, Harald (Herausgeber), "Meine liebe Elli...!", Fotos, Briefe und Berichte aus der Gebietslandwirtschaft Iwankow (Ukraine) 1942-1943, 298 Seiten, Format 20x26cm, Hardcover mit Schutzumschlag, 171 Abbildungen, umfangreicher Index, 29,90 €.
„Elsa von Kotzebue ist 1926 in Berlin geboren und dort aufgewachsen. Nach einem im Jahr 1943 kriegsbedingten Ortswechsel ins Memelland, kehrte sie 1944 nach Berlin zurück. Ab Juli 1945 arbeitete sie bis 1947 bei der amerikanischen Armee und von 1947 bis 1950 bei der Chinesischen Militärmission. Nach Eröffnung der Freien Universität Berlin im Jahr 1948 studierte sie Jura und war nach Abschluss der Ausbildung kurze Zeit Richterin am Landgericht Berlin. 1956 wechselte sie nach Bestehen des Auswahlwettbewerbs in den Auswärtigen Dienst.
Das in Teilen autobiographische Buch 'Durchs Fernrohr der Zeit' umfasst die Jahre zwischen 1939 und 1956. Es versetzt den Leser unmittelbar in die damalige Gegenwart, da die Aufzeichnungen der Tagebuchschreiberin sich nicht auf Erinnerungen aus späterer Sicht stützen, sondern, teils unreflektiert, ein Abbild ihrer Erlebniswelt sind. Wie jeder Mensch stand sie auf dem Boden, den sie vorfand. Deshalb wird heute manches überholt scheinen, auf Unverständnis stoßen, vielleicht auch zu Fragen anregen, wie man sich selbst im gleichen Alter verhalten hätte. Das Leben jedoch ist zeitlos: Tun und Lassen, Liebe, Erwartungen und Enttäuschungen, Erreichtes und Versäumtes.“ Ein teilweise autobiographisches, interessantes Stück Zeitgeschichte, bei dem zum Buchrückentext nichts hinzugefügt werden muss. Berlin im Kalten Krieg. Die 9,99 € für den Erwerb des Buches sind für den historisch interessierten Leser jedenfalls gut angelegt. Ernst Reuß Elsa von Kotzebue, Durchs Fernrohr der Zeit: 1939 - 1956 Books on Demand; Auflage: 1, 30. Juli 2015, 9,99 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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