Mit dem vorgetäuschten Überfall auf den Sender Gleiwitz und der fingierten Wutrede Hitlers begann vor 80 Jahren in Europa der Zweite Weltkrieg.
Heute ist bekannt, dass nicht „seit 5 Uhr 45 zurückgeschossen“ wurde. Es war ein kühl kalkulierter Angriff. Zuerst wurde am 1. September 1939 Wieluń bombardiert, wobei ein großer Teil der Bevölkerung starb. Noch immer hält sich die Mär, Hitlers Wehrmacht sei beim Einmarsch in Polen 1939 „sauber“ geblieben. Ein vom Metropol Verlag herausgegebener Sammelband mit dem Titel „80 Jahre danach“ mit Aufzeichnungen und Fotos deutscher Soldaten widerlegt dies recht eindeutig. Das Gegenteil war der Fall. „Die ersten Massenmorde des Zweiten Weltkrieges wurden von deutschen Soldaten bereits in seiner Anfangsphase begangen“, schreibt der Historiker Jochen Böhler in seinem Beitrag. Dass die Opfer des sogenannten „Polenfeldzug“ vor allem aus der Zivilbevölkerung kamen, ist bis heute in der bundesdeutschen Gesellschaft wenig bekannt. Tausende Zivilisten wurden als angebliche Partisanen erschossen. 5000 Angehörige der intellektuellen Führungsschicht wurden kaltblütig ermordet. Jahrelange Propaganda durch die Nazis hatte im Bewusstsein der Wehrmacht die gewünschte Wirkung erzielt: Polen galten als minderwertig, Juden sowieso. Deutsche Soldaten fühlten sich als Herrenmenschen. Polen verlor mit 5,7 Millionen Toten ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung. Euphemistisch nannten die Nazis das „Völkische Flurbereinigung“ oder „außerordentliche Befriedung“. Am 25. August 1939 war das Schulschiff der deutschen Kriegsmarine, „Schleswig-Holstein“ zu einem „Freundschaftsbesuch“ in den von Danzig eingelaufen und beschoss am 1. September die polnischen Stellungen auf der Westerplatte. Das im Buch teilweise abgedruckte Tagebuch eines Kadetten zeichnet die Vorkommnisse nach. Viele Fotos illustrieren das weitere Geschehen. Das Haus der Wannsee-Konferenz hat eine Online-Ausstellung konzipiert und zeigt dort viele dieser Fotos. Auf einen Eisenbahnwaggon, der sie nach Osten brachte, hatten deutsche Landser geschrieben: „Wir fahren nach Polen, um Juden zu versohlen.“ Für Polen ist das kein abgeschlossenen Kapitel der Geschichte, auch wenn sich das in Deutschland einige so wünschen würden. Ernst Reuß Svea Hammerle, Hans-Christian Jasch, Stephan Lehnstaedt (Hrsg.), 80 Jahre danach, Bilder und Tagebücher deutscher Soldaten vom Überfall auf Polen 1939, Berlin 2019 Metropol Verlag, 208 Seiten, € 19
Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden in den Osten deportiert und unmittelbar nach Ankunft in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas erschossen und in 55 Massengräbern verscharrt.
In Biķernieki existiert seit 2001 ein Mahnmal. Stelen aus Granit in unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern nun an die vielen Opfer und benennen die Orte aus denen die Transporte kamen. Einige Transporte kamen auch aus Franken. Auf einem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch: „ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ Ernst Reuß
Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden in den Osten deportiert und unmittelbar nach Ankunft in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas erschossen und in 55 Massengräbern verscharrt.
In Biķernieki existiert seit 2001 ein Mahnmal. Stelen aus Granit in unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern nun an die vielen Opfer und benennen die Orte aus denen die Transporte kamen. Auf einem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch: „ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ Nicht nur in Biķernieki kam es zu Massenerschießungen, auch im nicht weit entfernten Wald von Rumbula geschah dies. Bei den Opfern dort handelte sich meist um lettische Juden aus dem Ghetto Riga, aber auch um deutsche Juden, die am 27. November 1941 von Berlin aus deportiert worden waren. Das wunderbar zu lesende Buch von Valentina Freimane erzählt davon: „Allerdings erfuhren wir das alles erst in den folgenden Tagen. Damals, Ende November, Wussten wir noch nichts Genaues — bis auf die Tatsache, dass niemand mehr ins Ghetto zurückgekehrt war. Am 8. Dezember fand die zweite ‘Aktion’ statt, bei der diejenigen Ghettobewohner, die den 29. und 30. November überlebt hatten, ebenfalls erschossen wurden. Übrig blieben die Arbeitskräfte im Kleinen Ghetto — die Männer, deren Familien soeben ausgelöscht worden waren. Beide Male wurden die Kolonnen vollkommen offen für jeden sichtbar durch die Straßen der Moskauer Vorstadt nach Süden getrieben. Schon bald verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, die Ghettoinsassen seien nicht in ein anderes Lager gebracht worden, sondern man habe sie vor den Toren der Stadt erschossen, wahrscheinlich im Wald von Rumbula. Es kam mir bezeichnend vor, dass die Behörden nicht einmal versuchten, solche Gerüchte zu dementieren. Alle einigten sich quasi stillschweigend darauf, über das Geschehene kein Wort zu verlieren. Mit der Zeit begannen wahrscheinlich viele selber zu glauben, dass sie von nichts wussten. Es war, als hätte es diese Tausende von Menschen nie gegeben. Unterdessen blieb das Ghetto nicht leer, sondern begann sich mit Juden zu füllen, die aus Mitteleuropa hierher ‘evakuiert’ wurden. Auch das wussten alle, die es wissen wollten. Bereits am 30. November traf der erste Zug aus Berlin ein. Da das Ghetto noch nicht vollständig geräumt war, wurden die mehr als tausend Berliner Juden als erste in Rumbula erschossen. Dann trafen nach und nach Transporte mit Juden aus Deutschland und Österreich ein. Anfang 1942 war ihre Anzahl so weit angestiegen, dass man begann, die älteren von ihnen direkt bei der Ankunft der Züge auf dem Bahnhof Skirotava zu erschießen. Heute ist die Zahl der Menschen, die getötet oder in andere Konzentrationslager weitertransportiert wurden, bekannt. Insgesamt sollen aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei um die 25 000 Menschen nach Riga verschleppt worden sein. 11 000 von ihnen wurden ermordet; einige weitere tausend kamen aus Ungarn und Litauen. Mehrere Transporte gingen auch nach Estland. Die letzten, die ins nunmehr leere Rigaer Ghetto deportiert wurden, sollen Juden aus Köln gewesen sein. Dima und Emilija überbrachten erschütternde Berichte von Augenzeugen. Das Gepäck, das die Ghettobewohner mitgebracht hatten, wurde ihnen abgenommen, und am Rand der Grube zwang man sie, sich völlig zu entkleiden. Nach der den ganzen Tag andauernden Erschießung von Kindern, Frauen und Greisen warfen die betrunkenen Todesschützen die Kleidungsstücke auf Lastwagen und brachten sie in die Stadt zurück, wo sie verteilt oder verkauft wurden. In einigen europäischen Staaten versuchten die Bürger, ihre Juden auf organisierte Weise zu verteidigen, was in Dänemark und Bulgarien auch gelang; auch die Juden selbst leisteten bewaffneten Widerstand, obgleich sie wussten, dass ihr Kampf aussichtslos war. Das berühmteste Beispiel hierfür ist der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Bei uns geschah weder das eine noch das andere. Die Mehrheit unserer Juden ergab sich wie gelähmt in ihr Schicksal. In den beiden »Aktionen« am 30. November und 8. Dezember 1941 kamen fast alle meine Angehörigen ums Leben -meine Mama und ihre Eltern, meine Großmutter väterlicherseits, Onkel Max, die Familien meiner Tanten mit den kleinen Cousins - insgesamt siebzehn meiner nächsten Verwandten. Offenbar wurden sie bereits mit der ersten Marschkolonne aus dem Ghetto gebracht, doch wirklich wissen werde ich es nie.“ (aus: Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 248 f.)
Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden in den Osten deportiert und unmittelbar nach Ankunft in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas erschossen und in 55 Massengräbern verscharrt.
Eine davon war die Berliner Sportlerin und Weltrekordlerin Lilli Henoch aus Berlin. Hier ihre Geschichte: Die 1899 geborene Lilli Henoch war Mitglied des Berliner Sport-Clubs und in den zwanziger Jahren eine der bedeutendsten Leichtathletinnen weltweit. Sie wurde zwischen 1922 und 1926 in den Disziplinen Kugelstoßen, Diskuswurf, Weitsprung sowie mit der 4-mal-100-Meter-Staffel des Berliner Sport Clubs zehnfache Deutsche Meisterin und stellte vier Weltrekorde auf. Daneben war sie auch im Hockey und Handball ein Star und leitete später die Damenabteilung des Klubs. Noch 1929 hatte man Lilli Henoch in der Vereinszeitung lauthals gerühmt: „Wenn jemals ein Beispiel an Klubtreue und Uneigennützigkeit gebraucht wird, dann ruft ihren Namen. Und die Luft muss rein um uns werden“. Nur vier Jahre später – kurz nach der Machtergreifung der Nazis - wurde sie aus dem BSC kommentarlos ausgeschlossen. Am 5. September 1942 wurde die einstmals vielgerühmte Sportlerin mit dem 19. „Judentransport“ gemeinsam mit ihrer Mutter in den Osten deportiert. In Riga angekommen wurde Lilli Henoch zusammen mit ihrer Mutter und allen anderen Insassen des Zuges nach Biķernieki geführt und erschossen. Der geschichtsinteressierte Martin-Heinz Ehlert, ein Mitglied des BSC Berlin, entriss sie erst viele Jahrzehnte später dem Vergessen, indem er ihre Geschichte recherchierte und veröffentlichte. Inzwischen sind in Berlin ein Sportplatz und Hallen nach ihr benannt. In Biķernieki existiert seit 2001 ein Mahnmal. Stelen aus Granit in unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern nun an die vielen Opfer und benennen die Orte aus denen die Transporte kamen. Auf einem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch: „ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ Ernst Reuß |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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