Kein historisches Sachbuch, aber ein ziemlich interessanter und gut lesbarer Blick auf die unmittelbare Nachkriegszeit.
Hier ein Zitat aus dem Buch, dessen Aktualität sehr erschreckend ist. „Das Abgeordnetenpaar, das mir gegenüber auf einem Sofa saß, riß die Münder auf und lachte: er ein trockenes Bellen, sie ein bellendes Wiehern. Sie waren in ausgelassenster Laune und kamen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Magda hatte die Jacke ihres dunkelblauen Kostüms ausgezogen und zeigte sich in einer weißen, unter den Achseln verschwitzten Spitzenbluse und einem engen, über dem Bauch spannenden Rock. Ihre Augen waren noch kleiner, ihre Nase noch unförmiger geworden. Das Haar, von einer zu starken Dauerwelle und einem billigen Friseur heftig gekräuselt, stand wie eine struppige Hecke um ihr feuchtes Gesicht. Auch der Abgeordnete hatte sich seines Jacketts entledigt und die graue Krawatte gelockert. Er hatte die Schenkel gespreizt, sein Arm lag hinter Magda auf der Lehne, seine Hand hing über ihre Schulter, seine Finger berührten ihren zerfließenden Busen. Ich betrachtete das Paar voller Entsetzen. Ich dachte: Nimm dich in acht, mein Kind, das sind die Gefährlichsten der menschlichen Rasse, diese entfesselten Spießbürger, die, wenn sie in Rausch geraten und in Massen auftreten, zu allem fähig sind. Und plötzlich war die Angst da, stülpte sich wie eine Glocke über mich, schnitt mir den Atem ab, preßte mir Herz und Magen zusammen.“ (Angelika Schrobsdorff, Die Herren, S. 583 f.)
Am 19. Juli 1870 erklärte der französischen Kaiser Napoleon III. den Preußen den Krieg. Dem Preußischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzler Bismarck kam das gerade recht, denn er hatte genau dies mit der Emser Depesche provozieren wollen. Es wurde ein grandioser Triumph für Preußen, als schon kurze Zeit später bei Sedan der französische Kaiser gefangen genommen wurde. Doch der Krieg war damit noch nicht zu Ende, denn in Frankreich wurde die Monarchie abgeschafft und es konstituierte sich die Dritte Republik. Der vor 150 Jahren begonnene Krieg in dem fast 200 000 Soldaten ums Leben kamen, gilt als erster moderner Krieg der Weltgeschichte
Ein fast vergessener Krieg, der erst nach der Belagerung von Paris - vom 18. September 1870 bis 28. Januar 1871 - endete und die Gründung eines deutschen Kaiserreiches erst ermöglichte. Noch während des Krieges waren Baden, Bayern, Württemberg und Hessen-Darmstadt dem Norddeutschen Bund beigetreten. Die deutsche Reichsgründung mit den zuvor mit Preußen nicht unbedingt befreundeten Südstaaten wurde schließlich durch die Kaiserproklamation des preußischen Königs Wilhelm I. am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles vollendet. Offiziell endete der Krieg dann am 10. Mai 1871 mit dem Frieden von Frankfurt. Ein Kaiserreich war entstanden, während das andere Kaiserreich untergegangen war. Der Autor des Buches „70/71, Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen“ schreibt zum 150. Jahrestag des Deutsch-Französischen Krieges eine umfassende Gesamtdarstellung des Krieges. Für Klaus-Jürgen Bremm war die Gründung des deutschen Kaiserreiches ein „europäischer Glücksfall“. Gewagt, wenn man weiß, was diesem Triumph folgte - nämlich eine „Erbfeindschaft“ und zwei Weltkriege. Klaus-Jürgen Bremm, Oberstleutnant und Dozent für Militärgeschichte an der Universität Osnabrück, argumentiert in der Regel nur militärgeschichtlich und analysiert detailliert die entscheidenden Schlachten. Ernst Reuß Klaus-Jürgen Bremm, 70/71, Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen, .wbg Theiss, Darmstadt 2019, 336 Seiten, 25 EUR
Zwar sicherlich kein historisches Sachbuch, aber mit unserer Geschichte hat der Roman „Jokerman“ durchaus etwas zu tun. Ein entscheidenden Wendepunkt war wohl der 15. Juni 1991 in Linz, wo Bob Dylan eines seiner schlechtesten Konzerte spielte.
„Fahr heim und horche Bob Dylan, Geld spielt keine Rolle!“, sagt ein mysteriöser Mann zum Ich-Autoren. Das was ein wenig mysteriös klingt ist genauso gemeint. Im Buch aber klärt sich fast alles auf. Wieso ein Kalb sterben musste und was Dylan mit dem Fall der Berliner Mauer zu tun hatte jedoch nicht so richtig. Der Wiener Stefan Kutzenberger alias „Jokerman“ jedenfalls horcht, geht Stiegen hoch, trifft sich mit Hillary Clinton neben Mistkübeln und soll als „Jokerman“ die Welt retten. Auf wienerisch klingt das alles irgendwie charmant, auch wenn man „Piefkes“ nicht als „blad“ bezeichnen sollte. Mitunter philosophisch anmutend, denkt Kutzenberger über das Leben nach und stellt fest, dass die „Eigenschaft des Menschen, vergessen zu könne, wie groß das Universum ist, und stattdessen einen beliebigen Teilaspekt zum Zentrum der Welt und des Lebens zu erklären“ uns erst ermöglicht zu überleben. Das erklärt viele Verschwörungstheorien, aber auch so manches Seminar oder so manchen Workshop. Kutzenberger erkennt relativ schnell, dass Bob Dylan Anhänger die über den ganzen Erdball verteilt sind, die eigentliche Macht auf der Welt zu sein scheinen. Man muss nur seine Liedtexte entschlüsseln. Als Literaturwissenschaftler ist der Autor prädestiniert dafür solche Texte zu entschlüsseln, was er auch in seiner „Autofiktion“ tut. Was ist Fakt, was ist Fiktion? Ein Thema, das gerade in den heutigen Tagen sehr oft thematisiert wird. Soweit, so klar. Zum Schluss bleibt die Frage: Was will uns Bob Dylan noch alles sagen ? Was das alles mit Island, Amy Winehouse, 9/11 und Donald Trump zu tun hat, kann man nachlesen oder wird man eventuell noch bis zum 3. November 2020 sehen. Für Bob Dylan Fans ein Muss! Für Liebhaber des skurrilen und schwarzen Humors ebenfalls. Ernst Reuß Stefan Kutzenberger, Jokerman, Berlin Verlag, Berlin 2020, 352 Seiten, 22,00 €
Die Tatsache, dass der Kreuzberg, mal Tempelhofer Berg hieß, weiß nicht jeder. Dass das Zentrum von SO36, die Oranienstraße, etwas mit hugenottischen Flüchtlingen zu tun hatte und diese durch ihr handwerkliches Können wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung Berlins beitrugen, weiß man schon eher. Dass diese Flüchtlinge quasi die ersten Siedler Kreuzbergs waren, das es damals noch gar nicht gab und die Straße mal Orangenstraße hieß, da die Flüchtlinge meist aus der südfranzösischen Stadt Orange kamen, weiß man dagegen schon wieder weniger.
Jürgen Enkemann, der 1938 geborene Autor des im Verlag für Berlin - Brandenburg erschienenen Buches mit dem Titel „Kreuzberg – das andere Berlin“ beschäftigt sich in seinem Buch allerdings eher mit den Ereignissen und Entwicklungen, die er selbst miterlebt und mitgestaltet hat. Enkemann - seit 1963 in Kreuzberg wohnhaft - war Mitgründer und Mitglied zahlreicher kommunalpolitischer Initiativen in Kreuzberg und seit Jahrzehnten publizistisch tätig. Das moderne Kreuzberg und die dort ansässige Bohème entwickelte sich laut Autor mit der Galerie „Zinke“ in der Oranienstraße, mit der Künstlerkneipe „Der Leierkasten“ in der Zossener Straße und mit der Kneipe „Die kleine Weltlaterne“ in der Kohlfurther Staße. Seitdem gilt Kreuzberg als das alternative Viertel voller Aussteiger, interessanter Clubs und einer lebhaften Künstlerszene, aber auch von Hausbesetzungen und Krawall. Sogar Ingeborg Bachmann - offenbar keine Kreuzbergenthusiastin - war als Mitglied er Akademie der Künste häufiger zu Gast und sagte 1964 folgendes: „Die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muss man sich die Haare lang wachsen lassen, muss herumziehen, muss herumschreien, muss predigen, muss betrunken sein und die alten Leute verschrecken …. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, .... die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst ….“ In den ersten Jahren der Kreuzberger Bohème spielten Migranten kaum eine Rolle. Mit dem Zuzug türkischer Gastarbeiter, von denen sich einige Nachkommen weder als Deutsche noch als Türken, sondern als Kreuzberger fühlen, entstand „Multikulti“. Mit den Häuserbesetzungen begann eine andere widerständige Zeit über die der Autor ausführlich berichtet. Ton Steine Scherben und Rio Reiser sind nun die Protagonisten. Das besetzte Bethanien galt damals in der Presse noch als „Terrorzentrale“, während Rio Reiser sang: „Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da.“ Die Kreuzberger 1. Mai Demo, begann übrigens bereits 1968 und nicht erst mit den Krawallen 1987, wie oft in der Presse kolportiert. Heute geht in Kreuzberg das Gespenst der Gentrifizierung um, viele alte Mieter müssen ihre Wohnungen verlassen und kleine Geschäfte können bei den steigenden Mieten nicht mehr mithalten. Die Änderung ist unverkennbar. Enkemann hofft, das der „widerständige Geist“ Kreuzbergs auch dem standhalten kann. Sein Buch ist eine reich bebilderte subjektive Analyse des Kiezes. Bizim Kiez heißt auf türkisch die Initiative, die sich heute gegen die Gentrifizierung wendet. Auf deutsch: „Unser Kiez“ Ernst Reuß Jürgen Enkemann: „Kreuzberg – das andere Berlin“, Verlag für Berlin und Brandenburg, Berlin 2020, 240 Seiten, 179 Abbildungen, 25 Euro
Obwohl bis zu 3,3 Millionen von 5,7 Millionen Gefangenen in den Lagern umgekommen sind und die sowjetischen Kriegsgefangenen somit neben den Juden diejenige Opfergruppe war, die das schlimmste Schicksal im Zweiten Weltkrieg erleiden mussten, wurde viele Jahre nichts Genaueres über sie ermittelt. Hans Mommsen, einer der bedeutendsten deutschen Zeithistoriker, meinte bereits vor vielen Jahren: „Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand ist eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkrieges.“
Nach dem Krieg bestand nicht nur in Deutschland wenig Interesse am Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener. Anteilnahme erregten hierzulande meist nur das eigene Leid, die enormen deutschen Verluste in der Sowjetunion und das Schicksal deutscher Soldaten in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern - das allerdings nicht mit dem der sowjetischen Kriegsgefangen zu vergleichen ist. Die eigenen Verbrechen, soweit überhaupt zur Kenntnis genommen, wurden mit Taten der Alliierten aufgewogen. Die geschätzt 27 Millionen sowjetischen Opfer, darunter mehr als 13 Millionen Frauen, Kinder und Greise, interessierten da nicht. In Westdeutschland wurden Mahnmale, die von den Sowjets oder von Überlebenden der Kriegsgefangenenlager errichtet worden waren, beseitigt oder entschärft. Schon harmlose Inschriften waren offenbar dem Wirtschaftswunderdeutschen nicht mehr zuzumuten. Sollten gar Sowjetstern oder Hammer und Sichel auf den Denkmälern zu sehen sein, wurde dies in der noch jungen BRD häufig entfernt. Reinhard Otto und Rolf Keller, die sich seit vielen Jahren mit dem Thema beschäftigen, veröffentlichten 2019 in der Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine detaillierte Studie, die das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager untersucht. Mehr als 100 000 sowjetischen Kriegsgefangenen wurden zum Arbeitseinsatz oder zur Exekution in die Konzentrationslager der SS überstellt. Ungefähr ein Viertel von ihnen waren sogenannte „Arbeitsrussen“, die nach dem Scheitern des „Blitzkriegs“ im Osten in den Konzentrationslagern Frondienste leisten sollten, was ihre Überlebenschancen erstaunlicherweise erhöhte. Zur „Sonderbehandlung“ ausersehene Kriegsgefangene wurde erst in einem Pferch separiert, um anschließend in ein KZ gebracht zu werden. Insbesondere kommunistische Funktionäre, potentielle Unruhestifter, Angehörige der „Intelligenz“ (bspw. Lehrer, Studenten, höhere Beamte) und Juden fielen der „Sonderbehandlung“ zum Opfer, aber auch willkürlich ausgewählte einfache Soldaten. Man hatte schließlich ein gewisses „Soll“ zu erfüllen.Untersucht wird in der detaillierten Studie auch die Kooperation mit der Wehrmacht. Obwohl die Ermordung gefangener Soldaten gegen Heeresdienstvorschriften und Völkerrecht verstießen, wurde alleine wegen diesen Aussonderungen niemand bestraft. Man hatte ja nur Befehle befolgt und die meisten Taten waren schon verjährt, als man mit Ermittlungen begann. Im Lazarett für Kriegsgefangene im unterfränkischen Ebelsbach, geschah das mit allen dort untergebrachten Gefangenen, einschließlich des medizinischen Personals aus der Sowjetunion. Sie wurden ins KZ Mauthausen gebracht. Man befürchtete im Lazarettt eine Verschwörung. Nach Schilderungen des russischen Historikers Efim Brodski wurde im Juli 1944 ein als Kranker getarnter Spitzel in das Lazarett eingeschleust. Kurze Zeit später begannen Verhaftungen von Sanitätern und Ärzten. Brodski wird im Buch zitiert: „Danach wurden alle Kriegsgefangenen festgenommen, die in den letzten Jahren 1943/44 in Ebelsbach behandelt worden waren. Das waren ungefähr 500 Menschen; auch sie wurden in Konzentrationslager eingeliefert.“ Mindestens 50 von ihnen wurden in Mauthausen exekutiert. Auch diese Schicksale werden in der akribischen Studie dargestellt. Nach dem Aufstand von Sobibor am 14. Oktober 1943, war man wohl besonders wachsam bei derartigen Lagern. Vergleichend wird auch ein Blick auf Kriegsgefangene aus anderen Staaten geworfen, die von der Wehrmacht an die SS ausgeliefert wurden und teilweise dort nach Fluchtversuchen oder ähnlichem ebenfalls exekutiert wurden. Das war aber sehr viel seltener als bei den Rotarmisten, die auch bei der Wehrmacht als „Untermenschen“ galten. Ernst Reuß Reinhard Otto, Rolf Keller, Sowjetische Kriegsgefangene im System der Konzentrationslager, Mauthausen-Studien, Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Band 14 , Mauthausen 2019, 351 Seiten, 29,90 € Otto, Reinhard: Die "Ebelsbacher" - ein Widerstandskreis sowjetischer Kriegsgefangener; in: KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Mauthausen Memorial 2011. Forschung, Dokumentation, Information [Jahresbericht 2011]. Hrsg.: Bundesministerium für Inneres - Barbara Glück.- Wien (2012), S. 27-40. Ernst Reuß, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, Berlin, erma 2013, 263 Seiten, 19,90 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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