Christian Neef, ein ausgewiesener Experte für Russland, lebte als Spiegelredakteur 16 Jahre in Moskau. Heute arbeitet er als freier Autor und veröffentlichte mehrere Bücher zur russischen Geschichte, zuletzt das hervorragende Buch über den Untergang der deutschen Gemeinde von St. Petersburg.
Christian Neefs kenntnisreiches neues Buch „Das Schattenregime“ handelt davon wie der sowjetische Geheimdienst nach dem 2. Weltkrieg als eine Art „Nebenregierung“ in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR agierte. Während Stalins Herrschaft waren Willkür, Verhaftungen und Deportationen alltäglich, da nützen auch keine Einwände von Walter Ulbricht oder Wilhelm Pieck. Die Entführungen wichtiger Wissenschaftler und Demontagen geschahen auf geheimdienstliche Anweisung. Der sowjetische Geheimdienst gab sich auch in Deutschland erbarmungslos. Ein Klima von Angst und Gewalt entstand, welches das russische Staatswesen damals wie heute kennzeichnet, schreibt Neef. Das Tagebuch des KGB-Generals Iwan Alexandrowitsch Serow diente dabei als eine zentrale Quelle. 5700 Seiten eng beschriebene Seiten, die erst vor nicht allzu langer Zeit entdeckt wurden. Serow hatte die Aufzeichnungen offenbar für den Fall versteckt, falls er selbst einmal Opfer von Säuberungen werden sollte. Anders als beispielsweise Schuckow oder Bersarin ist Serow - wie es sich für einen Geheimdienstler gehört - der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Serow war bei der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Berlin und als Chef der gesamten Zivilverwaltung der SMAD auch für Sicherheitsfragen zuständig. Die Aufgabe lautete Aufdeckung von „Spionen, Diversanten, Terroristen, Mitgliedern faschistischer Organisationen und aktiven feindlichen Elementen“. Offiziell wurde Serow als Mitglied der SMAD geführt. Zuvor hatte er bereits in der Sowjetunion Deportationen organisiert, die polnische Armee entwaffnet und dort antisowjetische Kräfte eliminiert. Danach wurde er der erste Vorsitzende des KGB in der Sowjetunion und leitete 1956 die KGB-Operationen gegen den ungarischen Volksaufstand. In der unmittelbaren Nachkriegszeit versuchte der russische Geheimdienst und damit Serow, die Geschicke Deutschlands im stalinistischen Sinne zu lenken. Man schreckte dabei auch nicht davor zurück, die Politik der eigenen Militärregierung zu hintertreiben. Die sowjetischen Staatssicherheitsorgane seien „gerade im besetzten Deutschland eine besonders krasse Verkörperung des stalinistischen totalitären Regimes“ gewesen, heißt es. Neef betrachtet Wladimir Putin als Serows Erbe. Der Abzug aus der DDR sei ein grober Fehler des Verräter Gorbatschow gewesen, denken heutzutage einige wichtige Menschen in Russland. All jenen, die in Deutschland glauben, der Krieg in der Ukraine gehe Deutschland nichts an, versucht Neef mit seinem Buch zu warnen. Er schreibt: „Während die Verfolgungsbehörden früher meist im Verborgenen wirkten, zählen jene, die heute in diesen Diensten arbeiten, ganz offen zur Elite des Landes. Keine andere Gruppe in Russland hat eine solche Macht erlangt wie das Militär, die Polizisten, Nationalgardisten und Geheimdienstler. (...) In den vergangenen mehr als zwanzig Jahren unter Putin haben die Sicherheitsorgane das gesamte Land übernommen. Vertreter und Vertrauensleute dieser Organe sitzen an den Schaltstellen des Parlaments und der Regionalverwaltungen, des Justizapparates und der Polizei. Darüber thront das Untersuchungskomitee, die wichtigste föderale Ermittlungsbehörde Russlands, die bis hin zur Presse alle Ebenen überwacht und von der Präsidialadministration gesteuert wird.“ Doch der Arm des russischen Geheimdienstes reicht auch heute noch bis nach Deutschland. Fast 200 ihrer Agenten saßen bis 2023 allein in der Berliner Botschaft, getarnt als Diplomaten. Der Mord im Berliner Tiergarten, russische Agenten im Bundesnachrichtendienst (BND), Fake News und ständige Versuche, auf das politische Geschehen in der Bundesrepublik Einfluss zu nehmen, sind nur einige Beispiele für deren Aktivitäten. Lesenswert! Ernst Reuß Christian Neef, Das Schattenregime. Wie der sowjetische Geheimdienst nach 1945 Deutschland terrorisierte, Propyläen Verlag, Berlin 2024, 320 Seiten, 28 €.
Erst kürzlich vertagte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in Münster das Verfahren in Sachen AfD gegen den Bundesverfassungsschutz, in dem es um die Einstufung der AFD als „extremistischen Verdachtsfall“ ging. Inzwischen prüft der Bundesverfassungsschutz, ob er die AfD vom Verdachtsfall in die Kategorie „gesichert extremistische Bestrebung“ hochstuft, was für verbeamtete Parteimitglieder der AfD wohl Konsequenzen haben würde. Auf Länderebene gibt es das ja bereits schon öfters. Daneben wird weiter heftig über ein Verbot dieser Partei diskutiert.
Argumente für ein Verbot liefert das Buch von Hendrik Cremer, der im Deutschen Institut für Menschenrechte zu Rassismus und Rechtsextremismus forscht. Er sammelte Beweise, die zeigen, welche völkischen und verfassungsfeindlichen Ziele die Partei heute verfolgt und wie es ihr gelingt, die öffentlichen Debatten zu beeinflussen, sei es in Talkshows oder in unkritischen Interviews. Bereits der Parteitag der Alternative für Deutschland im Sommer 2015 war ein Wendepunkt zur Radikalisierung der Partei nach ganz rechts. Damals setzte sich Frauke Petry gegen den euroskeptischen Gründer Bernd Lucke durch, der die AfD in der Folge verließ. Inzwischen sind Petry und Lucke Geschichte, genauso wie viele andere rechtspopulistische Parteimitglieder. Der völkische Flügel um ihren Führer Höcke hat sich vollkommen durchgesetzt. Hendrik Cremer charakterisiert die AfD mit nachvollziehbaren Bewertungen als rechtsextreme Partei. Die AfD ist laut Cremer eine Partei, die die Menschenwürde vieler in Deutschland lebender Menschen nicht achtet, Gewalt befürwortet und die Grund- und Menschenrechte systematisch in Frage stellt. Am Ende der Lektüre des Buches fragt man sich, warum es noch nicht schon längst das Parteiverbotsverfahren gibt, denn sehr deutlich belegt der Autor wie gefährlich die AfD ist. Was sie will machen die führenden Parteimitglieder immer wieder mehr als deutlich. Die Beweisführung zum rechtsextremen Charakter der AfD konzentriert sich auf Aussagen der Führungsfiguren Höcke, Weidel, Gauland und Chrupalla. Hendrik Cremer belegt das alles mit öffentlichen Zitaten. Eigentlich müsste sie jeder kennen. Erschreckend! Im anstehende Wahljahr sei ein Verbot wegen der Länge des Verfahrens jedoch keine sinnvolle Option mehr, meint Cremer, fordert aber die „längst überfällige Einstufung der AfD als ‚erwiesen rechtsextremistische Bestrebung‘“. Laut Cremer erhebt die „AfD den totalitären Anspruch, Menschen zu Objekten zu degradieren, nach Gutdünken über sie zu entscheiden und zu verfügen“, „was Deportationen deutscher Staatsangehöriger einschließt“. Er resümiert: „Käme die AfD an die Macht, wäre niemand mehr in diesem Land sicher“. Schon 2018 sprach Höcke in einem Buch von der Notwendigkeit eines „großangelegten Remigrationsprojekts“, das eine Politik der „wohltemperierten Grausamkeit“ erfordere. Wer sich noch mal auf den neuesten Stand bringen möchte, welche Ziele die AfD heute verfolgt, kann das in dem Buch nachlesen. Gut recherchiert und schnell zu lesen möge es viele Leser finden. Ernst Reuß Hendrik Cremer: „Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen“, Berlin Verlag, Berlin 2024. 240 Seiten, 22 Euro
Die Geschichte, die Albrecht Weinberg von seinem Leben erzählt ist herzzerreißend. Er erzählt wie er in seiner ostfriesischen Heimat zuerst diskriminiert und dann vertrieben wurde. Die Demokratie starb allmählich, doch dann ging alles sehr schnell. Selbst in der tiefsten idyllischen Provinz wirkte das antisemitisch rassistische Gift der Nazis und wie das geschah ist unfassbar, denn jeder Dorfbewohner kriegte das mit. Albrecht Weinberg war im „Fehndorf“ Rhauderfehn in Ostfriesland aufgewachsen. Bereits 1936 durften die Kinder nicht mehr die reguläre Schule besuchen. Auch Ostfriesland wurde „judenrein“ gemacht. Nach den Novemberpogromen 1938 versuchten die Eltern zumindest den Kindern die Auswanderung nach Palästina zu ermöglichen, doch als die Auswanderung dorthin erfolgen sollte, war es Menschen jüdischen Glaubens schon verboten Deutschland zu verlassen.
Albrecht Weinberg musste Zwangsarbeit verrichten, überlebte drei Todesmärsche und wurde im April 1945 in Bergen-Belsen befreit. Nur wenige Familienmitglieder überlebten den Holocaust. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Er, sein Bruder Dieter und seine Schwester Friedel überlebten jedoch das Vernichtungslager Auschwitz. Der Bruder starb tragischerweise jedoch kurz nach dem Krieg. Zusammen mit seiner Schwester Friedel wanderte Albrecht Weinberg 1947 in die USA aus. Mehr als 60 Jahre lebten sie zusammen in New York. Als seine Schwester Friedel im Alter einen Schlaganfall erlitt, kamen die Geschwister 2012 nach Leer zurück. Friedel starb kurz danach in ihrer alten Heimat. Albrecht Weinberg begann nun endlich zu sprechen und besuchte in der Folgezeit zunehmend Schulen. Dadurch fand er späte Anerkennung. In Rhauderfehn gibt es seit 2006 eine Geschwister-Weinberg-Straße. Albrecht wurde Ehrenbürger und das Gymnasium, das er ab 1936 nicht mehr besuchen durfte, wurde inzwischen nach ihm benannt, nachdem ihm dort 2021 das Ehrenabitur verliehen wurde. Die Schülersprecher ehrten ihn mit den Worten: „In den vergangenen Jahren haben Sie uns Schülerinnen und Schülern immer wieder Ihre Geschichte erzählt, für uns haben Sie das Grauen, das Ihnen widerfahren ist, erneut durchlebt, um uns etwas beizubringen, das so viel wichtiger ist als viele der schulischen Inhalte: Was es bedeutet, ausgegrenzt und gehasst zu werden, dass Respekt und Achtung vor unseren Mitmenschen wichtiger sind denn je, und vor allem, dass wir eine Stimme haben, die im Angesicht großer Ungerechtigkeit nicht verstummen darf.“ Eine andere nicht weniger herzzerreißende Lebensgeschichte ist die von Lidia Maksymowicz. In ihren Erinnerungen „Ich war zu jung, um zu hassen.“ erzählt sie von ihrer Leidenszeit in Auschwitz. Sie wurde im Alter von drei Jahren nach Auschwitz deportiert und überlebte das Vernichtungslager nur, weil sie von Josef Mengele für seine grausamen Experimente ausgewählt wurde. Lidias Familie wurde bei Ankunft dort „selektiert“. Die Großeltern wurden sofort in der Gaskammer ermordet, ihre belarussische Mutter musste Zwangsarbeit leisten, während Lidia als Mengeles Versuchskaninchen in die Kinderbaracke geschickt wurde. Lidia erzählt in dem Buch auch von der Suche nach der eigenen Identität und nach ihrer leiblichen Mutter, die Auschwitz in einem der letzten Todesmärsche verlassen musste. Auch sie überlebte und suchte nach dem Krieg in Auschwitz vergeblich nach ihrer Tochter, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte. Lidia wurde nach dem Krieg von einer Polin aus Auschwitz adoptiert und lebte nun dort. Sie kannte auch kaum etwas anderes. Erst im Erwachsenenalter fand sie ihre leibliche Mutter in Belarus wieder. Schwierige Zeiten für alle Beteiligten, denn ihre leibliche Mutter ging davon aus, dass sie nun wieder bei ihr leben würde. Doch Lidia hatte ihre Heimat in Auschwitz gefunden und blieb. Sie lebt bis heute in der Nähe, in Krakau. Ernst Reuß Nicolas Büchse, Albrecht Weinberg - »Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm«, Eine wahre Geschichte vom Holocaust, dem Überleben und einem Versprechen, das die Zeit überdauert, München 2024, 288 Seiten, 20 Euro. Lidia Maksymowicz, Paolo Rodari, Ich war zu jung, um zu hassen. Meine Kindheit in Auschwitz, München 2024, 192 Seiten, 22 Euro.
Mordechai Strigler, der 1998 als 80-Jähriger in New York starb, war ein Schriftsteller, Journalist und Überlebender der Shoah. Er schuf mit seiner Buchreihe „Verloschene Lichter“ ein literarisches Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.
Bereits kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 begann er seine Erfahrungen in den Lagern literarisch zu verarbeiten. Er beschreibt die Lagerorganisation und das Lagerleben sowie den Umgang der jüdischen Gefangenen untereinander. Der beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Warschau ansässige Strigler, war nach Einmarsch der Deutschen zur Zwangsarbeit in unterschiedliche Arbeitslager geschickt worden. Er überlebte zwölf davon und emigrierte kurz nach seiner Befreiung nach Paris. Er selbst war mit der Zeit in „privilegiertere“ Kreise der jüdischen Lagerverwaltung aufgestiegen. Eltern und drei von sieben Schwestern wurden Opfer der Nazis. 1952 ging er nach New York und arbeitete bis zu seinem Tod für jiddische Zeitungen. Nach „Majdanek“, „In den Fabriken des Todes“ und „Werk C“ erschien nun der vierte und letzte Teil der Tetralogie in deutscher Erstausgabe. Das Buch heißt „Schicksale“ . Die Bücher waren zuvor nur auf Jiddisch veröffentlicht worden. In „Schicksale“ berichtet Strigler von den letzten Monaten in den HASAG-Werken im besetzten Polen, als die Munitionsfabrik letztendlich geschlossen und die Häftlinge im August 1944 nach Deutschland „evakuiert“ wurden. Es ist dem Herausgeber Frank Beer und der Übersetzerin Sigrid Beisel zu verdanken, dass diese Publikationenen nun auf Deutsch erscheinen. Beer, der bereits andere, nie auf Deutsch erschienene Augenzeugenberichte aus den Vernichtungslagern für deutsche Leser zugänglich gemacht hat, widmet sich dankenswerterweise diesen historischen Schätzen, um sie dem Vergessen zu entreißen. In seinen Zeitzeugenberichten beschreibt Strigler die grausamen Umstände, unter denen die jüdischen Gefangenen im Zwangsarbeiterlager der Hugo und Alfred Schneider AG (HASAG) Munition für den Krieg herstellen mussten. Die HASAG war ein in Leipzig ansässiges metallverarbeitendes deutsches Unternehmen, das auch als Rüstungskonzern vor allem nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion von großer Bedeutung war. Die Fabrik war Munitionshauptlieferant im Osten, mehr als 10 000 Menschen arbeiteten im Lager. Striglers Bücher sind keine nüchterne Beschreibung des Alltags der jüdischen Häftlinge, sondern eine Aufarbeitung des Erlebten. Neben den Tatsachenschilderungen versucht Strigler in einem belletristischen Teil die erlebten Grausamkeiten zu beschreiben. Die Zwangsarbeit war gesundheitsgefährdend und wurde von sadistischen Mördern überwacht. Arbeiter, die als nicht mehr arbeitsfähig erachtet worden waren, wurden in den Wäldern der Umgebung erschossen. Über 20 000 jüdische Zwangsarbeiter fielen den Verhältnissen dort zum Opfer. Meist starben sie innerhalb von drei Monaten nach ihrer Ankunft, da die benutzten Säuren zu schweren Vergiftungen führten und für Juden keine Schutzkleidung vorgesehen war. Am Ende des Krieges wurden tausende Häftlinge aus den HASAG-Werken auf Todesmärsche geschickt. 1948 wurden 25 Mitarbeiter der HASAG vor Gericht gestellt und verurteilt. Der Chef des Werkes konnte nach dem Krieg untertauchen und wurde nie gefasst. Inzwischen begann man im Stammwerk Leipzig Kochtöpfe, Milchkannen, Lampen und ähnliches zu produzieren. Der VEB Leuchtenbau Leipzig hatte die Rechte an der Firma HASAG, die erst 1974 gelöscht wurde. Striglers Bücher sind keine einfachen Schilderungen des Alltags der jüdischen Häftlinge, sondern er beschreibt mit dem scharfen und bitteren Blick seines teilweise autobiographischen Protagonisten „Mechele“ - genauestens - sowohl die Opfer als auch die Täter. Ganz besonders in den Vernichtungslagern galt:„Homo homini lupus“ – Der Mensch ist des Menschen ein Wolf. Nichts für zart besaitete Gemüter. Ernst Reuß Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Majdanek, Verloschene Lichter. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Todeslager. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe März 2016, 228 Seiten, Paperback, 24,00 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), In den Fabriken des Todes, Verloschene Lichter II. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Arbeitslager Skarzysko-Kamienna. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Juni 2017, 400 Seiten, Paperback, 29,80 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Werk C, Verloschene Lichter III. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes, Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Oktober 2019, 460 Seiten, Paperback, 32,00 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Schicksale. Verloschene Lichter IV. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah, Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Januar 2024, 694 Seiten, Paperback, 48,00 €.
Atemlos berichtete der Autor und Journalist Uwe Wittstock 2021 in seinem Buch „Februar 33: Der Winter der Literatur“ über den ersten Monat nach Hitlers Machtübernahme. Chronologisch erzählt er Tag für Tag aus der Sicht berühmter Kunst- und Kulturschaffenden. Geradezu atemberaubend ist das Tempo, wie sich ihre Welt in diesem Monat veränderte. Schon im März 1933 sind viele der Protagonisten im Exil oder im Gefängnis. Wittstock schrieb: „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“
Nun hat Wittstock mit dem selben atemberaubenden Erzählstil sein neues Buch „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ geschrieben, in dem chronologisch das Leben der Literaten im französischen Exil erzählt wird, bevor die Flucht vor den Nazischergen weitergehen musste. Das Tempo, mit dem die Deutschen Frankreich überrannten, überraschte die Flüchtlinge genauso wie die französischen Truppen. Viele flohen zu den Häfen, nach Marseille, die größte Stadt in der unbesetzten Zone. Von Marseille aus wollten sie Europa verlassen, doch das war alles andere als einfach. Das Buch behandelt die Zeit zwischen Mai 1940 und August 1941. In Marseille kreuzten sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller und Künstler. Das Buch dreht sich aber auch um den altruistischen amerikanischen Fluchthelfer Varian Fry, der in New York das Emergency Rescue Committee gründete, selbst nach Frankreich reiste und nun endlich auch in Deutschland ein wenig bekannter ist. Am Potsdamer Platz in Berlin ist inzwischen eine Straße nach ihm benannt. Fry war nach der Machtübernahme der Nazis als Journalist in Berlin und beobachtete mit Entsetzen was dort geschah. Später ermöglichte der Literaturenthusiast vielen Literaten, Intellektuellen und sonstigen Künstlern die Flucht, auch wenn das nicht einfach war und er selbst dafür einiges riskierte. Die weitgehend unbekannte Mary Jayne Gold half ihm dabei. Meist wurden die Flüchtlinge von Lisa und Hans Fittko auf kleinen Schmugglerpfaden nach Spanien gebracht, von wo die Flucht nach Übersee weiter gehen konnte. Die Fluchthelfer setzten dabei ihr Leben aufs Spiel, kehrten aber immer wieder zurück, um weiter zu helfen. Nicht allen konnte geholfen werden Walter Hasenclever, Ernst Weiß und Walter Benjamin brachten sich um, weil sie nicht länger flüchten wollten. Alfred Apfel starb bei der Fluchtplanung an einem Herzinfarkt im Büro von Varian Fry. Rudolph Breitscheid und Rudolf Hilferding zögerten zu lange, denn ihre Schiffspassage war von Fry schon gebucht. Sie wurden verraten, verhaftet und ermordet. Unter den von Fry geretteten über 2 000 Menschen befanden sich unter anderen Hannah Arendt, Ernst Josef Aufricht,Georg Bernhard, der Surrealist André Breton, die Maler Marc Chagall, Marcel Duchamp, Max Ernst, Wifredo Lam und André Masson, der geschwätzige „Frauenheld“ Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Fritz Kahn, Siegfried Kracauer, Konrad Heiden, Heinz Jolles, Wanda Landowska, Jacques Lipchitz, Alma Mahler und ihr Mann Franz Werfel, Heinrich Mann, dessen von der Familie verachtete Frau Nelly und sein Neffe Golo, der immer wieder hysterische Walter Mehring, Otto Meyerhof, Soma Morgenstern, Hans Natonek, Hans Namuth, die beeindruckende Hertha Pauli, Alfred Polgar, Hans Sahl und Kurt Wolff. Allesamt waren nach dem 30. Januar 1933 aus Deutschland nach Frankreich geflohen und mussten nun erneut die Koffer packen. Sie standen ganz oben auf der Fahndungsliste der Nazi-Besatzungsmacht. Ihr Fluchthelfer Fry war ein Idealist, dessen Sturheit es ihm nicht immer leicht machte. Vor allem weil die USA eigentlich kein Interesse daran hatte politisch aktive, von den Nazis verfolgte Schriftsteller nach Amerika zu holen. Auch Juden wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Von wegen „Refugees Welcome“. Fry fand nach dem Krieg nie wieder eine angemessene Anstellung, er wurde Werbetexter für Coca-Cola und starb 1967. Erst 1994 - lange nach seinem Tod -verlieh ihm die Gedenkstätte Yad Vashem den Titel „Gerechter unter den Völkern“. Bis dorthin wurden seine Taten kaum gewürdigt. In seinen Schilderungen der Geschehnisse erwähnte Heinrich Mann seinen Lebensretter mit keinem Wort. Eine deutschsprachige Biographie über den Lebensretter gibt es bis heute nicht, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihm doch einiges zu verdanken hat. Wittstock würdigt in „Marseille 1940“ Varian Fry auf seine eigene, sehr lesenswerte Art. Er hat damit zwei wunderbar erzählte Bücher verfasst, die die Fragilität einer Demokratie und deren brutale Zerstörung erfahrbar machen. Das neu verfasste Werk ist zudem ein Buch über den nackten Überlebenskampf von prominenten Flüchtlingen und eine Würdigung von altruistischen Fluchthelfern, die auch damals kriminalisiert wurden. Wittstock resümiert: „Neben jeder Person, die in diesem Buch erwähnt wird, standen Hunderte oder Tausende andere, die das gleiche Recht hätten, in Erinnerung gebracht zu werden. Mehr noch, manche der Schicksale, von denen hier erzählt wird, waren dicht verflochten mit Schicksalen, die nicht geschildert werden konnten, damit das Buch nicht ins Uferlose wuchs.“ Ernst Reuß Uwe Wittstock: „Februar 33: Der Winter der Literatur“, München 2021, 287 Seiten, 24 Euro. Uwe Wittstock: „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“, München 2024, 351 Seiten, 26 Euro.
2018 erschien Evelyn Steinthalers Buch „Mag’s im Himmel sein, mag’s beim Teufel sein“, bei dem es um Filmstars bei den Nazis ging. Dort ging es beispielsweise aber auch um Bruno Balz, der heute noch ausgesprochen bekannte Filmsongs von Zahra Leander schrieb und als Homosexueller von den Nazis verfolgt wurde. Der Titel des Buches ist eine Liedzeile aus dem Hans Albers-Hit „Goodbye Johnny“. Es ging um immer noch bekannte Stars wie Hans Albers, Hans Moser und Heinz Rühmann, die sich alle auf ihre Weise mit dem System arrangierten. Andere Stars sind heute kaum noch bekannt. Stars wie Carola Neher, Renate Müller und Joachim Gottschalk überlebten die Nazizeit nicht.
Nun erschien von derselben Autorin „Schau nicht hin, Kunst als Stütze der Macht“. Es geht um die Filmdiven der Nazis. Es geht um Zarah Leander, Marika Rökk und um die heute weniger bekannten Stars wie Lída Baarová und Kristina Söderbaum. Bei allen fehlte auch nach dem Krieg ein Unrechtsbewusstsein und eine Aufarbeitung. Sie galten als unpolitisch. Seltsamerweise gelten und galten derartige Attribute nie für links orientierte Filmschaffende von Unterhaltungsfilmen. Als „Boomer“ in Deutschland und in Österreich wuchs man in der Nachkriegszeit mit Zarah Leander und Marika Rökk auf, deren Filme regelmäßig im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Die Verquickung von Kunst und Politik wurde nicht thematisiert. Die Tatsache, dass in Zarah Leanders Filmen als Frauen verkleidete SS-Männer wesentlicher Bestandteil ihrer filmischen Revuen waren ist weitgehend unbekannt - wird aber im Buch thematisiert. Männer sollen besser zu Leanders Statur gepasst haben, als die üblichen Tänzerinnen im Hintergrund. Es geht auch um die aus Schweden stammende „Reichswasserleiche“ Kristina Söderbaum, die vom berüchtigten „Jud Süß“ Regisseur Veit Harlan entdeckt und geheiratet wurde. Sie spielte in seinen antisemitischen Propagandawerken Hauptrollen, weil sie dem arischen Ideal entsprach. Als ihr Mann ab 1950 wieder inszenierte, spielte Söderbaum erneut zahlreiche Hauptrollen in seinen Filmen. Als letztes wird Lída Baarová porträtiert, die mit dem auf Schauspielerinnen spezialisierten Schürzenjäger und verliebten Nazipropagandaminister ein Verhältnis gehabt haben soll, das erst mit einem Machtwort Hitlers beendet wurde. Joseph Goebbels wollte sich angeblich wegen Baarová scheiden lassen. Seine Frau Magda intervenierte beim „Führer“. Baarová erhielt daraufhin Spielverbot und ging 1939 zurück in ihre Heimatstadt Prag. 1945 wurde sie in der Tschechoslowakei wegen Kollaborationsverdachts inhaftiert und nach 18 Monaten wieder freigelassen und rehabilitiert. Die Autorin stellt sich die Frage: „Inwieweit tragen Künstler und Künstlerinnen ein System mit?“. Ernst Reuß Evelyn Steinthaler, Schau nicht hin, Kunst als Stütze der Macht - Die Geschichte der Diven des NS-Kinos, Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2024, 208 Seiten, 25 Euro. Evelyn Steinthaler, „Mag’s im Himmel sein, mag’s beim Teufel sein“, Stars und die Liebe unter dem Hakenkreuz, Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2018, 192 Seiten, 22 Euro.
Völkermord
Andrej Angrick hat in seinem bereits 2003 erschienen und jetzt wieder neu aufgelegten Buch „Besatzungspolitik und Massenmord" auf eindrucksvolle Weise den Weg der Einsatzgruppe D nachverfolgt und die Protagonisten porträtiert. Angrick ist damit ein grundlegendes Werk gelungen, das ein Muss für all diejenigen ist, die sich für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in der damaligen Sowjetunion interessieren. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion nahmen auch die mobilen Mordverbände ihre Tätigkeit auf. Die Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) war eine der „Sondereinheiten“ im Zweiten Weltkrieg, die an der Vernichtungspolitik in der früheren Sowjetunion beteiligt war. Die Ukraine, die Krim und der Kaukasus waren zumeist ihre Einsatzgebiete. Mit einer Stärke von ungefähr 600 Mann war sie nach den eigenen Lageberichten an ungefähr 100 000 Morden beteiligt. Der Völkermord war als Mittel der Politik gegen den Sowjetstaat angeordnet worden. Mit dem „Generalplan Ost“ sollte eines deutsch-germanischer „Garten Eden“, geschaffen worden. Insbesondere in der „Kornkammer Ukraine“, wo sie anfangs von vielen als „Befreier“ vom stalinistischen Joch empfangen wurden. Obwohl einzelne Ukrainer, soweit sie als verlässlich galten, zum Aufbau der landeseigenen Verwaltung und für Hiwi-Einheiten herangezogen wurden, war eine unabhängige Ukraine nie ernsthaft angedacht. Die Zeit des Wohlwollens war allerdings spätestens beendet, als die Bandera-Bewegung Stellung gegen das Reich bezog. Was im Buch berichtetet wird ist schwer zu verdauen, denn schonungslos werden detailliert die Pogrome der Einsatzgruppe D an der einheimischen Bevölkerung beschrieben. „Ganz normale deutsche Männer“ und ihre Helfershelfer begingen unfassbare Verbrechen. Nachdem man den größten Teil der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten ermordet hatte, begann man die Kriegsgefangenenlager nach Juden zu durchsuchen und verfolgte „Partisanen“. Man experimentierte dabei auch mit Vergasungen. Die gesamte Einsatzgruppe setzte sich aus Personen mit sehr unterschiedlichen Biografien zusammen. Angrick stellt fest, dass die Einsatzgruppe „im Spannungsfeld ihrer kaltschnäuzigen Karrieresucht und persönlicher Wünsche, der sehr wohl ausgeprägten Struktur von Befehl und Gehorsam und der trotzdem vorhandenen Möglichkeit zur individuellen Entscheidung für oder gegen bestimmte Handlungsweisen.“ sicher kein homogener Verband war, aber trotzdem eine „erschreckend ‚homogene’, mörderische Wirkung“ hatte. Es gab sadistische Verrohungen durch das tägliche Morden, aber auch Angehörige, die die Nerven verloren und von ihren Aufgaben entbunden wurden. Angrick resümmiert: „Bezüglich der Einsatzgruppen kann man (..) anführen, dass im Rahmen militärischer Operationen noch nie zuvor so wenige Menschen willkürlich über das Leben so vieler anderer entschieden, sie ermordet und gequält hatten.“ Die Mitglieder der Sondereinsatzkommandos seien „hauptsächlich und in erster Linie Mörder“ gewesen und verdrängten ihre möglicherweise vorhandenen Skrupel. Nach dem Krieg begingen einzelne Mitglieder der Sondereinsatzkommandos Suizid, andere flohen ins Ausland, aber die meisten dieser „ganz normalen Männer“ führten ihr „ganz normales Leben“ in Deutschland fort. Nur wenige wurden zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Den meisten gelang problemlos der Übergang in die bundesrepublikanische Gesellschaft, was laut Angrick „die spezifischen nationalen Erinnerungsformen und -diskurse der bundesdeutschen Gesellschaft maßgeblich prägen sollte.“ Ernst Reuß Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord, Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943, Hamburger Edition, Hamburg 2023, Gebunden, 798 Seiten, 35 €.
Die bereits 2014 erschienene Biographie über Winston Churchill erscheint inzwischen auch als Taschenbuch. In diesem Jahr wäre er 150 Jahre alt geworden.
Der Verlag beschreibt ihn so: „Als Winston Churchill 25 Jahre alt war, hatte er Kriege auf drei Kontinenten erlebt, fünf Bücher geschrieben und einen Sitz im britischen Unterhaus gewonnen. Mit 60 galt er politisch als gescheiterter Mann. Doch dann kam der Zweite Weltkrieg. Churchill wurde Premierminister, leistete den entscheidenden Widerstand gegen Hitler-Deutschland und führte sein Land bis zum siegreichen Kriegsende.“ Selbst er fand seinen langjährigen politischen Werdegang mit Parteienwechseln von den Konservativen zu den Liberalen und wieder zurück, bei dem der Monarchist zum Schluss Königin Elizabeth diente, erstaunlich: „Ich diente unter der Ururgroßmutter der Queen, unter ihrem Urgroßvater, ihrem Großvater, Vater und jetzt ihr.“ Der Journalist Thomas Kielinger, der lange Jahre für „Die Welt“ aus London berichtet hatte, charakterisiert in seiner Biographie diesen exzentrischen, aber schwierigen Charakterkopf und überragenden Rhetoriker. Der am 30. November 1874 geborene Sir Winston Leonard Spencer-Churchill war ein Kind des britischen Hochadels. Sein Vater Randolph Henry Spencer-Churchill war ein bedeutender Politiker der Tories. Er war Finanzminister. Der Sohn jedoch wurde ein Ausnahmepolitiker. Aber als er mit Ach und Krach den Schulabschluss schaffte, wusste der Vater zunächst nicht, was er mit dem missratenen Sohn machen sollte. Als Politiker, Maler und Schriftsteller übertraf Winston den mit seinem Sohn Unzufriedenen aber um Längen. Winston war ein Paradiesvogel, der mit keinem anderen zeitgenössischen Politiker verglichen werden konnte und sich als Meister der Selbstinszenierung - mit einer Zigarre zwischen den Lippen - zu präsentieren wusste. Auch der Malerei hatte er sich verschrieben. Seine Bilder werden heute für mehrere Millionen Euro versteigert. Eigentlich war Winston Churchill bereits in jungen Jahren ein Held, als er im März 1901 erstmals seinen Sitz im Londoner Unterhaus einnahm. Zuvor hatte er sich bereits als Offizier und Kriegsberichterstatter einen Namen gemacht und wurde nach seiner spektakulären Flucht aus einem Gefangenenlager im Burenkrieg zuhause triumphal empfangen. Seine von ihm selbst zu Papier gebrachten Abenteuer waren schnell Bestseller. Es sollten nicht seine einzigen Bestseller werden. Mit der Schriftstellerei finanzierte er sich seinen aufwendigen Lebensstil mit Koch, Chauffeur sowie Butler und seine Erzählkunst brachte ihm zudem den Literaturnobelpreis ein. Dennoch heißt die Biographie: „Der späte Held“, womit der Autor vor allem die Zeit nach Churchills Ernennung zum Premierminister 1940 meint. In Hitler fand Winston Churchill den Gegenspieler, gegen den er in seinen Ansprachen an die Nation zu seiner Bestform auflaufen konnte. Hitler bezeichnete ihn als „verjudeten halb amerikanischen Trunkenbold“, scheiterte letztendlich aber auch an dessen Hartnäckigkeit. Das zuvor stattgefundene Ringen um Appeasement oder Wehrhaftigkeit erinnert dabei stark an heutige Zeiten. Als Hitler alle Verträge und Versprechen gebrochen hatte und Polen überfiel, erklärte auch das britische Empire Deutschland den Krieg. Gleichzeitig wird ein neues Kabinett gebildet, mit Winston Churchill erneut als Marineminister. Als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 auch Frankreich angreift, wird Churchill Premierminister einer Allparteienregierung. Er weiß, dass die Existenz Großbritanniens auf dem Spiel steht und versucht die USA als Verbündeten zu gewinnen. Frankreich wird besetzt. Die Invasion Großbritaniens gelingt jedoch nicht, auch wegen Winston Churchill. Am 8. Mai 1945 verkündete Premierminister Winston Churchill vom Balkon des Londoner Buckingham Palace in Anwesenheit der königlichen Familie die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands. Interessant dabei auch die von englischen Politikern geteilte Erleichterung, dass das ein Jahr zuvor stattgefundene Stauffenberg-Attentat missglückte, denn anders wäre es nach dem Krieg eine schwierigere Verhandlungsposition gewesen. Mit tiefem Misstrauen begegnete er später der Tatsache, dass Polen – dessen Befreiung von der Nazi-Tyrannei den Beginn des Weltkriegs markiert hatte – nun hinter einem „Eisernen Vorhang“ verschwand. Stalin war ihm ein neuer alter Feind. Der einst liberale Politiker Winston Churchill wandelt sich endgültig zum antisozialistischen Hardliner. Im Buch kommen auch Churchills negative Charaktereigenschaften zum Vorschein. Er äußerte sich durchaus auch rassistisch und blieb bis zum Schluss imperialistisch, war aber zuhause auch Demokrat. Trotz aller Machtfülle rüttelte er nie an den Grundpfeilern der britischen Demokratie. Selbst während des Krieges, musste er sich im Parlament einem Misstrauensvotum stellen. 1955 tritt Winston Churchill vom Amt des Premierministers , das er nach dem Krieg zwischenzeitlich verloren hatte, zurück, blieb aber dem Unterhaus bis zum Schluss als Abgeordneter erhalten. Zum Rücktritt als Regierungschef musste er regelrecht gedrängt werden. Er starb am 24. Januar 1965. Eine lesenswerte Biographie des überaus bunten und spannenden Lebens eines außergewöhnlichen Mannes, der an seinem 150. Geburtstag im November wieder in aller Munde sein wird. Ernst Reuß Thomas Kielinger: „Churchill. Der späte Held“, C.H. Beck Paperback, München 2022, 400 Seiten, 16,95 Euro.
Anfang
Es war im Oktober 1999, als ich eine Ausstellung zum Holocaust sah und ein Foto mich sehr berührte: das Foto einer Erschießung im Zweiten Weltkrieg. Als Bildunterschrift war auch der Ort angegeben, an dem die Erschießung stattgefunden hatte. Es war Winniza in der Ukraine. Winniza? Winniza hatte ich schon gehört. Mein Großvater soll dort gewesen sein, während des Krieges. Mein Großvater Ernst, der zu früh Verstorbene, nach dem ich benannt worden war. Er war zwar Parteimitglied, aber weit hinter der Front in einer Schreibstube tätig, hieß es. Vom Krieg soll er kaum etwas mitbekommen haben. Von da an interessierte es mich brennend, was in Winniza geschah und wo genau meine Großväter im Zweiten Weltkrieg tätig waren. Mich ließ das Thema nicht mehr los. Ich begann nachzuforschen. Zu meinem Erstaunen und dem Erstaunen meiner Familie musste ich erfahren, dass mein Großvater in der Kommandantur eines Kriegsgefangenenlagers in Winniza tätig gewesen war. Ich las alles, was ich dazu finden konnte, und erfuhr, dass in derartigen Lagern entsetzliche Verbrechen geschehen sind. Zu meinem noch größeren Erstaunen stellte ich fest, dass in Deutschland zwar viel über deutsche Kriegsgefangene in Sibirien zu lesen war, aber es kaum etwas über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gab, obwohl 3,3 Millionen von ihnen in den deutschen Vernichtungslagern umgekommen waren. Zu meinem allergrößten Erstaunen erfuhr ich bei meinen Nachforschungen, dass mein anderer Großvater, der kein Nazifreund war, mehrere Jahre – als Gefangener in russischer Hand – in eben diesem Lager in Winniza verbringen musste, nachdem die Deutschen abgezogen waren. Ich wollte nun noch genauer wissen, was in Winniza geschehen war. Anfragen an renommierte Wissenschaftler blieben ergebnislos. Meist war es den Angesprochenen nicht einmal eine Antwort wert. Mein Konzept und mein privates Fotomaterial, das ich dem Deutsch-Russischen Museum in Berlin zur Verfügung stellte, blieben dort für immer verschwunden. Trotzdem versuchte ich, weitere Erkenntnisse zu gewinnen und besuchte alle deutschen Archive, die etwas zu dieser Thematik hergeben konnten. Ich wurde dabei auch fündig. Leider waren die Ergebnisse begrenzt, doch viele Originalakten führten dazu, dass das Bild immer klarer wurde. Das Bild von zwei einfachen Soldaten an der Ostfront und von schrecklichen, zumeist ungesühnten Verbrechen. Besonders berührte mich dabei das entsetzliche Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangen. Propaganda Nach den Anfangserfolgen der deutschen Wehrmacht beschäftigte sich auch das Propagandaministerium mit den vielen Gefangenen. Man versuchte, sie zur Bestätigung des propagierten Weltbildes zu nutzen. Goebbels ließ daher bereits am 26. August 1941 eine Fahrt der Mitglieder der Ministerkonferenz in ein Gefangenlager organisieren, an der er selbst auch teilnahm. Zweck dieses „Betriebsausflugs“ sollte sein , ich zitiere „den Konferenzteilnehmern und Vertretern des Gaues Berlin einmal die in den Wochenschauen gezeigten Unmenschen in Natur vorzuführen und hierdurch zu zeigen, vor welcher Gefahr F ü h r e r und die Wehrmacht uns gerettet haben.“ Goebbels wollte die in den Wochenschauen gezeigten …… „Bestien“… im Original vorführen. Dies misslang jedoch gründlich, denn die Teilnehmer des „Betriebsausfluges“ zeigten sich enttäuscht von den „Unmenschen“, die so gar nicht den Erwartungen entsprachen. Der Berichterstatter vom Propagandaministerium merkte in seinem Bericht enttäuscht an : „Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten (...) Ferner erklärten sie übereinstimmend, sie hätten Hunger und wollten arbeiten (...) Auch die anderen Fahrtteilnehmer haben (…) das Lager nicht mit dem Gefühl des Hasses verlassen, sondern eher in Verwunderung darüber, daß es noch so viele menschlich aussehende Russen gibt.“ Er berichtete weiter : „Ich nehme an, daß bei zukünftigen Besichtigungen vorher dafür Sorge getroffen wird, daß der in den Wochenschauen gezeigte Entwurf gezeigt wird.“ Logisch! Er war ja aus dem Propagandaministerium. Es war seine Aufgabe die Realitäten dem „Entwurf“ anzupassen. Der Berichterstatter gab bei seinen Überlegungen auch ein geradezu klassisches Beispiel der vorherrschenden „Humanität“ – nicht nur – höherer Parteikreise : Ich zitiere „Zum Abschluß der Führung wurden uns die Gefangenen gezeigt, die schon einmal ausgebrochen sind. Wir verstanden nicht, daß diese überhaupt noch lebten. (...) Sie waren hinter einem Stacheldrahtverhau und machten in dem strömenden Regen, zum größten Teil zu dreien unter einer Jacke stehend, einen erbärmlichen Eindruck. Einer der Gefangenen (...) sagte zunächst immer wieder daßelbe, nämlich sie wollten arbeiten. Dann verlangte er Brot bezw. etwas zu essen, da sie schon so lange gehungert hätten. (...) Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. Nicht aus Mitleid, sondern aus reinen Verstandesgründen stehe ich auf dem Standpunkt, daß man das Essen, was sie noch bekommen, sowie die Wachmannschaften, die man für sie braucht, sparen und sie, wenn sie geflohen sind, sofort töten sollte.“ Kannibalismus Die erbärmliche Situation in den Lagern in der Sowjetunion führte sogar offensichtlich öfters zu Kannibalismus. Warum es dazu kam, wurde nicht lange diskutiert. Nach Ansicht von vielen war wohl nicht die fehlende Nahrung Ursache für derartige Auswüchse, sondern das……ich zitiere…..„Untermenschentum der gefangenen Bestien“. Ein Bezirkskommandant unterstellte den kannibalistischen Gefangenen sogar Propagandamotive. Seines Erachtens aßen sich die Gefangenen nur deswegen gegenseitig auf, um die Deutschen in schlechtem Licht darzustellen (!). Feldpost Um die Lage hinter der Front zu illustrieren möchte ich auch einen Brief vorlesen, den ich bei meinen Recherchen erhielt. Es ist unveröffentlichtes Material von 1942, das eindrücklich zeigt mit welchem Selbstverständnis in der Sowjetunion gewütet wurde. Der Brief des Frontarbeiters räumt mit der immer noch kolportierten Mär auf, dass in Deutschland Niemand von dem Treiben im Osten etwas gewusst habe : Ich zitiere „Lieber Vater! Du müßtest einmal sehen wie es dem auserwähltem Volk hier geht. Alles was Hände und Füße hat schlägt und tritt an ihm herum, wenn jemand seinen Zorn auslassen will kommt ein Jüd dran, zu fett werden sie bei uns auch nicht. Früh muß sie ein Mann holen am Tag beaufsichtigen und abends wieder nach Hause bringen, denn sie wohnen gemeinsam in einem mit 3 m hohen Stacheldraht eingezäuntem Lager, wer ohne Posten auf der Straße gesehen wird, wird sofort erschossen. Auch haben wir gefangene Russen zum arbeiten, es gehen alle Tage einige kaputt oder werden erschossen. Wenn wir diese früh holen sagt der Unteroffizier am Abend muß die Zahl stimmen oder ihr habt die Burschen erschossen und ich sehe die Leichen dieses macht nichts, auch ging uns im Wald einer stiften konnten ihn aber noch in die ewigen Jagdgründe schicken. Im Zimmer haben wir Judenmädchen zum Aufwaschen, Kleiderwaschen, Strümpfstopfen, Schuh putzen haben uns diese auf dem Arbeitsamt ausgesucht, bei meinem Zimmer ist eine tüchtige Judendame wäscht und hält alles in Ordnung. Auch sind in der letzten Zeit 40 000 Juden wieder erschossen worden weil wir diese Brüder nicht mehr brauchen können, da zittern die anderen immer weil sie auch noch dran kommen. Was ich Euch geschrieben habe soll man nicht weiter erzählen, es ist verboten. Da nun das Osterfest nahe vor der Türe steht so wünsche ich Euch frohe und gesunde Osterfeiertage seid alle nochmals herzlich gegrüßt von Euren Sohn und Bruder Oskar.“ Auch die Beiläufigkeit wie im folgenden Brief desselben Autors nur wenige Monate später von unfassbaren Verbrechen berichtet wird, zeigt die unbegreifliche Normalität des bestialischen Treibens in jenen Tagen : Ich zitiere „Bei uns wäre alles in Ordnung wenn bloß der Fraß etwas besser wäre Kartoffel und wieder Kartoffel man scheißt Haufen so groß wie ein Backkorb und hat trotzdem Kohldampf. Salat oder Gemüse hat es noch nicht gegeben bis der groß wird den wir gesät haben wird es Weihnachten werden. Ich kaufe mir immer einmal Rettich etwas Butter gibt es auch hat auch wieder Bier gegeben, ist dann eine prima Brotzeit. Auch wurde eine Wasserleitung gegraben da kamen wir durch ein jüdisches Massengrab welches zirka 1 ½ Jahr alt war. Juden mußten dann die Leichen umbetten, wenn sie fertig waren fanden sie dann auch den Tod im gleichen Grab. Von dieser Sache schweigen denn ich war vom Kommando Wachhabender.“ Werdegang Ernst In Winniza selbst – wo mein Großvater Ernst als Feldwebel tätig war – gab es drei Lager : Es gab ein Ghetto für jüdische Zivilbevölkerung, das von Juli bis September 1941 bestand. Es hatte ungefähr 7 000 Bewohner und mindestens 2 000 Tote durch Erschießungen zu beklagen. Das Ghetto stand unter Zivilverwaltung. Als zweites Lager wurde in Winniza ein Zwangsarbeitslager für männliche Juden eingerichtet. Die jüdischen Mitglieder des Zwangsarbeitslagers wurden zu Gleisbauarbeiten herangezogen. Dieses Lager bestand von Dezember 1941 bis April 1944 und wurde von der SS verwaltet. Als die Arbeiter nicht mehr gebraucht wurden, sollen auch sie erschossen worden sein. Das dritte Lager, das eigentliche Kriegsgefangenenlager – Stalag 329 – bestand vom Oktober 1941 bis September 1943. Zuständig war die Wehrmacht. Laut Statistik wurden dort höchstens bis zu 20 000 sowjetische Soldaten gleichzeitig gefangen gehalten. Ernst war dort in der Schreibstube tätig, die angeblich 15 Kilometer vom Hauptlager entfernt war. Stalag 329 war nicht das schlimmste der Lager im Osten. Es fanden aber auch dort Aussonderungen, Sonderbehandlungen und Morde statt. Ernst muss von den Verbrechen zumindest gewusst haben, auch wenn er wahrscheinlich nicht direkt darin involviert gewesen war. Auch außerhalb dieser drei Lager kam es im September 1941 und im Frühjahr 1942 zu Massenerschießungen. Schätzungen gehen davon aus, dass dabei jeweils zwischen 15 000 und 30 000 Bürger in der Stadt Winniza umgebracht wurden . Ernst war Weihnachten 1942 auf Heimatbesuch und erkrankte auf der bitterkalten Zugfahrt zurück nach Winniza schwer. Trotz eines inzwischen chronischen Herzleidens musste er noch einmal zurück in die Ukraine und erlebte das Ende von Stalag 329 mit. Das Lager in Winniza wurde im November 1943 nach Ostpreußen und dann in die Lüneburger Heide verlegt. Was beim Abzug aus Winniza mit den letzten Insassen geschah, bleibt im Dunklen. Nimmt man das Verhalten der deutschen Truppe zuvor zum Maßstab, kann man nur das Schlimmste befürchten. Ernst war danach in Kroatien tätig. Allerdings war er schwer krank und lag meist im Hospital, wo er beim Rückzug in Lienz in englische Gefangenschaft geriet. Ein Jahr später wurde Ernst aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Er hatte jedoch in den folgenden Jahren aufgrund seiner schweren Krankheit nicht mehr allzu viel von der neu gewonnenen Freiheit. Gestorben ist er schließlich am 1950 mit 42 Jahren an der Herzkrankheit, die er sich während des Krieges zugezogen hatte. Weder für die „Sonderbehandlungen“ noch für sonstige Todesfälle im Stalag 329 wurde ein deutscher Soldat je belangt. Werdegang Lorenz Mein anderer Großvater Lorenz wurde erst Ende Januar 1942 eingezogen und wurde bereits einige Wochen später an die Front ins Kubangebiet geschickt. Er war einfacher Gefreiter. Kanonenfutter nannte man diese kurz ausgebildeten Soldaten an der Ostfront. Da sie keinerlei Kampferfahrung besaßen, war ihre Lebenserwartung an der Front nicht sonderlich hoch. Nur wenige aus seinem Regiment überlebten. Lorenz hatte Glück im Unglück und wurde bei Noworossisk Anfang Juli 1943 bei einem Granatenangriff schwer verletzt. Nach Gesundwerdung musste er allerdings wieder ran um die Reichshauptstadt zu verteidigen. Am 2. Februar 1945 schrieb er zum letzten Mal aus Bayern: „Nun trete ich zum drittenmal einen harten Weg an. Gelingt es mir, daß ich eine leichte Verwundung erwische, so bin ich bei Euch bald zu Haus, das ist mein innigster Wunsch und mein Alles. Die Lage ist jetzt ganz aussichtslos für uns, was ich ja schon immer angedeutet habe. Der Volkssturm hält den Russen auch nicht mehr vor Berlins Toren? Ich habe keine Angst vor den Russen und arbeiten kann ich überall. Nur diese Verbrecher müssen alle ausgerottet werden. Wo wir zum Einsatz kommen, ist noch nicht bekannt, (...) Hoffentlich habe ich viel Glück dabei u. Angst habe ich gar nicht. Mache mir Du lb. Frau keinen Kummer und Sorgen, denn das Schicksal wird uns treu zur Seite stehen. Nur eins möchte ich Euch noch sagen, eßt Euer Fleisch jetzt, als daß ihr es den Besatzungen gebt. Die Stimmung ist bei uns so sehr gesunken, nach den letzten Nachrichten. Auch keine Beförderungen sind bei uns noch nicht herausgekommen. Ich werde ja damit bestimmt nicht überrascht. Meine Gesinnung u. Eifer zu diesem Schwindel sind nicht geeignet. (...) Man könnte aus der Haut fahren, wenn man dieser ekligen Zeit gedenkt. Zwölf Jahre Haß u. Elend u. wie lange wird es noch dauern? Nun lb. Frau wollen wir das Beste hoffen, daß wir nach dem Krieg unser schlichtes Eheleben vollenden können. Auch unser sonniges Kind möge Gott unter seinen Schirm nehmen.“ Jeder dieser Briefe von Lorenz hätte nicht schon deswegen sein letzter sein können, weil die tödliche Front drohte, sondern auch, weil einige seiner Äußerungen als Defätismus beziehungsweise Wehrkraftzersetzung mit der Todesstrafe bedroht waren. Gerade zum Ende des Krieges reagierte der verlängerte juristische Arm des obersten Gerichtsherren Hitler berserkerhaft. Lorenz, hatte – wie schon an der Front im Kubangebiet – sehr viel Glück. Er überlebte und geriet am 16. April 1945 kurz nach Beginn der letzten Offensive in der Nähe von Berlin in Gefangenschaft. Am 10. Mai 1945 war Lorenz als Kriegsgefangener in der Ukraine im Lager Winniza angekommen. Dort sollte er erst einmal bis Ende Juli 1947 bleiben. Die Rote Armee benutzte also dasselbe Lager in dem der zukünftige Schwiegervater seiner Tochter tätig gewesen war. Sie sollten sich allerdings nie kennenlernen. Am 1. August 1947 wurde er ins Lager Kiew verlegt. Bis Ende Mai 1949 musste Lorenz in Kriegsgefangenschaft bleiben. Ihm ging es dort - nach eigenem Bekunden - nicht schlecht. Lorenz litt allerdings Zeit seines Lebens an den im Krieg erlittenen Verletzungen. Ein Bein war verkürzt, woraus sich ein schweres Hüftleiden entwickelte. Durch die weiterhin in seinem Körper wandernden Granatsplitter litt er ständig unter Schmerzen. Die Fortführung des „schlichten Ehelebens“, was von ihm in den Briefen als sehnlichster Wunsch genannt worden war, dauerte nicht allzu lange. Dreieinhalb Jahre nach seiner Heimkehr starb seine Ehefrau Anna. Er selbst starb 1981. SchlussVon 3,1 Millionen deutschen Kriegsgefangenen sollen nur ungefähr 2 Millionen wieder zurückgekommen sein. Über ein Drittel der deutschen Kriegsgefangenen sind demnach in den Lagern umgekommen . Dennoch, die Behandlung von sowjetischen Kriegsgefangenen durch Deutsche unterscheidet sich fundamental von der Behandlung deutscher Kriegsgefangener durch die Sowjets. Im Gegensatz zur systematischen Vernichtung von sowjetischen Kriegsgefangenen lassen sich die häufigen Todesfälle von deutschen Kriegsgefangenen, insbesondere unmittelbar nach Stalingrad, weitgehend mit der Auszehrung und dem schlechten Gesundheitszustand der deutschen Soldaten nach diesen langen Kämpfen erklären. Ein weiterer Grund war die allgemein schlechte Lebens- und Versorgungssituation in der ausgebluteten Sowjetunion. Schon aus diesem Grund wäre ein einfacher Zahlenvergleich der Todesfälle in den Lagern mehr als fragwürdig. Während Deutsche in der Sowjetunion zumeist gemäß den Genfer Konventionen behandelt wurden, waren die Deutschen mitnichten an einer menschenwürdigen Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener interessiert. Zwar hatte auch das Deutsche Reich 1934 die Genfer Konventionen ratifiziert. Dennoch sollten diese nicht für sowjetische Kriegsgefangene gelten. Die deutsche Regierung stellte sich auf den Standpunkt, dass die Konventionen nur bei Gegenseitigkeit Gültigkeit besäße und Russland hatte die Genfer Konvention nicht unterzeichnet. Eigentlich wäre auch das kein allzu großes Problem gewesen, denn Russland hatte die zuvor gültige Haager Landkriegsordnung von 1907 unterzeichnet, aber die deutsche Regierung wollte für sowjetische Gefangene nicht einmal diese Abkommen anwenden. Konventionen für die „slawischen Untermenschen“ war eine Humanitätsduselei, die sich die rassistisch motivierte Ideologie der Nazis nicht leisten wollte. In Hitler-Deutschland vertrat man die Ansicht, dass die Sowjets sich von allen Verträgen des zaristischen Russlands, also auch von der Haager Landkriegsordnung, losgesagt hätten. Man hatte somit den Vorwand gefunden, sich gegenüber einem bolschewistischen Russland nicht mehr an derartige Verpflichtungen gebunden fühlen zu müssen. Die Bevölkerung der Sowjetunion sollte dezimiert, das „Judentum“ und der Bolschewismus ausgerottet werden. Eine kurze Anmerkung noch: Nach dem Krieg erhielten auch die durch die Westalliierten gefangenen Soldaten nicht den Status als Kriegsgefangene, sondern galten als Internierte. Sie waren daher nicht den Genfer Konventionen und der Haager Landkriegsordnung unterworfen. Man argumentierte, dass der Staat aufgehört habe zu existieren, ergo gäbe es auch keine staatlichen Soldaten mehr. In den USA hießen sie „Disarmed Enemy Forces“. Bei den Briten hießen sie „Surrendered Enemy Personnel“. Beide Begriffe ähneln dem heute in Guantanamo benutzten Begriff des „enemy combattant.“ Alles Begriffe, die völkerrechtlich nicht anerkannt sind. Auf die Genfer Konventionen wird augenscheinlich meist nur bei den eigenen Soldaten gepocht. 174. Freitagsbrief Aber zurück zu den sowjetischen Kriegsgefangenen. Da mit Stalins Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 Gefangenschaft mit Verrat gleichgesetzt worden war, hatten viele sowjetische Gefangene, obwohl es relativ wenige Kollaborateure unter ihnen gegeben hatte, zu Recht Angst, wieder zurück in ihr Heimatland zu müssen. Von den zwangsrepatriierten Kriegsgefangenen erhielt nur ein Fünftel die Erlaubnis heimzukehren. Der Rest wurde verurteilt oder als Zwangsarbeiter in verwüstete Gegenden geschickt. Erst 1957, nach dem XX. Parteitag, wurden die ehemaligen Kriegsgefangenen amnestiert, blieben aber bei der eigenen Bevölkerung häufig geächtet. Zum Schluss daher ein relativ aktueller Brief eines sowjetischen Kriegsgefangen „Ich bin ich Jahre 1921 (…) geboren. Im November 1940 wurde ich in die Armee eingezogen. Ich diente als einfacher Soldat in der 12. Schützenbrigade. Am 22. Juni 1941 begann der Krieg. Ich wurde an die Front geschickt. Im Juli 1941 wurde ich in der Ukraine schwer verletzt. Ich lag lange allein. Ich hatte großen Blutverlust. Endlich wurde ich abgeholt und zusammen mit anderen Verletzten mit einem Zug in die Stadt gebracht. Dort wurde ich 9 Monate lang behandelt. Nach der Genesung schickte man mich wieder an die Front. Ich kam nach Kertsch auf der Krim. Dort geriet ich in einen Kessel. Ich wurde von den Deutschen gefangen genommen und nach Deutschland verschleppt. Dort befand ich mich in einem Kriegsgefangenenlager. Gerade im Lager begann für mich der Schrecken des Krieges. Die Menschen waren dünn und entkräftet, mit weißen Gesichtern. Man musste auch noch arbeiten. Jeden Tag starben viele Menschen. Ich überlebte dank eines Wunders. Das Essen war kalorienarm, sehr bescheiden: es wurden ein bisschen Rüben geschnitten, dazu Wasser. Das wars. Das nannte man „Suppe“. Zusätzlich gab es 200 Gramm Spänebrot. So war das Essen für den ganzen Tag. (…) Es ist schwer, sich an das Ganze zu erinnern. Vieles habe ich nicht mehr im Kopf. Ich hielt mich in Deutschland bis 1945 auf. Danach wurde ich von amerikanischen Truppen befreit. Ich und andere Kriegsgefangene wurde mit Bahnwaggons nach Brest gebracht. Wir, schwache, kranke, arbeitsunfähige, wurden nach Sibirien geschickt (…). Dort sollte ich zwei Jahre arbeiten. Ich durfte nicht heimkehren. (…) Wir wurden als Vaterlandsverräter eingeordnet, nur aus einem einzigen Grund, dass wir in Kriegsgefangenschaft gerieten. Wir zerkleinerten große Tonstücke, stapelten sie. Danach wurde der Ton mit Wagen weggebracht. (…) Ich verwundere mich, dass ich damals überlebte, dass ich noch am Leben bin. Jetzt bin ich schwer krank. Meine Beine, Hände, mein Magen tun weh. Alles tut weh. Meine Seele tut auch weh. Meine Rente ist klein. Ich lebe mit der Ehefrau Sofia zusammen. Wir haben zwei Kinder und zwei Enkel. Ich weiß nicht, was ich noch schreiben soll. Wenn ich in Erinnerungen versinke, habe ich Kopfschmerzen. Ich bin oft sehr nervös. Es ist schwer sich überhaupt vorzustellen, wie ich das Ganze überlebt habe. Ich höre schlecht. In der rechten Hand habe ich immer noch Splitterreste. Ich kann keine Unterlagen, keine Nachweise finden. Damit beende ich meinen Brief.“ Und ich beende hiermit meinen kurzen Vortrag. Ernst Reuß
Heinrich Himmler ordnete im April 1940 den Bau eines Konzentrationslagers in Oswiecim, auf Deutsch Auschwitz, an. Die SS errichtete das Stammlager in den Gebäuden einer ehemaligen polnischen Kaserne. Schon im Mai 1940 trafen die ersten KZ-Häftlinge im Lager ein. Die Lage war verkehrstechnisch günstig gewählt worden. Der Bahnanschluss vereinfachte die rasche Deportation von Juden aus vielen Gebieten Europas in das nicht weit von Krakau und Kattowitz entfernte Auschwitz. In der dünn besiedelten Umgebung konnten weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit schlimmste Verbrechen begangen werden. Die dorthin Deportierten wurden für drei bis sechs Reichsmark pro Zehnstundentag an deutsche Unternehmen als Arbeitssklaven vermietet. Nicht nur die I.G. Farben, sondern auch andere deutsche Firmen, die Wehrmacht und das Rüstungsministerium Albert Speers profitierten davon. Anfangs als Arbeits- und Gefangenenlager gedacht, wurde es spätestens nach der Wannseekonferenz zu einem Vernichtungslager, das zum Synonym für die Judenvernichtung durch die Deutschen und ihre Helfer geworden ist.
Bald nach Errichtung des Stammlagers reichten die Kapazitäten nicht mehr aus. Bereits im März 1941 ordnete Himmler eine Vergrößerung des Lagers nahe dem benachbarten Dorf Brzezinka, auf Deutsch Birkenau, an. Die Kapazität des Lagers war auf 200 000 Menschen ausgelegt. Dort sollte die industrielle Vernichtung von Juden erfolgen. Zudem wurde auf Initiative und Kosten der I.G. Farben AG das Lager Auschwitz–Monowitz errichtet, wo Zwangsarbeit verrichtet werden musste. Es war das größte von insgesamt etwa 50 Außenlagern. In Auschwitz und Birkenau wurde selektiert. Alte, Kranke, Schwache und Kinder wurden in der Regel sofort nach ihrer Ankunft vergast, arbeitsfähige Männer und Frauen erst einmal unter menschenunwürdigsten Bedingungen versklavt. Registriert und mit Nummern versehen wurden nur diejenigen, die bei der Selektion nicht zur sofortigen Vernichtung bestimmt wurden. Hatte man die Selektion überlebt, konnte schon der nächste Tag der letzte sein. In Auschwitz wurden 1,1 bis 1,5 Millionen. Menschen von der SS ermordet. Darunter waren mindestens 1 Millionen Juden, bis zu 75 000 Polen, 21 000 Sinti und Roma, circa 15 000 sowjetische Kriegsgefangene und an die 15 000 Menschen, die keiner dieser Kategorien zugeordnet werden können. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Lager. Der Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz ist seit 1996 in Deutschland, seit 2005 international der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Jüngst sind daher zwei Augenzeugenberichte erschienen, von Überlebenden, die damals noch Kinder waren. Eine davon war Rachel Hanan. Sie schreibt: „Ich war ein Teenager, noch ein halbes Kind, als ich an meinem 15. Geburtstag in Auschwitz ankam. Ziemlich genau ein Jahr später, eine Woche vor meinem 16. Geburtstag, wurde ich im Konzentrationslager Theresienstadt aus der Gefangenschaft der Nationalsozialisten befreit.“ Rachel Hanan überlebte als Teenager vier Konzentrationslager, bevor sie am 9. Mai 1945 von der Roten Armee in Theresienstadt befreit wurde. Vorher war sie in Auschwitz, wo sie den überaus freundlichen Dr. Mengele kennenlernte, der im Gegensatz zu den brüllenden Soldaten, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wurde, immer mit freundlicher Miene und ohne weitere Regung über Tod oder Leben entschied. Danach war sie in Bergen Belsen und in Duderstadt, einem Außenlager von Buchenwald. Rachel stammte aus Unterwischau, einer Gemeinde im Norden Rumäniens. Ungarn hatte 1940 mit Hilfe Hitlers einen Teil von Siebenbürgen okkupiert, die Juden entrechtet und später deportiert. 1947 wanderte Rachel nach Israel aus und arbeitete dort als Sozialarbeiterin. Die andere - Tova Friedman - ist gerade einmal fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter nach der vorherigen Ghettoisierung und dem Aufenthalt in einem Arbeitslager in das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau deportiert wird. Sie schreibt: „Ich habe überlebt. Damit einher geht die Verpflichtung gegenüber den anderthalb Millionen jüdischen Kindern, die von den Nazis ermordet wurden. Sie können nicht mehr sprechen. Also spreche ich für sie.“ Tova Friedman gehörte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu den 50 000 jüdischen Kindern der polnischen Stadt Tomaszow Mazowiecki. Nur fünf davon überlebten die Nazizeit. Sie hatten unsagbares Leid zu überstehen. Tova kehrte mit ihre Mutter an ihren Wohnort zurück, wo sie den polnischen Antisemitismus erlebte. Eine Tante wurde von antisemitischen Banden getötet. Über die Station Berlin, Landsberg am Lech und Israel ging Tova Friedman in die USA und arbeitete dort als Psychotherapeutin. Sie schreibt in ihrem Vorwort: „Wenn Sie jetzt weiterlesen, möchte ich, dass Sie schmecken, fühlen und riechen, wie es war, als Kind während des Holocaust zu leben. (...) Ich hoffe, Sie werden wütend. Denn wenn Sie wütend sind, besteht die Möglichkeit, dass Sie Ihre Empörung mit anderen teilen, und das erhöht wiederum die Chancen, einen weiteren Völkermord zu verhindern.“ Ihre Erzählungen wurden aufgeschrieben von einem freien BBC Journalisten, der das alltägliche Grauen plastisch beschreibt, so dass man mit etwas Empathie nur schaudern und wütend werden kann. Schrecklich was den Menschen angetan wurde und trotzdem muss man es immer wieder lesen, um das ganze Ausmaß des Schreckens verstehen zu können. Antisemitismus ist wieder auf dem Vormarsch und das obwohl der Holocaust erst ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Die Erinnerung daran muss wach bleiben. Nie wieder! Ernst Reuß Rachel Hanan, Thilo Komma-Pöllath, Ich habe Wut und Hass besiegt«, Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat, München 2023, 288 Seiten, 20,00 € Tova Friedmann und Malcom Brabant, Ich war das Mädchen aus Auschwitz, 352 Seiten, übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz, München 2023, 18,00 € Susanne Willems: „Auschwitz“. Die Geschichte des Vernichtungslagers. Edition Ost, Berlin 2015, 256 Seiten, 29,99 Euro. |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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