Reiswerder ist eine kleine Insel im Tegeler See in Berlin-Reinickendorf, gerade mal 330 Meter lang und 180 Meter breit. 180 Meter Wasser liegt auch zwischen der Insel und dem Berliner „Festland“. Ein idyllisches Naturschutzgebiet, das zu Mauerzeiten in den Ferien brechend voll war.
Viele Berliner haben trotzdem noch nie von dieser Insel gehört und doch ist sie ein geschichtsträchtiger Ort voller harmloseren Anekdoten, aber auch mit einer tragischer Geschichte. Als harmlose Anekdote kann man die Zwangsübersiedlung der Bewohner von Baumwerder, der etwas größeren Nachbarinsel, bewerten. Sie wurde von den bisherigen Pächtern der Insel skeptisch betrachtet und führte quasi zu einer Nord-Süd-Spaltung von Reiswerder. Familie Bonus, die die Insel schon seit vielen Jahren als ihren Besitz betrachtete, musste nun teilen. 1943 war das der Fall. Baumwerder, auf der sich ein Verein von Naturliebhabern aus dem Wedding breitgemacht hatte, musste geräumt werden, weil die Insel von den Wasserbetrieben zur Förderung von Trinkwasser gebraucht wurde. Tragisch dagegen ist die Geschichte der auf der Insel untergetauchten Verfolgten, die am 23. August 1944 nach einer Denunziation, von der Gestapo abgeholt wurden. Es war eine kleine Gruppe von Jüdinnen und Juden, die sich monatelang auf der Insel versteckt hatten. Untergetaucht haben bis zu 2000 Berliner Juden den antisemitischen Irrsinn überlebt. „Stille Helden“ wie beispielsweise Wilhelm Daene und seine Ehefrau Margarete haben das ermöglicht. Als Abteilungsleiter eines Betriebes, dem jüdische Zwangsarbeiterinnen unterstellt waren, versuchte er zu helfen. Drei Jüdinnen wurden von dem Ehepaar versteckt. Zwei überlebten. Nur Gerda Lesser, die er auf Reiswerder unterbrachte und deren Eltern schon vorher deportiert worden waren, wurde im Alter von gerade einmal 18 Jahren in Auschwitz ermordet. Von den vier anderen von Reiswerder in die Konzentrationslager Deportierten überlebten drei. Während Gerhart Fleck in Auschwitz starb, kam seine am 8. Mai aus dem KZ befreite Ehefrau Erna gesundheitlich ruiniert nach Berlin zurück und eröffnete gegenüber der Insel Reiswerder einen kleinen Kiosk namens „Fleck´sche Erfrischungsquelle“. Hermann Dietz, ebenfalls aus dem KZ befreit, wohnte danach in einer Laube auf Reiswerder. Lotte Basch, die nur noch 42 Kilo wog als sie befreit wurde, emigrierte in die USA. Alle drei Überlebenden hatten große Schwierigkeiten, ihren jahrzehntelangen Kampf um Wiedergutmachung zu bestehen. Der Metropol Verlag hat nun einen schmalen Erinnerungsband herausgegeben, der die Geschichte erzählt und mit vielen historischen Fotos illustriert. Recherchiert wurden die Geschichten von der Schauspielerin Christiane Carstens, die sich nach ihren eigenen Worten in die Insel verliebt hat. Ernst Reuß Christiane Carstens, Untergetaucht auf Reiswerder, Spurensuche auf einer Insel im Norden Berlins, Metropol Verlag Berlin 2019, 92 S. € 12.00
Im Ephraim-Palais des Berliner Stadtmuseums läuft bis zum 9. November die sehenswerte Ausstellung „Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt“. Sie widmet sich der Alltagskultur in der DDR. Der vom Kurator der Ausstellung Jürgen Danyel herausgegebene mehr als 400-seitige Begleitband enthält 30 amüsante und interessante Beiträge, die den Alltag in Ost-Berlin beschreiben. Dazu illustrieren 50 Fotos die „halbe Hauptstadt“, die als größte Stadt der DDR immer etwas Besonderes und für viele Provinzler Anziehungspunkt war. Dort gab es im Gegensatz zur Provinz Nischen für eine Vielzahl von Lebensentwürfen. Diesbezüglich unterschieden sich Ost- und West-Berlin kaum, der Alltag war dennoch sehr unterschiedlich.
Claudia Schön alias Mio Mandel erinnert in einem der Texte lakonisch und äußerst amüsant an eine Ost-Berliner Kindheit nahe Honeckers Protokollstrecke, wo ein Volkpolizist nichts anders zu tun hatte, als per Knopfdruck auf die Ampel die Vorfahrt Honeckers zu gewährleisten. Jens Kraushaar beschreibt das schwule Ost-Berlin und erinnert vor allem an Charlotte von Mahlsdorf. Daniela Dahn berichtet aus der Vorwendezeit von der Kneipenszene in der Schönhauser Allee, dieselbe Straße ist auch Hanno Hochmuths Thema. Götz Aly schreibt, wie es zur Aberkennung und Wiederzuerkennung der Ehrenbürgerwürde für den ehemaligen Stadtkommandanten Nikolai Bersarin kam. Marion Brasch stellt eine Ostberliner Playlist zusammen, Mark Reeder erzählt von den Schwierigkeiten, die er erlebte, als er die Toten Hosen bei geheimen Konzerten in der Kirche auftreten ließ. Weitere Texte erkunden das soziale und kulturelle Milieu der Hauptstadt der DDR und zeigen das Lebensgefühl im Osten der geteilten Stadt. Ernst Reuß Jürgen Danyel (Hg.), Ost-Berlin, 30 Erkundungen, Chr. Links Verlag. Berlin 2019, Ausstattung: Hardcover mit: 448 Seiten, 50 Abbildungen, 25 Euro.
Obwohl die SS in der Nachkriegszeit, als Gegenpol zur angeblich sauberen Wehrmacht, zum Sinnbild des Bösen im Zweiten Weltkrieg mutierte und deshalb gleichzeitig der Verdrängung diente, machten viele SS-Veteranen in der Bundesrepublik Karriere. Vor allem die „Organisation Gehlen“, Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes, bot ihnen die Möglichkeit im „Kalten Krieg“ ihr „Know How“ einzubringen. Auch das Bundeskriminalamt war allzu gerne bereit SS-Angehörige einzustellen, so dass gegen Ende der 50er-Jahre über zwei Drittel der leitenden Beamten des kriminalpolizeilichen Vollzugsdienstes ehemalige „SSler“ waren. Mit gegenseitigen „Persilscheinen“ wusch man sich rein. Zwar wurde die SS vom Internationalen Militärgerichtshof als verbrecherische Organisation eingestuft, aber SS-Angehörige kämpften trotzig für ihre Rehabilitierung.
Der vom Hannah-Arendt-Institut in Dresden herausgegebener Sammelband „Die SS nach 1945“ untersucht Netzwerke und Aktivitäten der Nachkriegszeit. Die einzelnen Beiträge des Buches stammen aus einem 2013 stattgefunden Workshop des Instituts für Totalitarismusforschung. Sie reihen sich in die Untersuchungen personeller Kontinuitäten in staatlichen Behörden, die erst in den letzten Jahren ernsthaft begonnen worden sind. Alt-Nazi Paul Carell, ehemaliger SS-Obersturmbannführer und Pressechef des Außenministers Ribbentrop, versuchte nach Kriegsende in Büchern und Zeitungsartikeln die SS zu verharmlosen. Der Bestsellerautor Carell arbeitete für den Spiegel, die Zeit sowie für dem Axel Springer Verlag und schrieb seine Sicht des Zweiten Weltkriegs auf. Er gehörte zur „Kriegsverbrecherlobby“ die meist aus alten Kameraden bestand. Vor allem die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS“ (HIAG) machte mit ihrem „Referat Kriegsgeschichte“ Politik und publizierte unverdrossen ihren Blick auf die Weltgeschichte. Lange hatten sie die Deutungshoheit über die Geschichte der Waffen-SS, die aus ihrer Sicht ein vollkommen ehrenwerter Verband gewesen war, genauso wie die Wehrmacht. Das hat Auswirkungen bis zum heutigen Tag, da auch seriöse Historiker auf diese Verherrlichungsschriften als vermeintlich einzige Quelle zurückgriffen Auch in Film und Fernsehen waren die ehemaligen SS-Angehörigen aktiv und ließen wiederum alte Kameraden als Zeitzeugen auftreten. Das führte über lange Jahre zu einer Verzerrung der Tatsachen. Beispielsweise wurde Joachim Peiper, der ehemalige Adjutant Himmlers und rechtmäßig als Kriegsverbrecher Verurteilte glorifiziert, als er 1976 in Frankreich wahrscheinlich einem Attentat zum Opfer fiel. Man bedauerte den armen alten Mann und seine Verurteilungen als Kriegverbrecher wurden von Zeit und Spiegel in Frage gestellt. In Belgien und Italien war Peiper als Kommandeur an Massakern beteiligt gewesen. Er wurde deswegen 1946 zum Tode verurteilt, was nachträglich in eine Haftstrafe umgewandelt worden war, aus der er 1956 entlassen wurde. Auch in der Wissenschaft waren SS-Veteranen zugange. Der Professor an der Universität Bonn Günther Niethammer war Präsident der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft und galt als einer der bedeutendsten westdeutschen Ornithologen. Als Mitglied der SS, war er Teil der Wachmannschaft von Auschwitz, bis Lagerkommandant Höß ihn für „ornithologische Sonderaufgaben“ freistellte. Das ließ ihn nach dem Krieg von den „seligen Auschwitzer Zeiten“ schwärmen, in völliger Verdrängung dessen, was dort geschehen war. Die Geschichtsklitterung hat jedoch noch kein Ende, denn in einigen Ländern des früheren Ostblocks werden heute die Angehörigen der Waffen-SS als Widerstandskämpfer gegen die verhassten Sowjets erneut verherrlicht. Rechtsextreme glorifizieren die Waffen-SS als gesamteuropäische Armee, denn es waren ironischerweise ausländische Verbände der Waffen-SS, die das letzte Aufgebot in Berlin stellten, um Hitler in seiner Reichskanzlei zu beschützen und dabei auch noch viele Verbrechen begingen. In Estland ist der Kriegsschauplatz der „Schlacht um Narva“ ein Wallfahrtsort von Ex-SSlern aus allen Teilen Europas geworden. Auch in der Ukraine gelang es ehemaligen SS-Angehörigen einen Soldatenfriedhof der SS-Panzer-Division „Wiking“ zu einem SS-Erinnerungsort umzufunktionieren. Gerade in heutigen Zeiten in denen ein Fraktionsvorsitzender in deutschen Bundestag das Recht einfordert: „stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“, der von der NS-Vergangenheit als „Vogelschiss“ spricht und ein Europaabgeordneter sich noch vor ein paar Jahren in einer Rede „vor den tapferen Soldaten der Waffen-SS“ verneigen wollte, ist Wachsamkeit angebracht, um zu verhindern, dass sich erneut ein vollkommen überholtes apologetisches Geschichtsnarrativ breitmacht. Ernst Reuß Jan Erik Schulte, Michael Wildt (Hg.): Die SS nach 1945. Entschuldungsnarrative, populäre Mythen, europäische Erinnerungsdiskurse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018. 451 Seiten. 45 Euro
Die im unterfränkischen Würzburg wohnhafte Käte wurde zusammen mit ihrem Mann Georg Frieß 1941 von dort deportiert.
Das Buch beruht auf einen 130-seitigen Bericht, der den Holocaust überlebenden Käte, den sie unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Flüchtlingslager schrieb, während sie auf Nachricht von ihrem Mann wartete, von dem sie kurze Zeit vorher getrennt worden war. Ende Juni erfuhr sie von seinem Tod in Bergen-Belsen, was sie auch in ihrem Bericht verarbeitet. Vor allem aber berichtet Frieß von den alltäglichen Grausamkeiten und Mordexzessen ihrer Peiniger in den Lagern und Ghettos. Der Bericht von Käte Frieß, die 1997 in den USA starb, wird von der Herausgeberin, die an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin arbeitet, historisch eingeordnet und mit Bildern und Dokumente ergänzt. 1940, mit knapp 19 Jahren, heiratete die Stenotypistin Käte den sieben Jahre älteren Lehrer Georg Frieß. Beide kamen aus einem gemischt-konfessionellen Elternhaus. Elf Monate nach der Hochzeit wurde das Ehepaar deportiert. Nach den Rassegesetzen waren beide lediglich „Geltungsjuden“, da je ein Elternteil nichtjüdisch war, was ihnen letztendlich aber nichts nützte. Am 27. November 1941 fuhr der Zug mit insgesamt 202 unterfränkischen Jüdinnen und Juden nach Nürnberg und von dort zwei Tage später mit fünfmal so vielen Insassen in die Ungewissheit gen Osten. Spätestens nach der Ankunft in Riga und den folgenden Massenerschießungen, war es mit der Ungewissheit vorbei, was mit ihnen geschehen sollte. Käte überlebte mit viel Glück. Auf dem Todesmarsch kurz vor Kriegsende, war sie knapp davor mit blutdurchtränkten Schuhen aufzugeben und schrieb in ihrem Bericht den Satz, der dem Buch den Titel gab: „Ich schleppte mich vorwärts und war immer dicht dran, zu dem SS-Mann zu gehen und ihn zu bitten: ,Schießen Sie mich nieder. Ich kann nicht mehr.‘“ Doch sie hatte einmal mehr Glück: Das Rote Kreuz befreite Käte Frieß und brachte sie in die Sicherheit. Ernst Reuß Christin Sandow (Hg.), „Schießen Sie mich nieder!“ Käte Frieß’ Aufzeichnungen über KZ und Zwangsarbeit von 1941 bis 1945, Berlin: Lukas Verlag 2017, 234 S., 19,80 €,
Zwei Sachbücher beschäftigen sich mit dem Internet. In der ersten Publikation „Darknet – Die Welt im Schatten der Computerkriminalität“, befasst sich der IT- und Sicherheitsexperte Cornelius Granig mit Cyberkriminalität und erläutert wie man sich gegen Attacken aus dem Netz schützen kann. Granig, der in den letzten Jahren die IT- und Sicherheitsabteilungen großer Banken und Versicherungen leitete, erklärt fundiert die vielen Formen der Computerkriminalität und wie das Darknet funktioniert. Das Darknet hat einen schlechten Ruf, weil dort mit Drogen, Waffen und Kinderpornos gehandelt wird. Es hat jedoch eine weit darüber hinausgehende Bedeutung für das Internet und bietet durchaus positive Anwendungen, da es auch von Whistleblowern oder Bürgerrechtsaktivisten genutzt wird. Mit „Tor“ kann man in das Darknet hineingelangen, welches mit herkömmlichen Suchmaschinen nicht zu finden ist.
Das zweite Buch heißt „Überwachungskapitalismus“, in dem sich die emeritierte Professorin der Harvard Business School Shoshana Zuboff äußerst akribisch mit den Auswüchsen der „Datenkraken“ beschäftigt. Sie beschreibt die von Konzernen wie Facebook, Google oder Amazon ausgehenden Gefahren. Dort habe man die persönlichen Daten kommerzialisiert und zur Handelsware erklärt. Zuboff sagt, dass sich der sogenannte „Überwachungskapitalismus“ bereits auf so gut wie alle Wirtschaftsbereiche ausgeweitet habe und man immer alarmiert sein sollte, wenn mit dem Wort „smart“ ein Produkt oder ein Service-Angebot bezeichnet wird. Es ginge dabei letztlich immer um die Kontrolle und Steuerung des Verhaltens der Bevölkerung. Selbstfahrende Autos sind zurzeit in aller Munde. Selbstverständlich können deren Daten für eine dynamische Beeinflussung des Fahrverhaltens benutzt werden. Beispielsweise mit Erhöhungen oder Senkungen der Versicherungsprämie. Man könne dann auch Restaurants und Werkstätten auf der Fahrtstecke bewerben. Daher ist es kein Wunder, dass Google Maps zukünftig nicht nur die gesuchte Fahrtroute anzeigen will, sondern gleich auch Ziele vorschlagen möchte. Das Internet ist kaum durch Gesetze beschränkt und daher der größte unregulierte Raum der Welt. Der Erfolg von Google basiert auf die Fähigkeit das zukünftige Verhalten vorauszusagen. Die Internetnutzer sind der menschliche Rohstoff, der das dafür notwendige kostenlose Rohmaterial bereitstellt. Die Gewinne des „Überwachungskapitalismus“ resultieren in erster Linie aus solchen Märkten. Zuboff meint, dass der Sündenfall des „Überwachungskapitalismus“ in der Enteignung menschlicher Erfahrung liegt. Es sei eine Enteignung durch Überwachung. Das Motiv ist Habgier. Ernst Reuß Cornelius Granig, Darknet – Die Welt im Schatten der Computerkriminalität, Kremayr & Scheriau, Wien 2019, Hardcover mit Schutzumschlag, 304 Seiten, 24,00 € Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus Verlag, Frankfurt und New York 2018, Gebunden, 727 Seiten, 29,95 €
Jedes vierte Opfer des Holocaust kam im Rahmen der bis zum Oktober 1943 dauernden „Aktion Reinhardt“ ums Leben. „Aktion Reinhardt“ war der Tarnname für die systematische Ermordung von polnischen und ukrainischen Juden und Roma in den abgeschieden an Eisenbahnlinien liegenden Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka an der östlichen Grenze des Generalgouvernements. Heinrich Himmler hatte dies im Juli 1942 angeordnet, weil die mit dem Überfall auf die Sowjetunion stattfindenden Massenerschießungen durch Einsatzgruppen nicht „effektiv“ genug waren. Mindestens 1,8 Millionen Menschen fielen der Massenvernichtung zum Opfer. Unterstützt wurden die deutschen und österreichischen Täter dabei von ausländischen Hilfskräften, meist aus der Ukraine, den sogenannten „Trawniki Männern“, die in einem Zwangsarbeiterlager gleichen Namens ausgebildet worden waren.
In den Lagern spielten sich unglaubliche Verbrechen ab. Nachdem die „Aktion Reinhardt“ beendet war, wurden die Anlagen abgerissen, Leichen verbrannt, der Boden umgepflügt und die Gelände in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt. Erst jetzt wurde Auschwitz zum Zentrum der „Endlösung“. Trotz der gigantischen Dimensionen konnten die dortigen Verbrechen bis heute nur unzureichend erforscht werden. In der strafrechtlichen Aufarbeitung in der Nachkriegszeit gerierten sich die Täter, die inzwischen zumeist ihre bürgerliche Existenz fortgesetzt hatten, als kleine Befehlsempfänger, die nun unschuldig verfolgt werden. Sie fanden mit ihrer Sicht der Dinge viel Verständnis in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Für die sogenannten „Nestbeschmutzer“, die die Taten aufklären wollten, gab es dagegen weniger freundliche Resonanz. In der Presse wurde 1966 ein Sobibor-Prozess wie folgt kommentiert: „Das Verfahren (. . .) findet in der Öffentlichkeit kaum mehr Beachtung. Nicht einmal am Prozeßort ist der Name Sobibor bekannt. Ein Student hatte an einer belebten Straßenecke Passanten befragt: ‚Was wissen Sie von Sobibor?‘ Schüler, Hausfrauen, Arbeiter und Beamte zuckten als Antwort meist nur mit den Schultern. Eine Hausfrau tippte auf ein neues Waschmittel.“ Möglicherweise ist der Erkenntnisstand heute etwas höher, trotzdem ist die öffentliche Wahrnehmung angesichts der Monstrosität des Verbrechens immer noch sehr gering. In einem gerade erschienenen Sammelband dokumentieren renommierte Forscher den aktuellen Forschungsstand zur „Aktion Reinhardt“ und zeigen ihre neuen Erkenntnisse zu den drei Lagern, sowie zu Tätern und Opfern. Ernst Reuß Stephan Lehnstaedt, Robert Traba (Hrsg.), Die „Aktion Reinhardt“, Geschichte und Gedenken, Touro College Berlin. Studien zu Holocaust und Gewaltgeschichte, Band 1, Metropol Verlag, Berlin 2019, 395 Seiten, € 24.00
Von 1712 bis 1918 war St. Petersburg die Hauptstadt des Zarenreiches, eine glanzvolle Epoche in der Geschichte der Stadt. St. Petersburg hatte Ende des 19. Jahrhunderts 1,3 Millionen Einwohner. Im früheren Zentrum der russischen Macht war damals „Multikulti“ angesagt. Auch an die 50 000 Deutsche haben damals dort gelebt. Sie stellten die größte ethnische Gruppe nach den Russen. In jener Zeit sind ein Drittel der Geschäfte und Salons entlang des berühmten Newski Prospekts deutsch und es gibt viele deutsche Vereine sowie zwei deutsche Zeitungen. Nicht wenige Migranten aus Deutschland wurden zu anerkannten Honoratioren. Christian Neef beschreibt einige dieser Deutschen, darunter das Brüderpaar Kirchner, dern Apotheker Poehl, Pastor Maaß, dern Kolonisten Peter Amann und dern Musiker Oskar Böhme. Sie alle lebten in St. Petersburg um die Jahrhundertwende, als die deutsche Gemeinde im höchsten Ansehen stand. Der Spiegelkorrespondent Neef, der sich schon viele Jahre mit Osteuropa beschäftigt, erzählt in seinem Buch „Der Trompeter von St. Petersburg“ vom Schicksal dieser Familien. Es ist eine geschichtliche Lehrstunde, die im Zarenreich beginnt, sich über die russische Revolution fortsetzt und im stalinistischen Terror endet. „Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“ ist der Untertitel seines Buches und so verlief auch der Lebensweg vieler Deutscher. Trotzdem viele deutsche Migranten sehr erfolgreich und oft sogar russische Staatsbürger wurden, half ihnen das was ihnen aber spätestens bei der stalinistischen Säuberungswelle wenig. Ende 1938 sind nahezu alle Deutschen im ehemaligen St. Peterburg den Säuberungen zum Opfer gefallen.
Schon in den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde das Leben für die Deutschen sehr viel schwieriger, denn beispielsweise wurde der Gebrauch jedes deutschen Wortes mit 3 000 Rubel Strafe oder 3 Monate Gefängnis bestraft. Richtig schwierig wurde es jedoch erst nach der Russischen Revolution. Karl und Otto Kirchner, Inhaber einer großen Schreibwarenfabrik, deren Abreißkalender überaus populär waren, wurden nun als Kapitalisten von der eigenen Belegschaft angefeindet und enteignet, konnten aber nach Berlin fliehen. Enteignet wurde letztendlich auch die Apothekendynastie Poehl, die Besitzer Eigentümer der bekanntesten Apotheke der Stadt, die den ZarenhHofZarenhof belieferte. Auch sie flohen schließlich nach Berlin. Pastor Eduard Maaß konnte sich mit seiner Familie früh nach Ostpreußen absetzen, wo später sein Enkel, der bekannte Schauspieler Armin Mueller-Stahl geboren wurde. Nach der Revolution war nur noch ein Drittel der Deutschen in St. Petersburg übriggeblieben. Die meisten waren emigriert, doch viele andere hatten das Glück nicht und hofften, weiterhin im inzwischen umbenannten Petrograd unbehelligt leben zu dürfen. Doch dem war nicht so. Deutsche Kirchen wurden mangels Personal geschlossen, nachdem man die deutschstämmige Pastoren zusammen mit Gemeindemitgliedern wegen angeblicher Bildung von „faschistischen Untergrund-Kirchen-Organisationen“ erschossen hatte. Peter Amann, der selbst Bolschwik wurde, überlebte die Säuberung nicht. Er wurde am letzen Tag der Massenerschießungen ermordet. Schon alleine der deutsche Migrationshintergrund machte jemanden schuldig. Wenn es galt, das vorgegebene Soll an Hinrichtungen zu erfüllen, waren die Deutschen besonders gefährdet. Auch Oskar Böhme, der ebenso wie Peter Amann russischer Staatbürger war, wurde zu einem der letzten Opfer des stalinistischen „Großen Terrors“. Er war inzwischen ein äußerst bekannter und erfolgreicher Musiker und Komponist, der als Trompeter schon 1892 bei den Bayreuther Festspielen bejubelt worden war und 1898 nach St. Petersburg übersiedelte. Nun wurde er nach einer absurdenr Beweisführung erschossen. Neef lässt die Akten sprechen. Böhme wurde 1989 rehabilitiert. Im November 1938 wurde der Terror gestoppt, an die 700 000 Menschen wurden alleine zwischen 1937 und 1938 erschossen, davon ungefähr 41 000 allein in Leningrad, so wie St. Petersburg inzwischen hieß. Christian Neef ist ein beeindruckendes Zeitdokument gelungen. Ernst Reuß Christian Neef: Der Trompeter von Sankt Petersburg. Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa, Siedler Verlag, München 2019. 383 Seiten, 28 Euro.
Nördlich von Berlin wurde von Häftlingen 1936 das Konzentrationslager Sachsenhausen errichtet. Benannt wurde es nach einem heutigen Stadtteil von Oranienburg, der damals noch eine selbständige Gemeinde war. Ungefähr 200 000 Menschen aus etwa 40 Nationen wurden in Laufe der Jahre dort inhaftiert. Zunächst waren es die politischen Gegner des NS-Regimes, dann „Minderwertige“, so wurden damals Juden, Homosexuelle, „Zigeuner“, „Asoziale“ oder Zeugen Jehovas bezeichnet. Nach Kriegsbeginn kamen Bürger der überfallenen Staaten dazu.
Zehntausende kamen in Sachsenhausen durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, Misshandlungen oder medizinischer Experimente um, mindestens 13 000 sowjetische Kriegsgefangene wurden systematisch ermordet. Ende April 1945 erreichte die Rote Armee das Konzentrationslager und befreite dort rund 3 000 von der SS zurückgelassene, überlebende Häftlinge. 16 Täter wurden 1947 von einem Sowjetischen Militärtribunal zu meist lebenslänglicher Zwangsarbeit in Workuta verurteilt. Als 1955 die letzten deutschen Kriegsgefangenen heimkehren dürfen, durften auch sie als nicht amnestierten Kriegsverbrecher nach Hause, soweit sie im Gulag überlebt hatten. Nach dem Krieg wurden in der Bundesrepublik nur wenige der Täter juristisch belangt. Eine große Zahl der 1 000 in Sachsenhausen beschäftigten SS-Männer führte nach dem Krieg unbehelligt ein geruhsames Leben. Die BRD zeigte wenig Interesse daran, die Täter vor Gericht zu stellen. Zwischen 1945 und 2005 gab es 257 Ermittlungsverfahren, überwiegend wurden sie aus Mangel an Beweisen eingestellt. Viele bundesdeutsche Juristen hatten selbst eine Nazivergangenheit und bevorzugten es einen „Schlussstrich“ zu ziehen. Diese „Schlussstrichmentalität“ war auch in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft tief verankert. Kein Wunder, denn viele Bürger waren selbst in NS-Verbrechen involviert. Verständnis gab es eher für die Täter, als für die Opfer des „Dritten Reiches“. Die wenigen Verurteilungen bezogen sich vor allem auf besonders sadistische Täter, wodurch der Rest sich erst Recht exkulpieren konnte. Stephanie Bohra hat nun eine Dissertation über die Strafverfolgung der im KZ Sachsenhausen verübten Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland geschrieben. Eine umfangreiche Studie, die alle ans Gericht gelangten Fälle akribisch analysiert. Unter dem Titel „Tatort Sachsenhausen“ erschien die Dissertation jetzt als Buch im Metropol-Verlag. Ernst Reuß Stephanie Bohra: »Tatort Sachsenhausen«, Metropol Verlag, Berlin 2019, 661 Seiten, 29,90 Euro |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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