„Eine Jugend in Deutschland“ ist die Autobiographie eines Mannes und ein sehr spannendes Stück deutscher Geschichte.
Als Freiwilliger zieht Ernst Toller begeistert in den Ersten Weltkrieg und kehrt - wie so viele andere auch - als bekennender Pazifist zurück. Toller stürzt sich in die politische und künstlerische Arbeit. Er lernt unter anderen Max Weber, Thomas Mann sowie Rainer Maria Rilke kennen und schließt sich einer Gruppe von linken Kriegsgegnern in München an, zu denen Erich Mühsam, Oskar Maria Graf und Kurt Eisner gehören. Im November 1918 wird er in München einer der Anführer der nur kurz existierenden Münchner Räterepublik, die er zusammen mit Erich Mühsam und Kurt Landauer gegründet hatte. Der 1893 geborene Ernst Toller war nach der Ermordung Kurt Eisners auch zeitweiliger Vorsitzender der bayerischen USPD. Nach der Niederschlagung der Räterepublik wurde er im Juni 1919 verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Er entging mit dem einen Monat später gefällten Urteil knapp der drohenden Todesstrafe und wird zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Als er am 15. Juli 1924 das Gefängnis lebend verlässt - was nicht jedem seiner Genossen gelingt - ist Ernst Toller auch aufgrund seiner literarischen Erfolge eine nationale Berühmtheit. Toller verbüßte den größten Teil seiner Haftzeit im Gefängnis Niederschönenfeld. Er nutzte die langjährige Haft sehr produktiv, wobei es nicht immer einfach war seine Bücher aus dem Gefängnis herauszubekommen. Während und nach seiner Gefängniszeit wurde er als Schriftsteller in der Weimarer Republik und durch die vielen Übersetzungen auch international sehr bekannt. Mit seiner Geschichtsrevue „Hoppla, wir leben!“ eröffnete 1927 die Piscator-Bühne im Berliner „Theater am Nollendorfplatz“, die zum Inbegriff des Avantgardetheaters der 1920er Jahre wurde. „Ich bin dreißig Jahre. Mein Haar wird grau. Ich bin nicht müde.“, schreibt er am Ende der Haft. Doch nicht lange danach ist er müde. Sechs Jahre nach Hitlers Machtergreifung erhängte er sich nach schweren Depressionen im Alter von 45 Jahren in New York in einem Zimmer des Mayflower Hotels am Central Park. Einen Strick hatte er schon in den Jahren zuvor bei seinen Reisen immer dabei. „Eine Jugend in Deutschland“ wurde gerade in der „Anderen Bibliothek“ neu aufgelegt. Seit 1985 gibt es „die Andere Bibliothek“. Dort gibt es zwölf limitierte und besondere Bücher im Jahr. Ein Buch pro Monat, auf dessen Herstellung und Ausstattung die höchste Sorgfalt verwendet wird. Ediert und erläutert wird Tollers Autobiographie von Ernst Piper. Im Buch sind zahlreiche historische Abbildungen, Faksimiles und Dokumente. Nach 1933 war der jüdischstämmige Toller aus Deutschland ausgebürgert worden. Er galt als „Volksverräter“. Ähnlich denkende und in deutschen Parlamenten sitzende Politiker wollen das nach ihrer Machtübernahme auch jetzt wieder tun. Nach mehreren Exilstationen kam er 1937 in die USA. Er muss angesichts der Erfolge der Nazis vor seinem Suizid sehr verzweifelt gewesen sein. Vor denen hatte er bereits in den 1920er Jahren gewarnt. In dem Buch heißt es: „Um den Mann Adolf Hitler scharen sich unzufriedene Kleinbürger, frühere Offiziere, antisemitische Studenten und entlassene Beamte. Sein Programm ist primitiv und einfältig. Die Marxisten und die Juden sind die inneren Feinde und an allem Unglück schuld, sie haben das unbesiegte Deutschland hinterrücks gemeuchelt und dann dem Volk eingeredet, Deutschland hätte den Krieg verloren.“ „Eine Jugend in Deutschland“ ist nicht nur wegen der schönen Prosa gerade heute wieder ausgesprochen lesens- und bedenkenswert! Die bibliophile Ausgabe seines Buches schmückt zudem jede Bibliothek. Ernst Reuß Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland, Aufbau Verlag, Die Andere Bibliothek, Band 469, Herausgeber Ernst Piper, Berlin 2024, 348 Seiten, 48 €.
Wer immer noch nicht den Unterschied zwischen einer antisemitische Pogrome veranstaltenden Mörderbande und einer Freiheitsbewegung gegen ein Apartheidsregime erkennt, sollte dieses Buch lesen. Letztes Jahr auf englisch erschienen, nun für die Edition Tiamat aus Berlin auf Deutsch übersetzt. Das Buch erschien vor dem 7. Oktober und wirkt wie eine Prophezeiung auf das was danach geschah.
Mit dem Buch „Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung“ bemüht sich der englische Journalist Jake Wallis Simons zu erklären, warum bei Eskalationen im Nahost-Konflikt regelmäßig der Hass auf Israel aufblüht, so wie zuletzt nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023. Er bezeichnet dieses immer wieder auftretende Phänomen als „Israelphobie“, die auch in linken Kreisen vorherrscht, seitdem vor vielen Jahren das Tragen eines Palästinensertuches zum modischen Accessoire von linken Jugendlichen geworden ist. Israel bleibt ein Feindbild, nicht nur für muslimische Jugendliche. Simons schreibt: „Die palästinensische Sache ist zu einem ideologischen Totem für den revolutionären Instinkt der Linken (....) geworden“. Die einschlägigen Schlagworten lauten: „Apartheid“, „Rassismus“, „Völkermord“. Im Buch dargestellt sind unzählige Beispiele von Denunziationen Israels. Im Mittelalter wurden die Juden wegen ihrer Religion gehasst, später dann wegen ihrer „Rasse“. Heute wird Israel als „Apartheidstaat“ gehasst. Jake Wallis Simons nennt das „Israelphobie“ und geht der Frage nach, warum die einzige Demokratie im Nahen Osten, die die Rechte von Frauen und sexuellen und religiösen Minderheiten achtet, so unverhältnismäßig viel Hass auf sich zieht. Dabei werden Fakenews verbreitet und weitaus schlimmere Auswüchse in anderen Ländern verschwiegen oder die schlechte Behandlung von Palästinensern in muslimischen Ländern nicht thematisiert. Vielfach werden die Propagandameldungen aus vergangen Nazi- und Sowjetzeiten einfach nachgeplappert. „Israelphobie ist die neueste Version des ältesten Hasses“, schreibt Simons, der die Dämonisierung Israels mit diesem Buch entlarven will. Ernst Reuß Jake Wallis Simons, Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung, Berlin 2023 (Edition Tiamat), 238 S., 24 €.
Natascha Wodin gelingt das, was Autoren von historischen Sachbüchern oft nicht gelingt. Sie kleidet die Welt des letzten Jahrhunderts mit ihren katastrophalen Verwerfungen und den Auswirkungen auf die Familien in wunderbare Prosa, so dass man das Buch in einem Rutsch durchlesen kann, ohne es aus der Hand zu legen.
Das beweist sie auch in ihrer neuen, autobiografisch anmutenden Sammlung von fünf Erzählungen, die zum Teil schon in anderen Büchern erschienen sind und von ihr überarbeitet wurden. Das Schreiben ist für Wodin Aufarbeitung, was auch in diesem glänzend erzählten Buch deutlich wird. Ein leicht zu lesendes, aber kein leichtes Buch ohne Happy End, das tief in die Seele der Autorin blicken lässt. Die Titelgeschichte „Der Fluss und das Meer“ kommt vom kleinen Fluss Regnitz in Forchheim, in dem die Mutter Suizid beging, zum Asowschen Meer ihrer Heimatstadt Mariupol. Dann beobachtet und beschreibt sie eine verwahrloste Frau aus der Nachkriegszeit, deren gut situierte, sich von ihr gestört fühlende, Nachbarschaft sie wissentlich zugrunde gehen lässt und für deren Tod sich die Erzählerin auch persönlich verantwortlich fühlt. Danach erzählt Wodin von einem Mann, der in einer geschlossenen Anstalt dahinvegetiert und zu dem sie eine platonische aber unerfüllte postalische Liebesbeziehung pflegt. Eine Reise nach Sri Lanka wird für sie eher katastrophal. Zuletzt berichtet sie von einer Angststörung, die eines Tages scheinbar grundlos kam und sie über Jahrzehnte hinweg kaum noch ihre jeweilige Wohnung verlassen lässt. All die Figuren in ihren Geschichten nehmen ihren Ursprung in der eigenen Lebensgeschichte Natascha Wodins, die als Kind russisch-ukrainischer „Ostarbeiter“ in der BRD aufwuchs. Für ihr erfolgreichstes Buch mit dem Titel „Sie kam aus Mariupol“ wurde Natascha Wodin zu Recht schon 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik ausgezeichnet. In der auf Tatsachen beruhenden Erzählung geht es vordergründig um das Leben ihrer ukrainischen Mutter, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte und mit ihrem Mann 1943 als „Ostarbeiterin“ nach Deutschland kamen. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Niedergang ihrer Familie im Bürgerkrieg und anschließendem Terror miterlebte, beging 1956 mit 36 Jahren Selbstmord, als die Tochter gerade einmal zehn Jahre alt war. Eine dramatische Familiengeschichte in Zeiten von Revolution, Hunger, Krieg, Gulag, Selbstmorden, Mord und dem Leben als „Heimatloser Ausländer“ in der fränkischen Provinz. Die wechselvolle Geschichte ihrer Familie ist sowohl ein Familiendrama als auch eine Flüchtlingsgeschichte aus dem letzten blutigen und sehr ereignisreichen europäischen Jahrhundert. Mit Hilfe eines computeraffinen Hobbyhistorikers aus Russland rekonstruiert sie die Herkunft ihrer Mutter. Die Geschichte dieser im ersten Teil des Buches aufgeschriebenen Recherche liest sich wie ein Krimi. Der zweite Teil des Buches verdankt sie den dadurch entdeckten Aufzeichnungen ihrer nicht mehr lebenden Tante. Er führt aus deren Perspektive vom vorrevolutionären Russland einer zu großem Vermögen gekommenen italienischstämmigen und adligen Familie, zu stalinistischen Terror und furchtbaren Hungersnöten. Ihre 1920 geborene Mutter hatte die einstmalige Pracht nie erlebt und daher auch nie thematisiert. Deren Leben begann im revolutionären Chaos und stolperte von einer Katastrophe in die nächste. Ihre bürgerliche Herkunft war in der Ukraine lediglich eine Bürde und war für sie kein Grund in der Vergangenheit zu schwelgen. Der dritte Teil des Buches erzählt den Werdegang der Mutter, die trotz ihrer bürgerlichen Herkunft studieren konnte und nach dem Einmarsch der Wehrmacht eine Anstellung beim deutschen „Arbeitsamt“ fand, der Vermittlungsstelle für Zwangsarbeiter. Möglicherweise war diese Form von Kollaboration auch ein Grund ihres Exils in Deutschland und im Gegensatz zu vielen anderen Ostarbeitern keine Verschleppung. Wodin wurde in einem Arbeitslager des Flick-Konzerns gezeugt und kam 1945 auf die Welt. Der vierte und letzte Teil des Buches erzählt von der Nachkriegszeit. Im Schuppen einer Eisenwarenfabrik in Nürnberg wächst die rebellische Tochter schließlich in ärmlichsten und schwierigen Verhältnissen auf. In ihrem Elternhaus mit einem gewalttätigen Vater und einer depressiven Mutter herrschen chaotische Verhältnisse, ansonsten wird geschwiegen. Wodins Mutter trauerte ihren engsten Familienangehörigen nach, die sie alle zu verloren haben scheint. Erst ihre Tochter findet nun wieder die Spuren dieser Familie und stellte dabei fest, dass man - ohne voneinander auch nur zu ahnen - sich nach dem Krieg an Orten befand, die nicht allzu weit entfernt waren. Die Nachkriegszeit und der beginnende Kalten Krieg ließen jedoch kein Wiedersehen zu. Ernst Reuß Natascha Wodin, Der Fluss und das Meer, Erzählungen, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 192 Seiten, 22 Euro. Natascha Wodin, Sie kam aus Mariupol, Roman, Rowohlt Verlag, Hamburg 2017, 364 Seiten, 19,95 Euro.
Mordende Frauen sind eher die Ausnahme. Tötungsverbrechen begehen sie vor allem durch die Verabreichung von Gift. Eine Frau, die Männer erdrosselt, ist schon angesichts der Kräfteverhältnisse eine Rarität. Aber auch das gab es, wenn man dem Gericht glauben darf. Zumindest in diesem Fall unmittelbar nach dem Krieg, der auch mit der sich zum 75 mal jährenden Währungsreform in Berlin zu tun hat.
Wegen der Kräfteverhältnisse bestanden aber auch erhebliche Zweifel an Elisabeth Kusians Geständnis. Man vermutete einen männlichen Mittäter. Sogar eine Wahrsagerin mischte sich ein, die „vor ihrem inneren Auge“ einen männlichen Täter gesehen haben will. Daraufhin widerrief Kusian ihr Geständnis und beschuldigte ihren Ex-Mann, die ihr zur Last gelegten Morde aus Eifersucht verübt zu haben. Sie habe ihm nur bei der Beseitigung der Leiche geholfen. Kusians Ex-Mann, mit dem sie auch nach der Scheidung noch eine intime Beziehung unterhielt, wurde zwar verdächtigt, aber nach kurzer Haft als entlastet auf freien Fuß gesetzt. Er war allerdings nicht der einzige Verdächtige. Kusian pflegte mehrere Beziehungen. Auch ihr neuester Liebhaber stand unter Mordverdacht. Kusians Ex-Mann Walter wusste von ihren Liebhabern, diese aber nicht von ihm. Mitunter musste Walter sich selbst als Elisabeths Schwager ausgeben, wenn er sie zufällig mit einem ihrer Geliebten traf. Selbst seine eigenen Kinder wurden dann dazu angehalten, „Onkel Walter“ zu ihm zu sagen. Kusians neue große Liebe war Kriminalsekretär Muschan, angeblich ein glücklich verheirateter Vater von drei Kindern. Um seine Familienverhältnisse mit eigenen Augen zu begutachten, hatte Elisabeth, als Weihnachtsmann verkleidet, die überraschte Familie Muschan vor ihrem Weihnachtsbaum besucht. Ziemlich übergriffig, aber offenbar schöpfte Muschans Ehefrau keinen Verdacht. Kusian hatte ihrem neuen Freund erzählt, ihr Mann, ein Oberarzt, sei verstorben. Dem wiederum hatte sie vor der Ehe anvertraut, sie sei Offizierstochter. Alles erfunden. Ihre eigene Mutter machte Kusian zu einer ungarischen Gräfin, und sie entwarf Todesanzeigen hochrangiger Personen, bei denen sie selbst als stud. med. unter den Hinterbliebenen auftauchte. Elisabeth Kusian dachte sich immer wieder neue Lügengespinste für ihre verworrenen Verhältnisse und Hochstapeleien aus. Ihr Ex-Mann hielt trotzdem immer zu ihr. Der Fall, der ohne die Währungsreform und ohne die Zuständigkeitsproblematiken der geteilten Polizei wohl anders verlaufen wäre, war jedenfalls nicht nur in Berlin eine Sensation. Er fand in der östlichen und westlichen Presselandschaft, aber auch im Ausland reichlich Resonanz. Der Telegraf titelte am 15. Januar 1951: „Lügen, Morphium, Liebe, Mord ...“ Elisabeth wurde am 8. Mai 1914 kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs in dem kleinen Dorf Bornshain in Thüringen als jüngstes von sechs Geschwistern geboren. Sie durchlebte ihre Kindheit und Jugend in Armut, denn der Vater, der als Melker („Oberschweizer“) auf einem Gut sein Auskommen fand, starb 1915 im Krieg, und die Mutter musste die sechs Kinder alleine großziehen. 1936 heiratete sie einen überzeugten Nationalsozialisten, den damals als Wärter einer „Irrenanstalt“ tätigen Walter Kusian, und bekam mit ihm drei Kinder. Er war bereits 1926 in die NSDAP eingetreten und als „alter Kämpfer“ für einen Karrieresprung prädestiniert. Die Familie lebte daher inzwischen in Berlin am Gesundbrunnen. Ihr Mann, der nach der NS-Machtübernahme im Goebbels’schen Propagandaministerium arbeitete, schlug sie und die Kinder. Elisabeth war unglücklich und brachte das immer wieder mit Ohnmachtsanfällen und mehr oder weniger ernst gemeinten Selbstmordversuchen zum Ausdruck. Im Prozess hieß es: „Die Angeschuldigte ist eine psychopathische Persönlichkeit mit einer disharmonischen Charakteranlage und ausgesprochen hysterischen Zügen.“ Ein Sachverständiger, der sie für das Gericht begutachtete, schrieb: „Ein besonders wichtiger Bestandteil ihrer psychopathischen Charakteranlagen ist ihre ungewöhnliche Unaufrichtigkeit und psychopathische Lügenhaftigkeit, die (...) in den letzten Jahren geradezu einen pseudologistischen Charakter angenommen haben und von ihr auch nach Entdeckung ihrer Straftaten in geradezu sinnloser Weise beibehalten worden sind, so daß sich ihre Vernehmungen und auch die ärztlichen Untersuchungen zum Teil außerordentlich schwierig gestaltet haben.“ Nachdem ihr Mann zum Kriegsdienst eingezogen worden war, ging sie fremd und gab seine ganzen Ersparnisse innerhalb kürzester Zeit aus. Vorher hatte er sie ziemlich kurz gehalten. Sie verliebte sich 1942 in einen „Untermusikmeister der Luftwaffe“ und bat um die Scheidung, aber ihr Ehemann willigte nicht ein. Er war - wie auch später - stets bereit seiner Ehefrau das Fremdgehen zu verzeihen, „weil er sie bis auf den heutigen Tag liebt.“ - so das Gericht. Gerne stapelte die junge Frau auch in jener Zeit hoch und gab sich bei ihren Ausflügen ins Berliner Nachtleben als ungarische Gräfin, Medizinstudentin oder Malerin aus. Sie schrieb sogar Briefe an sich selbst, um ihr Lügengespinst aufrechtzuerhalten. Kusian ging viel aus und feierte in ihrer Wohnung ausufernde Feste, als ob es kein Morgen gäbe. Missgünstige und neugierige Nachbarn sprachen sogar von Orgien. Als Krankenschwester arbeitete sie dennoch bis zum Kriegsende im Robert-Koch-Krankenhaus, wie das inzwischen geschlossene ehemalige Krankenhaus Moabit in der NS-Zeit genannt wurde. In den 1920er-Jahren war es bis zur Entlassung der jüdischen Ärzte die wichtigste Klinik Berlins nach der Charité gewesen. Die neu eingesetzten, parteinahen Ärzte konnten mit ihren Vorgängern keineswegs mithalten, und die Sterblichkeitsrate im Krankenhaus soll dramatisch angestiegen sein. Nun erfolgten auch dort Zwangssterilisationen an Alkoholikern oder an „verhaltensauffälligen Frauen“. Elisabeth Kusian erlitt kurz vor Kriegsende eine Schussverletzung am Unterschenkel. Sie besorgte sich Morphium, um die Schmerzen zu lindern. Pervitin wiederum nahm sie ein, um sich aufzuputschen. Vor ihren Taten will sie sich jeweils etwas gespritzt haben, galt aber als schuldfähig. 1947 ließ sich Elisabeth Kusian dann doch scheiden, die Kinder brachte sie ins Heim. Sie selbst suchte wegen dauernden Geldmangels Kontakt mit der Unterwelt. Sie freundete sich mit einem Mitglied einer Einbrecherbande an, und als der in den Knast kam, wechselte sie die Seiten und verliebte sich in den West-Berliner Kriminalsekretär Kurt Muschan. Sie überhäufte ihren neuen Partner trotz ihrer ständigen Geldsorgen mit Geschenken. Ende 1949 wurde sie gekündigt, weil sie im Krankenhaus ständig Patienten anpumpte. Kusian wohnte in der Nähe des Bahnhofs Zoo in der Kantstraße 154a in Berlin-Charlottenburg. Dort gab es einen großen Schwarzmarkt, und man konnte nach der Währungsreform Geld tauschen. Elisabeth machte sich dies zunutze und fand ihr erstes Opfer. Mit ihrer vertrauenswürdigen Krankenschwesteruniform machte die durchaus ansehnliche Frau Eindruck auf den Schausteller Hermann Seidelmann aus Plauen, der im Herbst 1949 zur Beerdigung seiner Mutter nach Berlin gekommen war und am Bahnhof Zoo Geld zu tauschen versuchte. Er folgte Elisabeth ahnungslos in deren Wohnung, die ja ums Eck lag. Dort tauschte er Geld und trank mit ihr fröhlich plaudernd Kaffee. Vielleicht erhoffte er noch mehr von ihr, war aber sicherlich vollkommen arglos, als Elisabeth eine Wäscheleine holte, ihm diese von hinten über den Kopf warf und ihn damit erwürgte. Am nächsten Tag hatte er die Rückfahrt nach Plauen geplant. Im Urteil wurde die Tat so beschrieben: „Er setzte sich auf Stuhl oder Couch, und sie wechselten einen Betrag von etwa 100 DM-Ost gegen den entsprechenden Westbetrag. (..) Seidelmann (...) blätterte in illustrierten Zeitschriften, welche in dem Zimmer lagen. Die Angeklagte hatte inzwischen für beide Kaffee gekocht und dabei Pervitin eingenommen. Das Radio spielte laut. Etwas später holte sie eine kurze Wäscheleine, welche sie gewöhnlich in dem Schubfach ihrer Frisiertoilette aufbewahrte und welche sie bereits vorher mit einer Schlaufe versehen und in die richtige Länge zugeschnitten hatte. Sie trat von hinten an Seidelmann heran, warf ihm die Leine über den Kopf und zog von hinten fest zu. Seidelmann sprang auf, stieß den vor ihm stehenden Tisch von sich, fiel hin und riß im Fallen einen Stuhl und die Angeklagte mit zu Boden. Die Angeklagte hielt hierbei den Strick fest in der Hand, ohne locker zu lassen, der Mann war inzwischen ohnmächtig geworden und sie verknotete nunmehr die Leine fest. Er lag rücklings mit den Füßen zur Tür auf dem Fußboden. Sie setzte sich in einen Sessel und wartete in Ruhe seinen Tod ab.“ Danach durchsuchte sie seine Klamotten und nahm sein Geld an sich. Zu ihrem Motiv sagte Kusian später aus: „Plötzlich fiel mir ein, daß ich sehr viel Schulden habe und es kam so über mich, daß ich das Geld dieses Mannes gebrauchen könnte.“ Das konnte der Unterschied zwischen Mord und Totschlag sein. Ihre Aussagen waren aber mit Vorsicht zu genießen. Im Vorführbericht hieß es: „Aus sichergestellten Effekten (...) auch aus den Zeugenaussagen geht einwandfrei hervor, daß es sich bei der Besch[uldigten] um eine notorische Lügnerin handelt, die in angeberischer Weise gegenüber ihren Mitmenschen über ihre Person und Verhältnisse ein regelrechtes Lügengebäude aufgebaut hatte.“ Im Umgang mit Seidelmanns Leiche stellte sich die Krankenschwester dann gar nicht dumm an. Sie zerstückelte sie dank ihrer chirurgischen Kenntnisse und machte sich die geteilte Stadt, wie so viele andere Verbrecher, zunutze. Sie legte die Leichenteile nachts auf Brachgrundstücken und in Ruinen in beiden Teilen der Stadt ab. Zuerst verteilte sie mit ihrem Rucksack die linke Hand sowie zwei Unter- und einen Oberschenkel. Am 5. Dezember 1949 wurden in einem Ruinengrundstück in der Borsigstraße Leichenteile gefunden. Vier Tage später wurde ein männlicher Torso in Charlottenburg und eine Woche später der Kopf und die restlichen Gliedmaßen in einer Ruine in der Nähe des Stettiner Bahnhofs gefunden. Seidelmann konnte trotzdem umgehend identifiziert werden. Sein Bruder hatte ihn bereits als vermisst gemeldet. Der Täter konnte vorerst nicht ermittelt werden. Doch das Geld, dass Kusian von ihm erbeutet hatte, reichte nicht lange. Sie hatte erhebliche Schulden, die auch ihrer Morphiumsucht geschuldet waren. Weihnachten stand vor der Tür, und ihre neue große Liebe, Kriminalsekretär Kurt Muschan, wünschte sich eine Erika Reiseschreibmaschine. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1949 lud sie die Verkäuferin Doris Merten in ihre Wohnung ein, die die Schreibmaschine vorbeibrachte und die vereinbarte Anzahlung von 50 DM abholen wollte. Kusian trank mit ihr harmlos plaudernd Kaffee dann erwürgte sie ihr Opfer von hinten mit der Wäscheleine. Das Opfer versteckte sie erst einmal unter ihrer Couch, weil ihr Liebhaber zu Besuch kommen wollte. Die Leiche zerstückelte sie erst in den nächsten Tagen und verteilte die Leichenteile am Anfang des neuen Jahres in der Stadt. Spielende Kinder fanden am 4. Januar 1950 gegen Mittag Körperteile in einer Ost-Berliner Hausruine in der Memhard- Ecke Prenzlauer Straße. Laut Ermittlungsakte handelte es sich „um eine 35–45 Jahre alt scheinende Frau von ca 1,60 bis 1,65 m Größe und untersetzter Statur. Kopf und Gliedmaßen waren vom Rumpf getrennt, sie lagen auf und neben demselben.“ Die Personalien des Opfers waren auch diesmal schnell ermittelt und auch die letzte Kundin der Verkäuferin – Elisabeth Kusian, die die Tat anfangs bestritt: Angeblich hatte Merten nur 15 Minuten bei ihr verbracht und dabei ihren Regenschirm vergessen. Komisch nur, dass bei Kusian später auch Kleidungsstücke von Merten aufgefunden wurden. Der Geschäftsinhaber und Mertens Schwester wussten von der Übergabe der Schreibmaschine. So musste Kusian erst im Westsektor aussagen und dann bei der Ost-Berliner Kripo, wo sie sich in Widersprüche verwickelte. Die Mordkommissionen arbeiteten ausnahmsweise zusammen, und man fand Spuren von beiden Opfern in ihrer Wohnung. Nach viertägiger Vernehmung gestand sie am 10. Januar 1950 überraschenderweise auch den Mord an Seidelmann. Zwei Tage später versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Sie schnitt sich die Pulsadern auf, wurde aber gerettet. Ein Jahr später, im Februar 1951, wurde sie wieder nach West-Berlin überstellt und vor das Kriminalgericht Moabit gebracht wo sie nach sechs Verhandlungstagen wegen Mordes aus Habgier zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Glück, denn in Ost - Berlin galt noch die Todesstrafe und sie wäre möglicherweise unter der Guillotine gelandet. Sieben Jahre später starb die inzwischen 44-Jahre alte Frau in der Haft an Darmkrebs. Sie überlebte die letzte von vielen Operationen nicht, die sie seit nunmehr viereinhalb Jahren über sich hatte ergehen lassen müssen. Am 16. Juni 1958 verstarb sie um 11 Uhr 35 auf dem Operationstisch des Gefängniskrankenhauses. Ernst Reuß (vom Autor erschien 2022 das Buch „Endzeit und Neubeginn, Berliner Nachkriegsgeschichten“ im Metropol Verlag)
Mala Zimetbaum wird 1918 in der Kleinstadt Brzesko in der Nähe von Krakau geboren. Ihre Eltern sind Juden aus einfachen Verhältnissen. In ihrem Elternhaus wird deutsch gesprochen. Aus wirtschaftlichen Gründen und weil es immer wieder antisemitische Anfeindungen gibt, wechselt die Familie den Wohnort: von Brzesko nach Mainz, dann nach Ludwigshafen, schließlich nach Antwerpen. Mala spricht neben Polnisch und Deutsch auch Jiddisch, Flämisch und Französisch. Ihr Leben endet mit nur 26 Jahren nahe ihres Geburtsortes: in Auschwitz.
Barbara Beuys, eine Historikerin, hat sehr gründlich recherchiert und legt mit viel Einfühlungsvermögen wichtige Informationen über das Judentum, den grassierenden Antisemitismus und die Nazibesatzung in Belgien dar. Die Entrechtung geht schleichend voran, immer mit der Hoffnung verbunden, dass es besser werden wird. Wird es nicht. Letztendlich kommt es auch in Belgien zu Deportationen. Am 15. September 1942 wurde Mala Zimetbaum nach Auschwitz deportiert. Wahrscheinlich genau zwei Jahre später starb sie dort. Sie überlebte nur solange, weil sie aufgrund ihrer Sprachkenntnisse als Dolmetscherin und „Läuferin“ Funktionshäftling war, was mit gewissen Privilegien einherging. Da sie für Botengänge innerhalb des Lagers eingesetzt wurde, konnte sie sich relativ frei zwischen verschiedenen Lagerblöcken bewegen und anderen Insassen helfen. Mala organisiert heimlich zusätzliches Essen, Kleidung oder Medikamente für die gefangenen Frauen und informiert über den Fortgang des Krieges. Auch Todgeweihte sollen auf ihre Intervention hin von der Selektionsliste gestrichen worden sein. Ihre Geschichte lässt sich weitgehend nur aus den Erinnerungen von Mithäftlingen rekonstruieren. Es gibt zahlreiche Auschwitz-Überlebende, die ihr mutiges Handeln im Todeslager dokumentierten. Sie soll eine kluge, energische und politische junge Frau gewesen sein, die von einem freien Staat Israel träumte, wo sie als Sprachlehrerin in einem Kibbuz arbeiten wollte. Im Lager verliebt sich Mala Zimetbaum in einen jungen katholischen Polen, der als politischer Häftling nach Auschwitz deportiert worden war. Im Juni 1944 begibt sich das verliebte junge Paar auf die Flucht. Die Flucht gelingt, aber bereits am 6. Juli 1944 werden die beiden gefasst. Ihr Freund wird hingerichtet. Sie soll vor den Augen ihrer Mithäftlinge gehängt werden, versucht der SS aber zuvorzukommen, schneidet sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf, schlägt einem SS-Mann vor den versammelten Lagerinsassen mit der blutigen Hand ins Gesicht und wird ermordet. Möglicherweise lebendig im Krematorium verbrannt. Mala Zimetbaum symbolisiert jüdischen Widerstand in Auschwitz. Barbara Beuys erinnert an eine außergewöhnliche, fast vergessene Frau. Nicht lange nach ihrem Tod brach am 7. Oktober 1944 im Vernichtungslager Auschwitz eine Revolte aus. Mehrere Dutzend Häftlinge gingen mit Waffen und Steinen auf die SS-Offiziere los. Andere versuchten, das Krematorium in Brand zu setzen. Nach ein paar Stunden war alles vorbei: Schwer bewaffnete SS-Einheiten schlugen den Aufstand nieder, 451 Häftlinge wurden sofort hingerichtet. Es war der einzig bewaffnete Aufstand in dem Vernichtungslager. Mala soll darüber schon vorher informiert gewesen sein. Sowohl das, als auch Mala Zimetbaum sind weitgehend unbekannt. Das sollte anders werden. Ernst Reuß Barbara Beuys: Die Heldin von Auschwitz. Leben und Widerstand der Mala Zimetbaum. Insel Verlag, Berlin 2023. 333 S., 26,00 Euro
Riga war bis zum Einmarsch deutscher Truppen im Sommer 1941 das Zentrum jüdischen Lebens in Lettland. Anfangs - nach der vorhergehenden sowjetischen Besatzung - wurden dort die deutschen Soldaten als „Befreier“ empfangen. Die Stadt wurde jedoch nun zum Zielort von Deportationen und Schauplatz von unfassbaren Verbrechen. Von 1941 mindestens 500 000 im jetzigen Reichskommissariat „Ostland“ (Lettland, Litauen, Estland und Weißruthenien) ansässigen Juden lebten nach dem Krieg keine 10 000 mehr. SS, Polizei, Wehrmacht und lokale Hilfstruppen ermordeten fast alle lettischen - sowie die aus dem Deutschen Reich und dem Protektorat Böhmen und Mähren nach Riga deportierten - Jüdinnen und Juden.
Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden in den Osten deportiert. Sie wurden dort kurz nach ihrer Ankunft in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas oder im nicht weit entfernten Wald von Rumbula erschossen und in Massengräbern verscharrt. Bei den Opfern in Rumbula handelte es sich meist um lettische Juden aus dem Ghetto Riga, welches „freigemacht“ wurde, um für deportierte Juden aus Deutschland Platz zu machen. Ein Zeitzeugenbericht von der damals in Riga lebenden Valentina Freimane aus ihrem Buch „Adieu, Atlantis“: „Damals, Ende November, Wussten wir noch nichts Genaues — bis auf die Tatsache, dass niemand mehr ins Ghetto zurückgekehrt war. Am 8. Dezember fand die zweite ‘Aktion’ statt, bei der diejenigen Ghettobewohner, die den 29. und 30. November überlebt hatten, ebenfalls erschossen wurden. Übrig blieben die Arbeitskräfte im Kleinen Ghetto — die Männer, deren Familien soeben ausgelöscht worden waren. Beide Male wurden die Kolonnen vollkommen offen für jeden sichtbar durch die Straßen der Moskauer Vorstadt nach Süden getrieben. Schon bald verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, die Ghettoinsassen seien nicht in ein anderes Lager gebracht worden, sondern man habe sie vor den Toren der Stadt erschossen, wahrscheinlich im Wald von Rumbula. Es kam mir bezeichnend vor, dass die Behörden nicht einmal versuchten, solche Gerüchte zu dementieren. Alle einigten sich quasi stillschweigend darauf, über das Geschehene kein Wort zu verlieren. Mit der Zeit begannen wahrscheinlich viele selber zu glauben, dass sie von nichts wussten. Es war, als hätte es diese Tausende von Menschen nie gegeben. Unterdessen blieb das Ghetto nicht leer, sondern begann sich mit Juden zu füllen, die aus Mitteleuropa hierher ‘evakuiert’ wurden. Auch das wussten alle, die es wissen wollten. Bereits am 30. November traf der erste Zug aus Berlin ein. Da das Ghetto noch nicht vollständig geräumt war, wurden die mehr als tausend Berliner Juden als erste in Rumbula erschossen. Dann trafen nach und nach Transporte mit Juden aus Deutschland und Österreich ein.“ Eine davon war die Berliner Sportlerin und Weltrekordlerin Lilli Henoch. Die 1899 geborene Henoch war Mitglied des Berliner Sport-Clubs und in den zwanziger Jahren eine der bedeutendsten Leichtathletinnen weltweit. Sie wurde zwischen 1922 und 1926 in den Disziplinen Kugelstoßen, Diskuswurf, Weitsprung sowie mit der 4-mal-100-Meter-Staffel des Berliner Sport Clubs zehnfache Deutsche Meisterin und stellte vier Weltrekorde auf. Daneben war sie auch im Hockey und Handball ein Star und leitete später die Damenabteilung des Klubs. Noch 1929 hatte man Lilli Henoch in der Vereinszeitung lauthals gerühmt: „Wenn jemals ein Beispiel an Klubtreue und Uneigennützigkeit gebraucht wird, dann ruft ihren Namen. Und die Luft muss rein um uns werden“. Nur vier Jahre später – kurz nach der Machtergreifung der Nazis - wurde sie aus dem BSC kommentarlos ausgeschlossen. Am 5. September 1942 wurde die einstmals vielgerühmte Sportlerin mit dem 19. „Judentransport“ gemeinsam mit ihrer Mutter in den Osten deportiert. In Riga angekommen wurde Lilli Henoch zusammen mit ihrer Mutter und allen anderen Insassen des Zuges nach Biķernieki geführt und erschossen. Der geschichtsinteressierte Martin-Heinz Ehlert, ein Mitglied des BSC Berlin, entriss sie erst viele Jahrzehnte später dem Vergessen, indem er ihre Geschichte recherchierte und veröffentlichte. Inzwischen sind in Berlin ein Sportplatz und Hallen nach ihr benannt. Aus Deutschland gab es viele Deportationen nach Riga, die ähnlich endeten. Zwischen November 1941 und Januar 1944 fanden auch in Unterfranken sieben Deportationen von Juden statt. Von mehr als 2 000 Menschen, die in Würzburg und Kitzingen in die Züge getrieben wurden, sollten nur 60 den Holocaust überlebt haben. Am 27. November 1941 verließ der erste Transport mit 202 Jüdinnen und Juden aus Würzburg die Stadt. Viele von ihnen wurden am 26. März 1942 in Biķernieki ermordet. Dort existiert inzwischen seit 2001 ein Mahnmal. Stelen aus Granit in unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern nun an die vielen Opfer und benennen die Orte, aus denen die Transporte kamen. Auf einem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch: „ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ Bis 10. März 2024 zeigt die Topographie des Terrors in Berlin die Ausstellung: „Der Tod ist ständig unter uns“. Die Ausstellung und das Begleitbuch zeigen die Geschichte der Deportationen, der deutschen Besatzungspolitik und des Holocausts im Baltikum. Es geht aber auch um das Weiterleben der Überlebenden, die juristische Aufarbeitung der Verbrechen und das Erinnern an die Opfer und Täter. Opfer der ersten Deportation waren beispielsweise das Ehepaar Erna und Gustav Kleemann aus Würzburg. Gustav war 1881 als Sohn eines Pferdehändlers geboren worden und dort aufgewachsen. Im Ersten Weltkrieg war er Kriegsteilnehmer und erhielt den Bayerischen Militärverdienstorden mit Schwertern, was ihm jedoch wenig nützen sollte. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde er schikaniert, verlor seine Geschäfte und wurde schließlich deportiert. In der Ausstellung gibt es ein Foto von ihm, als Ordner während der Deportation. Seine Frau Erna wurde 1892 geboren und war das einzige Kind einer Kaufmannsfamilie. Sie führte nach dem Tod ihrer Eltern die elterlichen Firma „L. &. M. Rosenthal“ (Agenturen für Wein, Getreide und Landesprodukte) fort. Zusammen mit ihrem Mann Gustav sowie ihrem Schwager und dessen Tochter wurde sie im November 1941 nach Riga deportiert und mit ihrer Verwandtschaft am 26. März 1942 im Rigaer Wald von Biķernieki ermordet. Ein anderes Opfer war Gert Samuel Gutmann. Kurz nach seinem 10. Geburtstag wurde er in Biķernieki erschossen. Seine Mutter Therese soll erschossen worden sein, nachdem sie ihr Kind mit ihrem Körper zu schützen versucht hatte. Ehemann und Vater Ludwig, ein 1902 geborener Landwirt, überlebte. Tragischerweise soll er jedoch nach dem Zusammenbruch der Ostfront von der Roten Armee als „deutscher Spion“ behandelt und interniert worden sein. Er konnte erst 1956 mit anderen deutschen Kriegsgefangenen zurückkehren. Er war der letzte in seinem Heimatdorf geborene jüdische Einwohner und starb dort 1984 in seinem 82. Lebensjahr. Als Reichskommissar „Ostland“ war der 1896 geborene Hinrich Lohse für das was dort geschah an führender Stelle verantwortlich. Er war ein überzeugter Nazi und bereits seit 1925 Gauleiter von Schleswig-Holstein. Zwischen 1941 und 1944 pendelte er zwischen Riga und Kiel, um beide Ämter ausüben zu können. Zwar verbot Lohse per Erlass „die aktive Teilnahme von Amtsträgern der Ostverwaltung bei Exekutionen jeder Art“. Dies geschah jedoch nicht aus moralischen Gründen, sondern der bekennende Antisemit war der Ansicht: „Selbstverständlich ist die Reinigung des Ostlandes von Juden eine vordringliche Aufgabe; ihre Lösung muß aber mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang gebracht werden“. Auf „gut Deutsch“: „Vernichtung durch Arbeit“. Mit diesem Ansinnen stieß er jedoch auf taube Ohren. Lohse selbst nahm an einer Massenerschießung teil, um sich ein „Bild zu machen“. Er überlebte den Krieg, im Gegensatz zu den Opfern der Massenerschießungen. Ein Militärgericht verurteilte ihn 1948 zu zehn Jahren Gefängnis, aber man entließ ihn schon bald wegen „dauernder Haftunfähigkeit. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Lohse dann erstaunlicherweise als Minderbelastet eingestuft, ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt und Lohse erstritt sich in einer Klage gegen die Landesregierung von Schleswig-Holstein 25 Prozent seiner Pensionsansprüche. Zudem erhielt er vom Verlag der Kieler Nachrichten das Gehalt eines Redakteurs und „forschte“ ausgerechnet zur „NS-Geschichte“. Er brachte allerdings nichts zu Papier, was vielleicht besser so war. Lohse starb unbescholten und weitgehend unbemerkt im Jahre 1964. Einer der einheimischen Täter war der berüchtigte lettischer Kollaborateur Viktors Arājs, der am Holocaust während der deutschen Besetzung Lettlands und Weißrusslands mit seinem „Sonderkommando“ beteiligt war und für die Ermordung von etwa der Hälfte der lettischen Juden verantwortlich gewesen sein soll. Nach dem Krieg lebte er unter falschem Namen in Deutschland. Er wurde 1979 vom Landgericht Hamburg für schuldig befunden. Arājs war maßgeblich daran beteiligt, die im Großen Rigaer Ghetto lebenden Juden am 8. Dezember 1941 im Wald von Rumbula durch Massenerschießungzu ermorden. Arājs bekam lebenslänglich und starb 1988 mit 78 Jahren im Gefängnis. Er wurde viel älter, als die meisten seiner Opfer. Das grundlegende und ausgesprochen empfehlenswertes Werk „Die ‚Endlösung‘ in Riga“ wurde bereits 2006 von Andrej Angrick und Peter Klein verfasst. Die Autoren widmen sich akribisch der Gesamtgeschichte des Rigaer Ghettos und des verzweifelten Überlebenskampfs seiner Insassen, sowie auf Grundlage sämtlicher erreichbarer Quellen die Vernichtungspolitik der Nazis in Riga. Zum Schluss folgt man den Spuren einzelner Täter und Opfer in der Nachkriegszeit und betrachtet die strafrechtliche Aufarbeitung der Massenmorde. Ein äußerst berührendes Buch ist auch „Adieu, Atlantis“ von Valentina Freimane, erschienen 2015 im Wallstein Verlag. Während ihre gesamte Familie dem Holocaust in Riga zum Opfer fiel, überlebte Valentīna Freimane in verschiedenen Verstecken. Drei Zitate aus dem Buch: „Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern ins Ghetto gehen mussten. Natürlich stand auch ich auf der Liste, und der redliche Hausmeister Obolevics trug denn auch ins Hausbuch ein: ‚Alle drei ins Ghetto gegangen.‘ Ich erinnere mich an das letzte Gespräch mit meiner Mutter. Wir saßen in der Küche, und ich weinte hemmungslos. Mama konnte solche Gefühlsausbrüche nicht leiden, und ich hatte längst gelernt, mich zu beherrschen. Doch in diesem Augenblick vermochte ich es nicht. Mir kommt es bis heute so vor, als sei meine Mutter noch nie so schön gewesen wie an jenem Tag, als ich sie zum letzten Mal sah. Völlig ruhig saß sie auf dem Küchenstuhl wie eine Königin auf dem Thron. Sie war zweiundvierzig Jahre alt, wirkte jedoch viel jünger. Uneingeweihte hielten sie oft für meine ältere Schwester. Vater war älter als sie, Ende vierzig, ein Mann in den besten Jahren.“ (Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 237) „Ich glaube, dass alle meine Toten - die Menschen, die ich liebte und die mich geliebt haben -, wo immer sie jetzt auch sein mögen, sich freuen, dass ich noch lebte. Ich weiß nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Wenn ja, dann bin ich überzeugt: sie schauen von dort mit Wohlwollen auf mich. Ich empfinde keine Schuld, sondern Verantwortung ihnen gegenüber. Ich bemühe mich, mein Leben anständig zu leben, weil ich es auch an ihrer statt lebe. Schuldig würde ich mich nur dann fühlen, wenn ich mein Leben vergeudet hätte.“ (Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 288 f.) „Schon von klein auf hatte ich französische Romane und verschiedene psychologische Abhandlungen gelesen und fühlte mich bestens für alles gewappnet, was mit Liebe und zwischengeschlechtlichen Beziehungen zu tun hatte. Sobald mir die nie gekannte, berauschende Macht über die jungen Männer in meiner Nähe verliehen war, machte ich sogleich Gebrauch von ihr, um bestimmte Aspekte des theoretischen Wissens in der Praxis auszuprobieren. Dies geschah mit der Gründlichkeit einer Forscherin, ganz so als würde ich eine spannende Untersuchung im Labor betreiben. Ich war wirklich überrascht, wie leicht die Manipulationen mit den Versuchskaninchen gelangen und wie vorhersehbar sie reagierten, wenn ich die aus Romanen und Theaterstücken abgeschauten weiblichen Taktiken anwandte. Es war eine Zeit, in der ich das männliche Geschlecht zu verachten begann (später wurde ich verständnisvoller).“ (Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 138) Ernst Reuß Literatur: Deutsch-lettischer Begleitkatalog zur Ausstellung, „Der Tod ist ständig unter uns / Nave mit musu vidu“, Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland / Deportacijas uz Rigu un holokausts vacu okupetaja Latvija, Herausgeber Oliver von Wrochem im Auftrag der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, Metropol Verlag, Hamburg 2022, 216 Seiten, 15 €. Andrej Angrick, Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga, Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, 520 Seiten, 89,90 €. Valentina Freimane, Adieu, Atlantis, Erinnerungen, Aus dem Lettischen von Matthias Knoll, Göttingen 2015, 341 Seiten, 22,90 €.
Krimis gehen immer. Historische Krimis erst recht. Drei Krimis sind kürzlich erschienen. Zwei davon mit historischem Hintergrund.
Einer von beiden handelt vom Fall des Kriminalassistenten der Mordkommission Karl Raben und ist der zweite Teil einer historischen Krimireihe aus Berlin. Seit dem riesigen Erfolg von „Babylon Berlin“ boomen derartige Krimis und orientieren sich an ihrem Vorbild. So auch hier in „Tag des Triumphs“. Es geht um die Zeit nach der Machtübernahme durch die Nazis, bevor der Krieg begann. Während Andersdenkende unterdrückt und ermordet werden, möchte Karl Raben auch Verbrechen von Nazis aufklären. Unter den historischen Figuren, die im Krimi eine Rolle spielen sind unter anderem Kriminalrat Gennat, Reichskriminaldirektor Nebe, Gregor und Otto Strasser, Hans und Thea Kippenberger, Goebbels und Heydrich, an den Raben nach der Machtübernahme seine Seele verkaufen muss und Mitglied der SS wird. Er versucht aber trotzdem weiterhin Widerstand zu leisten. Sehr großen Gefallen hat der Autor Christian v. Ditfurth offensichtlich an witzige Dialoge der Protagonisten, was mitunter sehr konstruiert und deplatziert wirkt. Eine Vielzahl von Nebendarstellern aus den Reihen der Polizei, aus Nazigrößen und führenden Kommunisten, suggerieren dennoch ein historische Bild. Ein Krimi, auch für an unsere jüngere Geschichte interessierte Menschen. Näheres zu den Hintergründen der Figuren - soweit einem die Namen nichts sagen - kann man googeln. Der Plot diesmal allerdings zu langatmig und verworren. Ein anderer Thriller spielt vor dem Hintergrund der Olympischen Spiele 1936 in Berlin und heißt „Aktion Phoenix“. Zu den Olympischen Spielen versucht sich Nazideutschland weltoffen zu zeigen, denn die Welt ist zu Gast in Berlin. Um sich bei Gästen und Reportern aus aller Welt im besten Licht zu präsentieren, muss sich Hermann Schmidt vom Propagandaministerium mit SA Schlägern, die bis nach den Spielen in Zaum gehalten werden sollen und einer Widerstandsgruppe auseinandersetzen, die regimefeindliche Plakate aufhängt. Sein Leben gerät aus der Bahn, als er sich in die Kunststudentin Anna verliebt, die zu der Widerstandsgruppe gehört. Anna verdient sich ihr Studium mit einer Stelle als Hilfsassistentin bei der als Arbeitgeberin eher schwierigen Leni Riefenstahl, die den Auftrag hat, die Olympischen Spiele zu verfilmen. Auch der Zeppelin-Steward Georg gerät zwischen die Fronten und deckt ein schreckliches Geheimnis auf: Hinter der Fahrt der Hindenburg zur Eröffnungsfeier der Spiele steckt weit mehr als reine Propaganda. Ein heimtückischer Plan soll die Welt erschüttern. Der Zeppelin soll zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele auf das Stadion abstürzen, um es der „jüdischen Weltverschwörung“ in die Schuhe zu schieben. Christian Herzog verbindet Historisches mit Fiktion. Die verschiedenen Erzählstränge fügen sich bald zu einem Gesamtbild zusammen. Durchaus spannend. Der dritte Krimi spielt in der Jetztzeit. Die Polizeischülerin Johanna Böhm muss sich erneut mit den Schatten ihrer Familienvergangenheit abplagen. Diesmal geht es nicht ganz so politisch zu wie im ersten Band. In Sachen Spannung wird aber erneut jede Menge geboten. Zusammen mit Rasmus Falk, dem Ex-Geheimdienstler und anderen Freunden ist sie wieder einer großen Sache auf der Spur. Diesmal geht es um Zwangsprostitution. Man muss den ersten Band nicht kennen um die Geschichte nachvollziehen zu können. Eigentlich will Johanna Böhm ihren Urlaub nutzen, um ihren untergetauchten leiblichen Vater zu suchen. Doch ein Anruf ihrer besten Freundin wirft diese Pläne über den Haufen. Die glaubt ihre 15-jährige Cousine in Hamburg gesehen zu haben, obwohl diese eigentlich in ihrer nigerianischen Heimat sein sollte und nach Auskunft ihrer Familie auch dort ist. Ist sie in Wirklichkeit skrupellosen Menschenhändlern in die Hände gefallen? Es scheint so. Johanna findet im Rahmen der Ermittlungen ihren Vater und der Showdown bahnt sich unheilvoll an. Er kulminiert in einer sehr überraschenden Wendung. Zweiter Teil einer neuen Thriller - Reihe. Rasant erzählt von Leon Sachs. Ernst Reuß Christian v. Ditfurth, Tag des Triumphs. Der zweite Fall für Karl Raben: Kriminalroman. C. Bertelsmann Verlag, München 2022, 512 Seiten, 25 € Christian Herzog, Aktion Phoenix, Wunderlich Verlag, Hamburg 2023, 512 Seiten, 25 € Leon Sachs, Die Villa, Penguin Verlag, München 2022, 464 Seiten, 16 €
„All But My Life“ gilt in den USA als ein Klassiker der Holocaust-Literatur. In ihrem 1957 erschienenen Buch beschreibt Gerda Weissmann Klein die sechs schlimmsten Jahre ihres Lebens. Eine deutsche Übersetzung erschien erstmals 1999. In Deutschland sind das Buch und seine Autorin weitgehend unbekannt. Nun erschien das Buch im Metropol Verlag aus Berlin mit dem Titel: „Nichts als das nackte Leben“
Gerda Weissmann wurde am 8. Mai 1924 im schlesischen Bielitz (heute: Bielsko) geboren, etwa hundert Kilometer von Krakau und dreißig Kilometer von Auschwitz entfernt. Nach dem 1. Weltkrieg gehörte der Ort zum wiedergegründeten Polen. Bielitz war die wichtigste Stadt der schlesischen Wollindustrie. Die Bevölkerung war mehrheitlich seit Jahrhunderten deutschsprachig, das galt auch für die meisten Juden wie Gerda, die ungefähr 20% der Bevölkerung ausmachten. Gerdas Eltern hießen Julius und Helene, der fünf Jahre ältere, von Gerda sehr geliebte Bruder hieß Arthur. Der Vater war Mitbesitzer einer Pelzfabrik. Der Familie ging es gut. Gerda war fünfzehn als ihre unbeschwerte Jugend ein jähes Ende findet. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht verschleppen die Deutschen Gerdas Bruder und drei Jahre später ihren kranken Vater, dann die Mutter. Gerda wird keinen von ihnen je wiedersehen. Für Gerda beginnt eine Odyssee durch mehrere Arbeitslager, die mit einem Todesmarsch endet, bei dem auch ihre Freundinnen sterben. Sie überlebt die Torturen des monatelangen grausamen Todesmarsches als eine von wenigen und beobachtet dabei die Bombardierung Dresdens verständlicherweise mit Genugtuung. Am 4. Mai 1945 erreichte der Todesmarsch nach fast 500 Kilometern durch Sachsen und Bayern das heute tschechische Volary. Die Häftlinge wurden in eine leere Fabrikhalle getrieben. Die SS flüchtete, versuchte zuvor aber noch das Gebäude zu sprengen. Ein Teil der jüdischen Frauen wurde noch weiter getrieben, wo deren Todesmarsch am 6. Mai nach der Flucht der Bewacher ebenfalls endete. Ihren späteren Mann Kurt Klein, einem 1937 aus Baden in die USA emigrierten Juden, der inzwischen Soldat in der US Armee war, lernt sie gleich nach ihrer Rettung kennen und lieben. Er, dessen Eltern auch in Auschwitz starben, kann sie verstehen und bringt die kranke und nur noch 31 Kilo schwere, inzwischen weißhaarig gewordene, Gerda in ein Lazarett und später nach ihrer Genesung in seine neue Heimat Amerika. 1994 entstand auf der Grundlage dieses Buchs der Dokumentarfilm „One Survivor remembers“, der 1995 den Oscar als Bester Dokumentar-Kurzfilm gewann. Es sind immer wieder diese erschütternden Zeitzeugenberichte, die zeigen was Menschen anderen Menschen im Rahmen einer absurden Ideologie antun können. Genau deswegen sind solche Bücher so außerordentlich wichtig und lesenswert. Gerda schreibt: „Warum? Warum liefen wir wie sanfte Lämmer zur Schlachtbank? Wieso wehrten wir uns nicht? Was hatten wir zu verlieren? Nichts, außer unser Leben. Wieso rannten wir nicht davon und versteckten uns? Wir hätten vielleicht eine Überlebenschance gehabt. Warum gingen wir ihnen freiwillig und gehorsam in die Fänge? Ich weiß wieso: Weil wir auf die Menschlichkeit vertrauten; weil wir nicht glauben wollten, dass menschliche Wesen solcher Verbrechen fähig wären.“ Ein Gedanke, den sie nicht nur einmal hatte. Gerda Weissmanns Erinnerungen geben trotzdem ein wenig Hoffnung. Neben dem ganzen unmenschlichem Leid, das sie erleben muss, findet sie immer wieder eine Spur von Menschlichkeit und neben einer unerfüllten einseitigen Liebe auch Freundschaften und kurz nach ihrer Befreiung den Mann fürs Leben. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit ihrer Rückkehr ins Leben. Ein fast schon hollywoodreifes „Happy End“. Sie spricht vor der UN und wird von Präsident Barack Obama geehrt. 1994 und 2019 schreibt sie selbst Epilog und Nachwort zum Buch. Unbedingt lesenswert! Gerda Weissmann starb im April 2022 mit 97 Jahren in Phoenix (Arizona), wo sie seit 1985 gelebt hatte. Ernst Reuß Gerda Weissmann Klein, Nichts als das nackte Leben. Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur, Schriftenreihe der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und der Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung zu Lich, Band 14, Metropol Verlag, Berlin 2023, 320 Seiten, 24 €.
Die russische Investigativ-Journalistin Jelena Kostjutschenko schrieb seit ihrem 17. Lebensjahr für die regierungskritische und unabhängige Zeitung „Nowaja Gaseta“, die seit 2022 in Russland nicht mehr erscheinen darf und lebt nun in Berlin.Würde sie nach Russland zurückreisen, würde sie höchstwahrscheinlich - so wie andere kritische Journalisten - verhaftet werden.
Für ihre Arbeit und für ihre Homosexualität wurde sie in Russland beleidigt und verprügelt, später versuchte man sie offenbar sogar zu vergiften. Ihr Buch „Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben“ kombiniert Reportagen, die Jelena Kostjutschenko für die Nowaja Gazeta geschrieben hat, mit autobiographischen Geschichten. Es sind bewegende Berichte, die zeigen wie es wirklich ist im heutigen Russland unter Putin zu leben. Die 1987 geborene Jelena schreibt über die politische Repression und die Korruption in ihrem Heimatland. Sie berichtete über Menschen, die von der russischen Regierung zunehmend brutal an den Rand gedrängt werden. Es ist ein bezeichnendes Bild ihres Heimatlandes, das sich zu einem autoritären, homophoben Staat entwickelte. Kostjutschenko berichtet über obdachlose Kinder, besucht zwölf Jahre nach der Geiselnahme die Stadt Beslan, begleitet eine 24-Stunden-Schicht in einem Moskauer Polizeirevier und verschafft sich Zutritt zu einem von der Öffentlichkeit abgeschirmten geschlossenen Heim für psychisch Kranke. Sie berichtet von der Annexion der Krim, dem Krieg im Donbass und aus dem belagerten ukrainischen Mykolajiw. Kostjutschenko schreibt in ihrem Buch aber auch über Kindheitserinnerungen und Gespräche mit ihrer Mutter. Putins Propaganda erschüttert das Verhältnis der beiden. Ihre Mutter glaubt fest daran was sie im russischen Fernsehen sieht. Das was ihre Tochter sagt und schreibt glaubt sie nicht, nennt sie gar Verräterin. Trotzdem haben sie weiterhin ein liebevolles Verhältnis und ihre Mutter besuchte sie in Berlin. Jelena Kostjutschenko schreibt auch über ihre Bewunderung für die ermordete Kollegin Anna Politkowskaja. Sie ist nicht die einzige ermordete Journalistin der inzwischen verbotenen Nowaja Gazeta. In einem besonders erschütternden Kapitel beschreibt sie die toten Kollegen und Kolleginnen. Die Artikel und persönlichen Geschichten habe sie deswegen ausgewählt, weil sie verstehen wollte wie Russland faschistisch werden konnte. Sie schreibt: „Meine Freundin sitzt mit dem Smartphone aufrecht im Bett. Ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. ‚Warum schläfst du nicht?‘ ‚Kyjiw wird bombardiert.‘ ‚Was?‘ ‚Kyjiw und andere ukrainische Großstädte werden bombardiert.“ ‚Von uns?‘ ‚Ja.‘ Ich schlafe noch zwei Stunden und fahre in die Redaktion. Sie fragen mich. Bist du bereit? Natürlich bin ich bereit. In Wirklichkeit kann man nicht darauf vorbereitet sein, das wir die Faschisten sind. Ich war kein bisschen darauf vorbereitet.“ Ernst Reuß Jelena Kostjutschenko: Das Land, das ich liebe, Penguin Verlag, München 2023, Übersetzt von Maria Rajer, 416 Seiten, 26 Euro.
Vilnius, auf deutsch Wilna, ist die Hauptstadt Litauens und mit heute 570.000 Einwohnern die größte Stadt des Landes. Vilnius, wurde früher als das Jerusalem des Nordens bezeichnet und war ein Zentrum der jüdischen Kultur und Aufklärung. Während früher mal fast die Hälfte der Bewohner jüdischen Glaubens waren, leben heute nur noch wenige Juden dort.
Als unsere Vorfahren 1941 Litauen besetzten hatte Vilnius ungefähr 200.000 Einwohner. Mit dem Einmarsch der deutschen Mörder begann das Ende der jüdischen Geschichte in Vilnius. Deutsche und ihre vielen antisemitischen litauischen Helfershelfer meuchelten fast alle jüdischen Bewohner und somit nach verschiedenen Schätzungen fast die Hälfte der Bevölkerung, mindestens aber 70.000. Die deutsche Besatzung Litauens dauerte von 23. Juni 1941 bis 13. Juli 1944. Ab August 1941 begannen die Erschießungen. An den Massakern beteiligt waren Einheiten der Wehrmacht, SS, Einsatzkommandos und litauische Milizen. Die Kollaboration war hoch. Vilnius wurde Teil des Reichskommissariats Ostland. Nach der vorhergehenden Besetzung durch die Sowjetunion, wurden sie häufig als „Befreier“ angesehen. Viele Litauer solidarisierten sich mit den neuen Besatzern und töteten in ersten Pogromen zahlreiche Juden. Deutsche Militärangehörige griffen nicht ein. Danach wurde in der Altstadt von Vilnius - rechts und links von der „Deutschen Straße“ - ein Ghetto in zwei Teilen eingerichtet, wobei eines bis Oktober 1941 durch die Erschießungen im Wald von Ponary - etwa 10 km westlich der Stadt - aufgelöst worden war. Das zweite Ghetto bestand bis 1943, schrumpfte aber zunehmend nach zahlreichen sogenannten „Aktionen“. Dort pferchte man etwa 40.000 Menschen auf einem Gebiet zusammen, das ursprünglich für 4.000 vorgesehen war. Tausende Juden - Männer, Frauen, Kinder - wurden zusammengetrieben, nach Ponary gebracht und dort erschossen. So auch Yitskhok Rudashevski, der 15-jährige Verfasser eines Tagebuches das nun erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. Die Aufzeichnungen stammen aus dem Ghetto und geben Zeugnis davon ab, was dort geschah. Yitskhok war offenbar ein aufgeweckter Junge und „Pionier“ einer illegalen kommunistischen Jugendgruppe. Er verfolgt atemlos die Offensive der Sowjets und will Widerstand leisten. Am 7. Februar 1943 schrieb er: „Wir haben gute Nachrichten. Die Leute im Ghetto feiern. Die Deutschen gestehen ein, dass Stalingrad gefallen ist. Ich laufe über die Straße ... Die Leute winken einander mit glücklichen Augen zu.“ Es sollte ihm und seinen Mitbewohnern im Ghetto nichts mehr nützen. Im September 1943 liquidierten die Nazis das Ghetto von Wilna. Yitskhok Rudashevski und seine Familie gehören zu den wenigen, die sich in den Trümmern der Häuser verstecken konnten. Anfang Oktober 1943 wurde ihr Versteck entdeckt. Er und seine Familie wurden vermutlich danach ebenfalls im Wald von Ponary erschossen. Nur seine Cousine Sore Voloshin überlebte. Sie fand das Tagebuch bei ihrer Rückkehr nach Wilna auf dem Dachboden des Hauses, in dem sich Yitskhok Rudashevskis Familie zuletzt versteckt gehalten hatte. Seine Aufzeichnungen wurden bereit 1953 publiziert aber erst jetzt auf deutsch übersetzt und mit vielen Fotos illustriert. Von den zahlreichen Juden, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Vilnius wohnten, überlebten nur wenige den Holocaust. Von den mehr als 100 Synagogen existiert heute nur noch eine einzige. An das jüdische Ghetto erinnern in der schick restaurierten Altstadt neben vielen Restaurants nur ein paar Schautafeln. In Ponary gibt es ein Mahnmal. Franz Murer, ein österreichischer Nazi, galt als „Schlächter von Wilna“. Auch von seinen Schandtaten ist im Tagebuch des 15-jährigen Yitskhok Rudashevski zu lesen. Er hatte das Gebiet für das Ghetto ausgesucht und die Massaker von Ponary koordiniert. Im Dezember 1943 wurden unter seinem Befehl die Massengräber geöffnet und die Leichen verbrannt, um die Spuren zu vernichten. 1948 wurde er von den Briten den Sowjets übergeben, doch schon 1955 kam er nach Abschluss des Österreichischen Staatsvertrags wieder frei. Seine Heimkehr aus Sibirien wurde in seinem Heimatdorf mit einem zünftigen Fest gefeiert. Eine spätere Anklage endete mit Freispruch. Franz Murer starb 1994 friedlich und angesehen im 82. Lebensjahr. Zuletzt war er Bezirksbauernvertreter der ÖVP. Ein Sohn Murers ist bekannter FPÖ-Politiker. Ernst Reuß Yitskhok Rudashevski, „Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna. Juni 1941 – April 1943“. Herausgegeben und übersetzt von Wolf Kaiser. Metropol Verlag, Berlin 2020, 150 Seiten, 16 Euro |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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