Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden in den Osten deportiert und unmittelbar nach Ankunft in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas erschossen und in 55 Massengräbern verscharrt.
Eine davon war die Berliner Sportlerin und Weltrekordlerin Lilli Henoch aus Berlin. Die 1899 geborene Lilli Henoch war Mitglied des Berliner Sport-Clubs und in den zwanziger Jahren eine der bedeutendsten Leichtathletinnen weltweit. Sie wurde zwischen 1922 und 1926 in den Disziplinen Kugelstoßen, Diskuswurf, Weitsprung sowie mit der 4-mal-100-Meter-Staffel des Berliner Sport Clubs zehnfache Deutsche Meisterin und stellte vier Weltrekorde auf. Daneben war sie auch im Hockey und Handball ein Star und leitete später die Damenabteilung des Klubs. Noch 1929 hatte man Lilli Henoch in der Vereinszeitung lauthals gerühmt: „Wenn jemals ein Beispiel an Klubtreue und Uneigennützigkeit gebraucht wird, dann ruft ihren Namen. Und die Luft muss rein um uns werden“. Nur vier Jahre später – kurz nach der Machtergreifung der Nazis - wurde sie aus dem BSC kommentarlos ausgeschlossen. Am 5. September 1942 wurde die einstmals vielgerühmte Sportlerin mit dem 19. „Judentransport“ gemeinsam mit ihrer Mutter in den Osten deportiert. In Riga angekommen wurde Lilli Henoch zusammen mit ihrer Mutter und allen anderen Insassen des Zuges nach Biķernieki geführt und erschossen. Der geschichtsinteressierte Martin-Heinz Ehlert, ein Mitglied des BSC Berlin, entriss sie erst viele Jahrzehnte später dem Vergessen, indem er ihre Geschichte recherchierte und veröffentlichte. Inzwischen sind in Berlin ein Sportplatz und Hallen nach ihr benannt. In Biķernieki existiert seit 2001 ein Mahnmal. Stelen aus Granit in unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern nun an die vielen Opfer und benennen die Orte aus denen die Transporte kamen. Auf einem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch: „ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ Als Reichskommissar „Ostland“, also Lettland, Litauen, Estland und Weißruthenien, war der 1896 geborene Hinrich Lohse für das was dort geschah an führender Stelle verantwortlich. Er war ein überzeugter Nazi und bereits seit 1925 Gauleiter von Schleswig-Holstein. Zwischen 1941 und 1944 pendelte er zwischen Riga und Kiel, um beide Ämter ausüben zu können. Von mindestens 500 000 im Reichskommissariat 1941 ansässigen Juden, lebten nach seiner Amtszeit keine 10 000 mehr. Zwar verbot Lohse per Erlass „die aktive Teilnahme von Amtsträgern der Ostverwaltung bei Exekutionen jeder Art“. Dies geschah jedoch nicht aus moralischen Gründen, sondern der bekennende Antisemit war der Ansicht: „Selbstverständlich ist die Reinigung des Ostlandes von Juden eine vordringliche Aufgabe; ihre Lösung muß aber mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang gebracht werden“. Mit dieser Ansicht stieß er jedoch auf taube Ohren. Nicht nur in Biķernieki kam es zu Massenerschießungen, auch im nicht weit entfernten Wald von Rumbula geschah dies. Bei den Opfern dort handelte sich meist um lettische Juden aus dem Ghetto Riga, aber auch um deutsche Juden, die am 27. November 1941 von Berlin aus deportiert worden waren. Lohse selbst nahm an einer Massenerschießung teil, um sich ein „Bild zu machen“. Er überlebte den Krieg, im Gegensatz zu den Opfern der Massenerschießungen. Ein Militärgericht verurteilte ihn 1948 zu zehn Jahren Gefängnis, aber man entließ ihn schon bald wegen „dauernder Haftunfähigkeit. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Lohse dann erstaunlicherweise als Minderbelastet eingestuft, ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt und Lohse erstritt sich in einer Klage gegen die Landesregierung von Schleswig-Holstein 25 Prozent seiner Pensionsansprüche. Zudem erhielt er vom Verlag der Kieler Nachrichten das Gehalt eines Redakteurs und „forschte“ ausgerechnet zur „NS-Geschichte“. Er brachte allerdings nichts zu Papier, was vielleicht besser so war. Lohse starb unbescholten und weitgehend unbemerkt im Jahre 1964. Ernst Reuß Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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