Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden in den Osten deportiert. Sie wurden dort kurz nach ihrer Ankunft in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas oder im nicht weit entfernten Wald von Rumbula erschossen und in Massengräbern verscharrt.
Bei den Opfern in Rumbula handelte sich meist um lettische Juden aus dem Ghetto Riga, welches „freigemacht“ wurde, um für deportierte Juden aus Deutschland Platz zu gewinnen. Eine Überlebende der dortigen Massaker an fast 30 000 Juden am 30. November und am 8. Dezember 1941 war Frida Michelson. Sie war eine Schneiderin und kam ins Ghetto, wie alle anderen Juden auch. Erst 60 Jahre nachdem sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben hatte, erscheint nun endlich das Buch „Ich überlebte Rumbula“ auf Deutsch. Die Erinnerungen von Frida Michelson sind sehr ergreifend, da es immer wieder unfassbar ist, was die Menschen durchmachen mussten und was Menschen anderen Menschen antun können. Der Bericht, den sie bereits in den 1960er Jahren auf jiddisch verfasst hatte, handelt vom Einmarsch der deutschen Truppen in Lettland, der Ausgrenzung, Verfolgung, Ghettoisierung und anschließend der Vernichtung im Wald von Rumbula durch Deutsche und ihre lettischen Helfer, der sie am 8. Dezember 1941 nur mit viel Glück entkam. Sie stellte sich tot und versteckte sich in einem Berg aus Schuhen, den die Opfer vor ihrer Ermordung ausziehen mussten. Es ist ein einzigartiges Dokument, welches lange Zeit in Deutschland nicht wahrgenommen worden war und nun endlich von der Europäischen Verlagsanstalt veröffentlicht wurde. Michelson gelang es drei Jahre lang mit Hilfe einzelner Menschen der lokalen Bevölkerung zu überleben. Ihr wurde meist von Adventisten geholfen, die das als ihre christliche Pflicht ansahen. Schließlich erlebt sie in einem Dorf in der Nähe von Riga unter ständiger Todesangst den überstürzten Rückzug der Deutschen. Sie heiratet nach dem Krieg einen anderen überlebenden Juden, war aber als Überlebende und aufgrund ihres Glauben in der Stalinära ständigen Verdächtigungen ausgesetzt. Ihr Mann wurde nach Sibirien deportiert und erst nach Stalins Tod rehabilitiert. Er kam krank zurück und starb 1966. 1971 konnte Frida Michelson mit ihren beiden Söhnen nach Israel auswandern. Dort erschien ihr Bericht 1973 erstmals in Buchform in russischer Sprache. 1979 auf Englisch und 2005 erstmals auf Lettisch. Frida Michelson starb 1982 in Israel. Ihren Erinnerungen ist eine Chronologie der Geschehnisse angefügt. Sehr lesenswert! Von 1941 mindestens 500 000 im Reichskommissariat „Ostland“ (Lettland, Litauen, Estland und Weißruthenien) ansässigen Juden lebten nach dem Krieg keine 10 000 mehr. Als Reichskommissar war der 1896 geborene Hinrich Lohse für das was dort geschah an führender Stelle verantwortlich. Lohse selbst nahm an einer Massenerschießung teil, um sich ein „Bild zu machen“. Er war ein überzeugter Nazi und bereits seit 1925 Gauleiter von Schleswig-Holstein. Er überlebte den Krieg, im Gegensatz zu den Opfern der Massenerschießungen. Ein Militärgericht verurteilte ihn 1948 zu zehn Jahren Gefängnis, aber man entließ ihn schon bald wegen „dauernder Haftunfähigkeit. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Lohse dann erstaunlicherweise als Minderbelastet eingestuft, ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt und Lohse erstritt sich in einer Klage gegen die Landesregierung von Schleswig-Holstein 25 Prozent seiner Pensionsansprüche. Zudem erhielt er vom Verlag der Kieler Nachrichten das Gehalt eines Redakteurs und „forschte“ ausgerechnet zur „NS-Geschichte“. Lohse starb unbescholten und weitgehend unbemerkt im Jahre 1964. Viktors Arājs, ein berüchtigter lettischer Kollaborateur, der am Holocaust während der deutschen Besetzung Lettlands und Weißrusslands mit seinem „Sonderkommando“ beteiligt war und für die Ermordung von etwa der Hälfte der lettischen Juden verantwortlich gewesen sein soll, wurde 1979 vom Landgericht Hamburg für schuldig befunden. Er war maßgeblich daran beteiligt, die im Großen Rigaer Ghetto lebenden Juden am 8. Dezember 1941 im Wald von Rumbula durch Massenerschießung zu ermorden. Arājs bekam lebenslänglich und starb 1988 mit 78 Jahren im Gefängnis. Auch er wurde viel älter, als die meisten seiner Opfer. Ernst Reuß Frida Michelson, Ich überlebte Rumbula, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2020, 222 Seiten 22 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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