Vilnius, auf deutsch Wilna, ist die Hauptstadt Litauens und mit heute 570.000 Einwohnern die größte Stadt des Landes. Vilnius, wurde früher als das Jerusalem des Nordens bezeichnet und war ein Zentrum der jüdischen Kultur und Aufklärung. Während früher mal fast die Hälfte der Bewohner jüdischen Glaubens waren, leben heute nur noch wenige Juden dort.
Als unsere Vorfahren 1941 Litauen besetzten hatte Vilnius ungefähr 200.000 Einwohner. Mit dem Einmarsch der deutschen Mörder begann das Ende der jüdischen Geschichte in Vilnius. Deutsche und ihre vielen antisemitischen litauischen Helfershelfer meuchelten fast alle jüdischen Bewohner und somit nach verschiedenen Schätzungen fast die Hälfte der Bevölkerung, mindestens aber 70.000. Die deutsche Besatzung Litauens dauerte von 23. Juni 1941 bis 13. Juli 1944. Ab August 1941 begannen die Erschießungen. An den Massakern beteiligt waren Einheiten der Wehrmacht, SS, Einsatzkommandos und litauische Milizen. Die Kollaboration war hoch. Vilnius wurde Teil des Reichskommissariats Ostland. Nach der vorhergehenden Besetzung durch die Sowjetunion, wurden sie häufig als „Befreier“ angesehen. Viele Litauer solidarisierten sich mit den neuen Besatzern und töteten in ersten Pogromen zahlreiche Juden. Deutsche Militärangehörige griffen nicht ein. Danach wurde in der Altstadt von Vilnius - rechts und links von der „Deutschen Straße“ - ein Ghetto in zwei Teilen eingerichtet, wobei eines bis Oktober 1941 durch die Erschießungen im Wald von Ponary - etwa 10 km westlich der Stadt - aufgelöst worden war. Das zweite Ghetto bestand bis 1943, schrumpfte aber zunehmend nach zahlreichen sogenannten „Aktionen“. Dort pferchte man etwa 40.000 Menschen auf einem Gebiet zusammen, das ursprünglich für 4.000 vorgesehen war. Tausende Juden - Männer, Frauen, Kinder - wurden zusammengetrieben, nach Ponary gebracht und dort erschossen. So auch Yitskhok Rudashevski, der 15-jährige Verfasser eines Tagebuches das nun erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. Die Aufzeichnungen stammen aus dem Ghetto und geben Zeugnis davon ab, was dort geschah. Yitskhok war offenbar ein aufgeweckter Junge und „Pionier“ einer illegalen kommunistischen Jugendgruppe. Er verfolgt atemlos die Offensive der Sowjets und will Widerstand leisten. Am 7. Februar 1943 schrieb er: „Wir haben gute Nachrichten. Die Leute im Ghetto feiern. Die Deutschen gestehen ein, dass Stalingrad gefallen ist. Ich laufe über die Straße ... Die Leute winken einander mit glücklichen Augen zu.“ Es sollte ihm und seinen Mitbewohnern im Ghetto nichts mehr nützen. Im September 1943 liquidierten die Nazis das Ghetto von Wilna. Yitskhok Rudashevski und seine Familie gehören zu den wenigen, die sich in den Trümmern der Häuser verstecken konnten. Anfang Oktober 1943 wurde ihr Versteck entdeckt. Er und seine Familie wurden vermutlich danach ebenfalls im Wald von Ponary erschossen. Nur seine Cousine Sore Voloshin überlebte. Sie fand das Tagebuch bei ihrer Rückkehr nach Wilna auf dem Dachboden des Hauses, in dem sich Yitskhok Rudashevskis Familie zuletzt versteckt gehalten hatte. Seine Aufzeichnungen wurden bereit 1953 publiziert aber erst jetzt auf deutsch übersetzt und mit vielen Fotos illustriert. Von den zahlreichen Juden, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Vilnius wohnten, überlebten nur wenige den Holocaust. Von den mehr als 100 Synagogen existiert heute nur noch eine einzige. An das jüdische Ghetto erinnern in der schick restaurierten Altstadt neben vielen Restaurants nur ein paar Schautafeln. In Ponary gibt es ein Mahnmal. Franz Murer, ein österreichischer Nazi, galt als „Schlächter von Wilna“. Auch von seinen Schandtaten ist im Tagebuch des 15-jährigen Yitskhok Rudashevski zu lesen. Er hatte das Gebiet für das Ghetto ausgesucht und die Massaker von Ponary koordiniert. Im Dezember 1943 wurden unter seinem Befehl die Massengräber geöffnet und die Leichen verbrannt, um die Spuren zu vernichten. 1948 wurde er von den Briten den Sowjets übergeben, doch schon 1955 kam er nach Abschluss des Österreichischen Staatsvertrags wieder frei. Seine Heimkehr aus Sibirien wurde in seinem Heimatdorf mit einem zünftigen Fest gefeiert. Eine spätere Anklage endete mit Freispruch. Franz Murer starb 1994 friedlich und angesehen im 82. Lebensjahr. Zuletzt war er Bezirksbauernvertreter der ÖVP. Ein Sohn Murers ist bekannter FPÖ-Politiker. Ernst Reuß Yitskhok Rudashevski, „Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna. Juni 1941 – April 1943“. Herausgegeben und übersetzt von Wolf Kaiser. Metropol Verlag, Berlin 2020, 150 Seiten, 16 Euro Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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