Zwischen März und November 1945 reiste der britische Autor George Orwell als Kriegsberichterstatter durch Deutschland und Österreich. Er schrieb für englische Zeitungen. Seine Reportagen schilderten frei von Triumph- oder Rachegefühlen, welche Zerstörung der Krieg über Städte, Länder und Menschen gebracht hatte. Teilweise zeigte er sogar Verständnis für die gebeutelte Bevölkerung und die gedemütigten Soldaten. Es ist zu vermuten, dass Orwells Urteil über die Deutschen härter ausgefallen wäre, hätte er auch eines der befreiten Konzentrationslager besucht. 1936 hatte er noch als Freiwilliger vergeblich auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft. Neun Jahre später hatte die Zerstörung unvorstellbare Dimensionen erreicht.
Orwell empfand die mangelnde Lebensmittelversorgung und die Zerstörung als bedrückend und war skeptisch, wie das gewaltige Trümmerfeld von der Normandie bis nach Stalingrad wiederaufgebaut werden könne. Er sah eine humanitären Katastrophe auf Europa zukommen. Millionen Displaced Persons irrten durch die Länder, hinzu kamen Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten. Unklar war auch, wie mit Deutschland und den Millionen deutschen Kriegsgefangenen zu verfahren sei. Die Texte aus jener Zeit sind nun unter dem Titel „Reise durch Ruinen“ erschienen. Seine Reportagen sind einige Jahre vor seinem wohl berühmtesten Roman „1984“ erschienen. Die „Animal Farm“ war noch nicht veröffentlicht. Laut Orwell wäre die Lösung für die Probleme eine multilaterale Welt, in der die Siegernationen auch künftig zusammenarbeiten müssten. Orwells Hoffnung setzte sich jedoch nicht so ganz durch. Spätestens mit dem Brexit, scheint sich auch in seiner Heimat das durchgesetzt zu haben, vor dem Orwell immer gewarnt hatte. Er fürchtete schon zu Beginn des „Kalten Krieges“ das Scheitern der multilateralen Nachkriegsverhandlungen. In seinem Erfolgsroman „1984“ malte er dies in den düstersten Farben aus. Ergänzt werden seine Nachkriegsreportagen von 1945 durch frühere Artikel. Noch im März 1940 hatte er geschrieben: „Nehmen wir mal an, dass Hitlers Programm tatsächlich umgesetzt werden kann. Was er sich vorstellt, das es in hundert Jahren ein zusammenhängendes Reich von 250 Millionen Deutschen mit jeder Menge ‚Lebensraum‘, das sich bis nach Afghanistan oder so ähnlich erstreckt. Ein schrecklich hirnloses Reich, in dem eigentlich nicht viel passiert, außer dass neues Kanonenfutter gezeugt wird und junge Männer zu Soldaten erzogen werden.“ Eins Nachwort des Historikers Volker Ullrich beschließt das Büchlein. Lesenswert! Ernst Reuß Orwell, George, Reise durch Ruinen, Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945, München 2021, 111 Seiten, 16 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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