Kein historisches Sachbuch, aber „Glitterschnitter“ ist ein Kreuzbergroman, der das dortige Zeitgeschehen genau und ausgesprochen amüsant abbildet. Der Roman spielt 1980, knapp ein Jahrzehnt vor „Herr Lehmann“ und genauso lange vor dem Mauerfall.
Nach zuletzt „Wiener Straße“ und zuvor einigen weiteren „Lehmann-Romanen“, schreibt Sven Regener, Autor und Gründer der legendären Band „Element of Crime“, in „Glitterschnitter“ erneut über Herrn Lehmann und seine skurrilen Freunde. Alles spielt sich erneut in der Wiener Straße in Kreuzberg 36 ab. Im „Café Einfall“ (heute: Madonna ) und im „Intimfrisur“ (heute: Bar 11) tobt erneut der Wahnsinn mit irrsinnigen Dialogen und schrägen Gestalten. „Glitterschnitter“ ist eine neu benannte Band, deren Mitglieder in den Kneipen, neben Punks, Hausbesetzern und selbst ernannten Künstlern ihr Unwesen treiben. Milchkaffee, Österreich, Torten, eine Bohrmaschine und ein Kontaktbereichsbeamter spielen ebenfalls noch eine Rolle. Zwar gibt es dort heutzutage kaum noch Hausbesetzer oder Punks, denn die ehemaligen Hausbesetzer leben oft in ihren inzwischen legal übernommen Häusern und sind genauso wie die Punks alt geworden. In den Räumlichkeiten spielen sich jedoch noch heute die von Regener beschriebenen Alltagsszenen ab, denn das Klientel von „SO 36“ ist zwar älter geworden, hat sich aber irgendwie kaum geändert. Hier trifft man gehäuft Existenzen, die wohl woanders nicht bestehen könnten und man hört mitunter Dialoge und sieht Szenen, die aus Regeners Büchern abgekupfert sein könnten. Herr Lehmann, Karl, Erwin, H. R. Ledigt, Chrissie und Co. sind und bleiben in Kreuzberg 36 zuhause. Herrn Lehmanns Bruder erklärt das so: „Das ist nicht wie in Bremen. In Bremen bist du entweder immer schon da und dann geht’s, oder du brauchst ewig, damit die Leute dich akzeptieren. Hier ist das anders, hier kann jeder gleich mitmachen, kein Schwein denkt über dich nach und keiner nimmt dich ernst oder nicht ernst, ernstgenommen zu werden spielt hier überhaupt keine Rolle. Hier sind alle irgendwie gleich unwichtig oder gleich unernst oder wie auch immer.“ Bleibt zu hoffen, dass „Glitterschnitter“ nicht das letzte Buch in der „Lehmann-Reihe“ sein wird und das Kreuzberg 36 bis dorthin nicht vollkommen gentrifiziert ist, denn dann wäre es vorbei mit dem speziellen Flair dieses Kiezes. Ernst Reuß Sven Regener: „Glitterschnitter“, Berlin 2021, 470 Seiten, 24 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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