Schon im Prachtband „Der große Atlas der Menschheit“ wurden die Vorgänger des Homo Sapiens beleuchtet, wie der Neandertaler oder der Denisova-Mensch. Der Homo Sapiens, also der moderner Mensch, ist die einzige noch lebende Art der Gattung und unterscheidet sich genetisch von den eben benannten Vorgängern. Die französische Erstauflage des Buches erschien 2012, was bedeutet, dass es seitdem immer wieder neue Funde und Entwicklungen gab.
Neu ist das eben erschienene Buch von Rebecca Wragg Sykes, in der die britische Archäologin minutiös die aktuellen Forschungsergebnisse zum Neandertaler auswertet und einen neuen Blick auf das Leben unserer Verwandten wirft. Erstaunlich was Wissenschaftler alles aus Knochen und abgewetzten Zähnen herauslesen können. Dass es die Neandertaler überhaupt gab, kam erst vor 150 Jahren ans Licht, als in einem Steinbruch im Neandertal bei Düsseldorf ein Schädel des Urzeitmenschen gefunden wurde. Sykes zeichnet ein Bild des Neandertalers als sehr erfinderischen und anpassungsfähigen „verkannten Menschen“, mit hoch entwickelten sozialen Fähigkeiten. Der Neandertaler überlebte bei extremen klimatischen Bedingungen und war viel länger als der heutige Homo Sapiens auf dieser Welt. Er war nicht nur ein gewalttätiger, brutaler, stumpfsinniger und primitiver Affenmensch, als der er jahrzehntelang beschrieben wurde, auch wenn er muskulöser und mit einem robusteren Knochenbau ausgestattet war als der Homo Sapiens. Genau dem falschen Bild des Neandertalers in unseren Köpfen will die Autorin mit ihrem Buch „Der verkannte Mensch“ entgegen schreiben. Obwohl wir heute wissen, dass Neandertaler und moderner Mensch gemeinsame Nachkommen gezeugt haben während sie gemeinsam in Europa und im Nahen Osten lebten hält sich hartnäckig das Bild vom unkultivierten Urmenschen. Und das obwohl wir mit dem Neandertalern auch genetisch verwandt sind und bis zu vier Prozent unserer DNA von den Neandertalern stammen. Das Leben der Neandertaler ist wahrscheinlich ziemlich gefährlich gewesen, denn fast alle Knochenfunde weisen Verletzungen auf. Neandertaler waren anscheinend geschickte Großwildjäger und talentierte Werkzeugmacher, die speziell für die Jagd Speere mit Steinspitzen anfertigten. Lange Zeit galt nur eins als sicher: Neandertaler und moderne Menschen hatten den gleichen Vorfahren, den Homo erectus. Aus ihm entwickelten sich vor etwa 800 000 Jahren zunächst die „Heidelberger Menschen“ und vor wahrscheinlich mindestens 300 000 Jahren schließlich die ersten Neandertaler. Ernst Reuß Rebecca Wragg Sykes, Der verkannte Mensch. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer, Goldmann München 2022, 512 Seiten, 24 €. Telmo Pievani, Valéry Zeitoun, Homo Sapiens. Der große Atlas der Menschheit, Aus dem Französischen von Renate Heckendorf, mit zahlreichen farbigen Abbildungen und Karten., 26,8 x 36,8 cm, wbg Theiss, Darmstadt 2020, 208 Seiten, 70 €. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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