„In Deutschland hat es lange gedauert, die Augen für das ganze Ausmaß des Verbrechens zu öffnen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Ein Grund dafür liegt im Umgang mit der deutschen Geschichte. Das unvergleichlich größere Grauen des Holocaust und des deutschen Vernichtungskriegs im Osten Europas wirkte hemmend, wenn es darum ging, die russische Gewalt beim Namen zu nennen. Nur mühsam setzte sich die Einsicht durch, dass aus der deutschen Geschichte gerade im Verhältnis zur Ukraine eine besondere Verantwortung zur Leistung von Hilfe entsteht.“, schreibt der Autor in seiner Einleitung zu seinem Buch „Der Fluch des Imperiums“. Das Buch erzählt die eng verflochtene Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine seit Peter dem Großen im Kontext der internationalen Politik.
Der renommierte Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel berichtet detailliert über die imperiale Geschichte Russlands seit 1700. Peter der Große, mit dem sich Putin heute vergleicht, expandierte gen Westen und führte Europa in den ersten Ost-West-Konflikt und auch zum späteren Krimkrieg. 1703 gründete Zar Peter Sankt Petersburg, und kürte Sankt Petersburg zur neuen Hauptstadt des Russischen Reiches. 1721 krönte er sich zum ersten Kaiser des Russischen Reichs. Ob derartige Gedanken bei Putin auch heute eine Rolle spielen, ist bei seinen offensichtlichen imperialen Phantasien nicht gänzlich auszuschließen. Ein modernes, demokratisches Europa mit einem demokratischen Polen und einer demokratischen Ukraine macht ihm jedenfalls Angst und er versucht es mit aller Gewalt zu verhindern. Mit konservativ, nationalistischen Kräften und einem modernen Cyberkrieg möchte er das aus seiner Sicht schwache „woke Gayropa“ zersetzen. Hierzulande wird seit dem 24. Februar 2022 von Zeitenwende gesprochen. Laut des Autoren ist es in Russland jedoch keine Zeitenwende, sondern eine lange imperiale Kontinuität. Dabei geht es nicht nur um imperiale Herrschaftsansprüche, sondern auch um einen ideologisch aufgeladenen Ost-West-Konflikt, der sich bereits im 19. Jahrhundert herausbildete. In Deutschland stand man lange auf Seiten Russlands und man macht sich heute noch Sorgen um eine für Putin gesichtswahrende Lösung zur Beendigung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs. Kaum jemand fragt sich was ein „Verzichtsfrieden“ für die Ukraine bedeuten würde. Schulze Wessel kommt zum Schluss: „Eine Zeitenwende in Russland könnte nur eine Niederlage und eine fundamentale Neubesinnung Russlands als postimperiale Nation herbeiführen.“ Was Deutschland nach 1945 gelang, steht laut des Autoren Russland noch bevor: die Abkehr vom Imperium. Ernst Reuß Schulze Wessel, Martin, Der Fluch des Imperiums, Die Ukraine, Polen und der Irrwegder russischen Geschichte, C. H. Beck Verlag, München 2023, 352 S., 28 € Comments are closed.
|
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
|