„Wir zitterten und ängstigten uns vor den Deutschen, waren Opfer der Wut der Ukrainer, die sich in tiefem Judenhaß äußerte. Die Nazis ermunterten sie zu ihren Grausamkeiten. Die Hände, mit denen uns die Ukrainer misshandelten, hatten wir früher geschüttelt, wenn wir uns schöne Feiertage wünschten oder uns begrüßten.“, berichtete Lina-Liba Kasten.
Die von ihr erzählte und von der Tochter aufgeschriebene Geschichte der Familie Kasten, wurde soeben beim Metropol Verlag veröffentlicht. Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Hebräischen. Es ist eine der vielen Geschichten von jüdischen Familien zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, die zwischen 1941-1944 unter der deutschen Herrschaft litten. Über zwei Millionen Menschen wurden Opfer von Massenerschießungen durch Deutsche und den einheimischen Kollaborateuren. Laut einer Ausstellung in der Topographie des Terrors in Berlin gab es dort mindestens 722 Orte, in denen mehr als 500 Menschen exekutiert wurden. Dennoch ist die Geschichte der Familie Kasten, aufgrund der außergewöhnlichen Umstände ihres Überlebens, eine besondere Geschichte. Deutsche Soldaten und ukrainische Milizen hatten für die brutale Deportation der Familie aus ihrem galizischen Dorf ins Ghetto gesorgt, welches die Deutschen nach dem Überfall auf die Sowjetunion in dem ukrainischen Ort Rohatyn eingerichtet hatten. Nachdem sie dort ihr zwei Monate altes Baby Munja bei einer „Kinderaktion“ opfern mussten und sich bei einer Massenerschießung erfolgreich verstecken konnten, flohen Jossel Kasten und seine Frau Lina-Liba mit den ihnen gebliebenen Kindern Schmulik und Dina im Kugelhagel aus dem Ghetto und versteckten sich zweieinhalb Jahre lang in einer eigenhändig gegrabenen Höhle im Wald. Das bedeutete zweieinhalb Jahre ständige Angst vor der Entdeckung durch Deutsche und deren Helfershelfer. Es bedeutete zweieinhalb Jahre vegetieren unter vollkommen menschenunwürdigen Bedingungen. Selbst als sie dann im August 1944 von sowjetischen Soldaten aus dem Erdloch befreit wurden, war die Gefahr nicht ganz vorbei, denn Einheimische fürchteten ihre Eigentumsansprüche. So mancher glücklich Gerettete, der sein Eigentum geltend machen wollte, überlebte das nicht. Auch Jossel und Lina-Liba, deren sonstigen Angehörigen - bis auf eine Cousine - alle umgekommen waren, fühlten sich weder in der Ukraine noch in Polen sonderlich willkommen und verspürten den Antisemitismus erneut am eigenen Leib. Im Oktober 1948 emigrierte die inzwischen siebenköpfige Familie Kasten, die bereits in der Erdhöhle eine Tochter bekommen hatte, nach Israel und fingen ein neues Leben an. Ein erschütternder Bericht aus der Vergangenheit, die noch nicht allzu lange her ist und der auch deshalb wert ist, gelesen zu werden. Ernst Reuß Dina Dor-Kasten, Versteckt unter der Erde, Die Überlebensgeschichte der Familie Kasten. Nach Erzählungen von Lina-Liba Kasten, 200 Seiten, Berlin 2016, € 16.00 Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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