Wer als Millionär Rad fährt, weil das Teil des Fitnessprogramms ist, wird das nicht verstehen. Wer den Untertitel „Justizalltag im Nachkriegsberlin“ liest, kann Radfahren - trotz manch exorbitant hoher Preise für Fahrräder - nicht als Kriterium der sozialen Abgrenzung verstehen. Wer weiß, wie wenig die Reichsmark 1948 wert und wie profitabel der Schwarzmarkt vor der Währungsreform war, hofft, vielleicht in diesem Buch Aufklärung darüber zu finden, wie die Nachkriegsgewinnler sich und ihre Gewinne transportierten. Und wird dann auf eine absurd klingende Begründung in einem Urteil stoßen, dass Fahren auf einem gestohlenen Rad ein politisches, weil gegen die Arbeiterklasse gerichtetes Delikt ist.
Der populär daherkommende Titel schmückt eine umfassende, soll heißen die politischen Randbedingungen der Rechtssprechung ebenso wie die Probleme des Alltags einschließende, auf umfangreiche Aktenstudien gestützte Darstellung und Analyse des strafrechtlichen Alltags im politisch unruhigen Berlin der Nachkriegszeit. Externe Bedingungen wie die Auswirkungen des Ost-West-Konflikt auf die Berliner Justiz, deren Spaltung und besonders die Rolle der Ostberliner Justiz bei der Politisierung des Strafrechts, werden ebenso thematisiert wie die rechtlichen Grundlagen der Rechtsprechung, darunter auch solche aus der Kaiser- wie der Nazizeit, einschließlich die alliierten Normen. Ihre spezifische Würze erhält die Publikation durch die in ihr geschilderten typischen Nachkriegsfälle im Bereich der Bagatellkriminalität sowie durch die Versuche der politischen Einflussnahme auf die Rechtsprechung. Diese wurde vor allem nach der politischen Spaltung und der Eingliederung der Justiz im Ostteil der Stadt in die Verwaltung deutlich. Die Justiz war danach keine unabhängige Gewalt mehr. Das dürfte für viele, die der neuen Ordnung nahe standen oder sich ihrer verpflichtet fühlten, kein großes Problem gewesen sein, wie es sich in manchen Urteilen zeigte. Bei der Bestrafung von Bagatellkriminalität - Diebstahl und Unterschlagung, Handel auf dem Schwarzmarkt – wurden teilweise drakonische Strafen gefällt. So auch im Fall eines Fahrraddiebes, dessen Tat deshalb als besonders verwerflich befunden wurde, weil „das Fahrrad wichtigstes Verkehrsmittel unserer werktätigen Bevölkerung ist. Millionäre fahren bekanntlich nicht auf Fahrrädern." Die Einführung der Kategorie "Feinde des Friedens" ermöglichte tendenziöse Urteile. Die Bestrafung von Wirtschaftsdelikten (u. a. Buntmetalldiebstahl)wurde politisch zum Kampf gegen frühere Nationalsozialisten hoch gejubelt. Der Autor, dessen für einen Juristen oft lockere Ausdrucksweise die Lektüre des Buches erleichtert, schafft es, eine Lücke in der Darstellung der Berliner Nachkriegsgeschichte zu füllen, Kontinuitäten zu verdeutlichen und die unmittelbare Nachkriegszeit sowie die damaligen Nöte der Berliner Bevölkerung zu erhellen. Deshalb ist es eine für an dieser Zeit Interessierte notwendige Lektüre. Dr. Gero Neugebauer, FU Berlin Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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