Obwohl bis zu 3,3 Millionen von 5,7 Millionen Gefangenen in den Lagern umgekommen sind und die sowjetischen Kriegsgefangenen somit neben den Juden diejenige Opfergruppe war, die das schlimmste Schicksal im Zweiten Weltkrieg erleiden mussten, wurde viele Jahre nichts Genaueres über sie ermittelt. Hans Mommsen, einer der bedeutendsten deutschen Zeithistoriker, meinte bereits vor vielen Jahren: „Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand ist eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkrieges.“
Nach dem Krieg bestand nicht nur in Deutschland wenig Interesse am Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener. Anteilnahme erregten hierzulande meist nur das eigene Leid, die enormen deutschen Verluste in der Sowjetunion und das Schicksal deutscher Soldaten in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern - das allerdings nicht mit dem der sowjetischen Kriegsgefangen zu vergleichen ist. Die eigenen Verbrechen, soweit überhaupt zur Kenntnis genommen, wurden mit Taten der Alliierten aufgewogen. Die geschätzt 27 Millionen sowjetischen Opfer, darunter mehr als 13 Millionen Frauen, Kinder und Greise, interessierten da nicht. In Westdeutschland wurden Mahnmale, die von den Sowjets oder von Überlebenden der Kriegsgefangenenlager errichtet worden waren, beseitigt oder entschärft. Schon harmlose Inschriften waren offenbar dem Wirtschaftswunderdeutschen nicht mehr zuzumuten. Sollten gar Sowjetstern oder Hammer und Sichel auf den Denkmälern zu sehen sein, wurde dies in der noch jungen BRD häufig entfernt. Reinhard Otto und Rolf Keller, die sich seit vielen Jahren mit dem Thema beschäftigen, veröffentlichten 2019 in der Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine detaillierte Studie, die das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager untersucht. Mehr als 100 000 sowjetischen Kriegsgefangenen wurden zum Arbeitseinsatz oder zur Exekution in die Konzentrationslager der SS überstellt. Ungefähr ein Viertel von ihnen waren sogenannte „Arbeitsrussen“, die nach dem Scheitern des „Blitzkriegs“ im Osten in den Konzentrationslagern Frondienste leisten sollten, was ihre Überlebenschancen erstaunlicherweise erhöhte. Zur „Sonderbehandlung“ ausersehene Kriegsgefangene wurde erst in einem Pferch separiert, um anschließend in ein KZ gebracht zu werden. Insbesondere kommunistische Funktionäre, potentielle Unruhestifter, Angehörige der „Intelligenz“ (bspw. Lehrer, Studenten, höhere Beamte) und Juden fielen der „Sonderbehandlung“ zum Opfer, aber auch willkürlich ausgewählte einfache Soldaten. Man hatte schließlich ein gewisses „Soll“ zu erfüllen.Untersucht wird in der detaillierten Studie auch die Kooperation mit der Wehrmacht. Obwohl die Ermordung gefangener Soldaten gegen Heeresdienstvorschriften und Völkerrecht verstießen, wurde alleine wegen diesen Aussonderungen niemand bestraft. Man hatte ja nur Befehle befolgt und die meisten Taten waren schon verjährt, als man mit Ermittlungen begann. Im Lazarett für Kriegsgefangene im unterfränkischen Ebelsbach, geschah das mit allen dort untergebrachten Gefangenen, einschließlich des medizinischen Personals aus der Sowjetunion. Sie wurden ins KZ Mauthausen gebracht. Man befürchtete im Lazarettt eine Verschwörung. Nach Schilderungen des russischen Historikers Efim Brodski wurde im Juli 1944 ein als Kranker getarnter Spitzel in das Lazarett eingeschleust. Kurze Zeit später begannen Verhaftungen von Sanitätern und Ärzten. Brodski wird im Buch zitiert: „Danach wurden alle Kriegsgefangenen festgenommen, die in den letzten Jahren 1943/44 in Ebelsbach behandelt worden waren. Das waren ungefähr 500 Menschen; auch sie wurden in Konzentrationslager eingeliefert.“ Mindestens 50 von ihnen wurden in Mauthausen exekutiert. Auch diese Schicksale werden in der akribischen Studie dargestellt. Nach dem Aufstand von Sobibor am 14. Oktober 1943, war man wohl besonders wachsam bei derartigen Lagern. Vergleichend wird auch ein Blick auf Kriegsgefangene aus anderen Staaten geworfen, die von der Wehrmacht an die SS ausgeliefert wurden und teilweise dort nach Fluchtversuchen oder ähnlichem ebenfalls exekutiert wurden. Das war aber sehr viel seltener als bei den Rotarmisten, die auch bei der Wehrmacht als „Untermenschen“ galten. Ernst Reuß Reinhard Otto, Rolf Keller, Sowjetische Kriegsgefangene im System der Konzentrationslager, Mauthausen-Studien, Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Band 14 , Mauthausen 2019, 351 Seiten, 29,90 € Otto, Reinhard: Die "Ebelsbacher" - ein Widerstandskreis sowjetischer Kriegsgefangener; in: KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Mauthausen Memorial 2011. Forschung, Dokumentation, Information [Jahresbericht 2011]. Hrsg.: Bundesministerium für Inneres - Barbara Glück.- Wien (2012), S. 27-40. Ernst Reuß, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, Berlin, erma 2013, 263 Seiten, 19,90 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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