Bereits im Sommer 1944 wurde im noch nicht befreiten Polen von befreiten Juden eine Kommission gegründet, die es sich zur Aufgabe machte, Erinnerungen zu sammeln und den faschistischen Massenmord an den Juden wissenschaftlich aufzuarbeiten. Der in einem Versteck in Lemberg vor den Nazihäschern untergetauchte renommierte Wissenschaftler Philip Friedman konnte sich auf etwa hundert Mitarbeiter stützen. Sie interviewten 7000 Shoah-Überlebende. Die Zentrale Jüdische Historische Kommission konnte so in 39 Büchern und Broschüren, in jiddischer und polnischer Sprache verfasst, den Genozid bereits frühzeitig exakt dokumentieren – die Grundlage für eine spätere Verurteilung von namentlich bekannten Tätern.
Nunmehr ist auf Deutsche aus diesem historischen Schatz eine Auswahl von zwölf Texten erschienen, die zwischen 1944 und 1947 entstanden sind. Authentische Zeugnisse eines unvorstellbaren Grauens. Die hier berichteten Schicksale und zitierten Tagebucheinträge sind bedrückend, die Lektüre der Gewaltexzesse schwer erträglich. Die Berichte zeugen von der systematischen Vorgehensweise der deutschen Antisemiten. Ein Tagebuchschreiber notierte: »Die Deutschen haben zuerst begonnen, uns Juden von unseren Vermögen (Kontribution) zu befreien, dann von unserer Freiheit (›Ghetto‹) und schließlich von unserem Leben (›Aktionen‹).« Zunächst wurde die jüdische Bevölkerung Polens in Ghettos gezwungen und dort ausgehungert; wer überlebte, wurde der »Endlösung« zugeführt, wie es im NS-Jargon hieß. Berichtet wird die Liquidierung des Wilnaer Ghettos und die fälschliche Annahme des Bialystoker »Judenrates « die Mehrheit der Ghettobevölkerung zu retten, wenn man einige tausend Menschen der SS auslieferte. Angeprangert wird eine Leipziger Firma, die Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen ausbeutete, ohne Schutzmaßnahmen mit giftigen Säuren hantieren ließ und deren massenhaften Tod billigend in Kauf nahm. Erinnert wird an den Aufstand im Warschauer Ghetto sowie im Vernichtungslager Sobibór, dem einzigen in einem KZ. Philip Friedmann informiert über die Vernichtung der Juden in Lemberg und die spätere Schriftstellerin Rachel Auerbach über Treblinka. Zumeist jedoch sind es einfache Menschen, die hier Zeugnis ablegen. Ber Ryczywól überlebte dank seiner Schwejkschen Art und einer gehörigen Portion Bauernschläue und Glück, er verlor jedoch seine Familie. Abraham Krzepicki gelang es 1943, aus Treblinka zu fliehen und ins Warschauer Ghetto zurückzukehren, wo er später als einer der mutigen Aufständischen fiel. Seine Aufzeichnungen aus Treblinka sind 1950 von Bauarbeitern in einer Warschauer Ruine gefunden worden. Berek Freiberg war 14 Jahre alt, als er in das Todeslager Sobibór kam; er gehörte zu den Häftlingen, denen während des Aufstandes die Flucht gelang. Szymon Datner, der spätere Direktor des historischen Instituts in Warschau, dessen Familie im Ghetto Bialystok umkam, beschreibt den hilflosen Versuch der Ghettobewohner, sich gegen die Mörder zu wehren. Sein Bericht vom 3. Dezember 1945 endet mit den Worten: »Ich bin der festen Überzeugung, dass der Deutsche kein Mensch ist.« In der Tat kann man zu solch einem Urteil gelangen, wenn man liest, wie deutsche »Einsatzgruppen « Jagd auf Menschen machten und eine sadistische Freude empfanden, die Bedrängten zu erschlagen oder von Hunden zerreißen zu lassen. Und wie deutsche Wachmannschaften kaltherzig die Opfer verhungern ließen oder in die Gaskammern trieben. »Blutrünstig, grässlich und entartet war die wahre Seele des Lagers«, notierte ein ehemaliger KZ-Häftling. Ein SS-Mann habe sich »darauf spezialisiert, Häftlinge Kopf an Kopf aufzustellen und mehrere Köpfe mit nur einer Patrone zu durchschießen. Am liebsten zerstückelte er jedoch Menschen bei lebendigem Leib.« Ein anderer Überlebender erzählte, dass auch die Gattinnen von SS-Offizieren sich am »Schießwettbewerb« auf Häftlinge beteiligten, auf deren Drillich man zuvor mit weißen Kreisen das »Ziel« aufmalen ließ. In den Archiven des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau liegen weitere bisher unveröffentlichte Manuskripte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre unter schwierigen Bedingungen den Grundstein für die Holocaustforschung legten. Auch diese Texte sollten auf Deutsch erscheinen. Ernst Reuß Frank Beer/Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944 - 1947. Metropol. 656 S., br., 29,90 €.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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