Herschel Grynszpan verübte am 7. November 1938 ein Attentat auf den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath, was die Nazis zum Anlass für die sogenannte „Kristallnacht“ nahmen. Ein Motiv des Anschlags soll die Ausweisung seiner Familie aus Deutschland gewesen sein. Sie wurde bei der sogenannten „Polenaktion“ abgeschoben. Heute meist vergessen erfolgte am 28. Oktober 1938 deutschlandweit die Deportation von 17 000 Polen jüdischen Glaubens. Auch in Berlin wurden mehr als 1 500 jüdische Mitbürger frühmorgens aus ihrem Bett heraus verhaftet, durften nur das Notwendigste mitnehmen und wurden mit bewachten Sonderzügen an die polnische Grenze gebracht. Für die meisten Familien war der 28. Oktober der Tag, an dem sie auseinandergerissen wurden. Seit dem die Nazis die Macht in Deutschland übernommen hatte, waren Juden keine Reichsbürger mehr. Mit der „Polenaktion“ hatte man sich eines Teils des „Problems“ entledigt. „Polnische Juden unter Einsatz von Schusswaffen über die Grenze gezwungen“, schrieb die englische Presse. Marcel Reich-Ranicki, deutscher Literaturpapst in der Nachkriegszeit und damals frischgebackener Abiturient, war einer von ihnen.
Der im Metropol Verlag erschienene ausführliche Begleitband zu einer Ausstellung mit dem Titel „AUSGEWIESEN! Berlin, 28.10.1938“ zeichnet die Hintergründe der „Polenaktion“ und die Lebenswege von 15 Berliner Familien nach. Seit Jahrzehnten hatten sie in Berlin gelebt oder waren hier gegründet worden. Es waren häufig innerpreußische Migranten, beziehungsweise Migranten aus dem ehemals österreichischen Teil des jetzigen Polens. In den Jahren von 1772 bis 1795 hatten die Nachbarn Russland, Preußen und Österreich den Staatenbund aus Polen und Litauen unter sich aufgeteilt, so dass bis zum Ende des Ersten Weltkriegs für über 120 Jahre kein eigenständiger polnischer Staat existierte. Auch wenn man die Situation im Jahre 1938 nicht mit der „Flüchtlingskrise 2015“ vergleichen kann, gibt es dennoch erstaunlich viele Parallelen. Auf der Konferenz von Évian im Juli 1938 hatten die Vertreter von 32 Nationen und 24 Hilfsorganisationen schon zuvor ergebnislos über das Problem der rapide ansteigenden Flüchtlingszahlen von Juden beraten. Dieses moralische Versagen der westlichen Demokratien erinnert an heute. Während damals mit dem Zug abgeschoben wurde, ist es heute das Flugzeug. Und während damals die Abschiebung im Deutschen Reich gefeiert wurde, feiert heute ein christlicher Minister die Abschiebung von 69 muslimischen Afghanen. Es gab illegale Grenzübertritte, Auffanglager an den Grenzen und Schiffe voller Flüchtlinge, die in keinen Hafen einlaufen durften. Die heutige Nachrichtenlage ist ähnlich. Allerdings hatte die „Polenaktion“ eine Vorgeschichte, denn Polen war es, das am 31. März 1938 ein Gesetz verabschiedet, welches die Möglichkeit vorsah, allen polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Antisemitismus war auch in Polen stark verbreitet und die polnische Regierung wollte ihre eigenen jüdischen Mitbürger loswerden. Das Deutsche Reich kam ihnen mit ihrer Aktion zuvor. Die Zwangsausweisung am 28. Oktober kam für die polnischen Grenzbehörden überraschend, so dass man teilweise völlig überfordert war. An manchen Grenzorten konnten die Ausgewiesenen ungehindert weiterreisen, ohne namentlich erfasst zu werden. Im Auffanglager Zbąszyń hielten sich Ende 1938 trotzdem bis zu 8 000 Personen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen auf. Die Ausstellung „AUSGEWIESEN!“ ist noch bis zum 30. Dezember dieses Jahres im Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zu sehen. Sie zeigt das von Studenten und Studentinnen recherchierte Schicksal von sechs verschiedenen Berliner Familien. Ernst Reuß Bothe, Pickhan (Hrsg.), Ausgewiesen! Berlin, 28. 10. 1938, Die Geschichte der „Polenaktion“, Metropol Verlag, Berlin 2018, 296 Seiten, 20 Euro Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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