Noch 1989 wurde eine NATO-Übung namens Wintex mit folgendem Szenario durchgeführt: Michail Gorbatschow ist gestürzt und tausende Panzer des Warschauer Pakts rollen im Morgengrauen über die Grenzen der Bundesrepublik. Fiktives Datum war der 24. Februar 1989. Der Kreml setzt Giftgas ein, die NATO reagiert mit massiven Atomschlägen. Kurze Zeit später sollte ein zweiter Atomschlags nahe deutscher Großstädte befohlen werden. Dies hätte der Zustimmung des Bundeskanzlers bedurft.
Die seit 1968 alle zwei Jahre durchgeführte Übung wurde jedoch abgebrochen, nachdem Waldemar Schreckenberger, der beim Manöver die Rolle des Bundeskanzlers spielte, dem NATO-Oberkommando die Zustimmung zur Simulation eines zweiten Atomschlags versagte. Das dadurch boykottierte Manöver wurde danach nie wieder durchgeführt, zeigt aber dass das westliche Verteidigungsbündnis noch Anfang 1989 davon ausging, dass die Konfrontation zwischen den Supermächten USA und UdSSR in einem nuklearen Krieg hätten enden können. Zumindest die DDR und die BRD wären weitgehend zerstört worden, wahrscheinlich wäre es dabei aber nicht geblieben. Eine schreckliche Vorstellung, wohl auch für die damals Regierenden. Die Deutsch-Finnin Kristina Spohr lehrt Internationale Geschichte an der London School of Economics und beschäftigt sich in ihrem neuen Buch „Wendezeit, Die Neuordnung der Welt nach 1989“, mit der Frage, warum die rasanten Umwälzungen in den wenigen Jahren zwischen 1988 und 1992 relativ friedlich enden konnten. Es sei das „konservative Management“ der handelnden Personen gewesen, meint die Autorin, doch die Vorstellung, „dass sich die Welt künftig im Rahmen einer zunehmend auf Washington ausgerichteten Weltordnung immer mehr an den amerikanischen Werten orientieren werde, hat sich im Lauf der Zeit als Illusion entpuppt. Der Gedanke, ein gekränktes, aber wiedererstarkendes Russland oder die stets ihrem eigenen Kompass folgende Volksrepublik China könnten in einer unipolaren Welt einen untergeordneten Status akzeptieren, wirkt heute hoffnungslos naiv.“ Die ersten beiden Kapitel beschäftigen sich mit der „Neuerfindung des Kommunismus“ in Russland und China und mit dem „Sturz des Kommunismus“ in Polen und Ungarn, der dort ganz anders verlief als in der DDR. Laut Spohr lag das am mangelnden Reformwillen der SED-Oberen und an der Nähe zur BRD. Spohr erzählt minutiös, wie sich das politische Geschehen in diesen Jahren entwickelte und bleibt dabei den handelnden Protagonisten und ihren persönlichen Beziehungen zueinander dicht auf der Spur. Sie zeigt auch das Misstrauen auf, das zwischen den zentralen Gestalten herrschte. Bekannte Wendepunkte, wie das „Paneuropäische Picknick“ an der österreichisch-ungarischen Grenze oder die Prager Botschaftsbesetzung bis zum Mauerfall, werden rekapituliert und die Auswirkungen analysiert. Die Bundesrepublik hatte sehr hohe Flüchtlingszahlen zu verkraften, die Sowjetunion zerfiel. Der Aufbau eines „Neuen Europas“ stand an. Es kam zur Währungsunion, später zur Einführung des Euros, zur Wiedervereinigung, zur Auflösung des Warschauer Pakts und zum Eintritt Gesamtdeutschlands in die NATO. Außerdem galt es den Balkankrieg zu bewältigen. All das musste zwischen Gorbatschow, Bush, Kohl, Mitterand, Thatcher und anderen mühsam austariert werden. Margaret Thatcher isolierte sich beim Aufbau eines neuen Europas und wird folgendermaßen zitiert: „Wir haben den Krieg durchgemacht, und wir wissen ganz genau, wie die Deutschen sind.“ Der Charakter einer Nation könne sich nicht grundlegend ändern, meinte sie. Sie sorgte sich, dass Deutschland, sich zu einem wirtschaftlich dominierenden Imperium ausdehnen und das, was in zwei Weltkriegen nicht erreicht werden konnte, nun durch wirtschaftlichen Imperialismus erreicht wird. Thatcher befürchtete, dass ganz Osteuropa unter extremen deutschen Einfluss geraten würde. Die „zentrale Feststellung“ des Buches, das sich nicht nur auf Europa beschränkt, sei laut Spohr die: „dass das Europa nach dem Mauerfall, ja unsere Gegenwart, nur zu verstehen ist, wenn man auch berücksichtigt, was 1989 auf der anderen Seite der Welt geschah.“ Das letzte Kapitel beschäftigt sich daher auch folgerichtig mit einem Ausblick auf das „Pazifische Jahrhundert“. Monate bevor in Berlin die Mauer fiel, waren in Peking auf dem Tiananmen-Platz Proteste blutig niedergeschlagen worden. China unter Deng Xiaoping erlebte ein ganz anderes Ende des Kalten Krieges, als Europa. Chinas Weg unterschied sich radikal von Gorbatschows späterem vollständigem Kontrollverlust. Dort behielt man mit Gewalt und Unterdrückung alles im Griff, während man gleichzeitig die Wirtschaft reformierte. Im Gegensatz zu Peking, gab es bei der Großdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig, trotz des Widerspruchs einiger Hardliner in der Führungsetage der SED, kein Blutvergießen, denn „Egon Krenz (…) hatte trotz seines kurz zuvor erfolgten »brüderlichen« Besuchs in Peking nicht das Bedürfnis, sich nun von Honecker die Schande einer Tiananmen Lösung aufbürden zu lassen.“ Laut der Autorin wollte er nicht seine eigenen Hände mit Blut beflecken, um danach von Honecker, der weniger Skrupel hatte, für das Blutvergießen verantwortlich gemacht werden zu können. Sie schreibt: „Die Hoffnung, dass die Menschheit in eine neue Ära der Freiheit und des dauerhaften Friedens eintreten werde, stand in Konkurrenz zu der keimenden Erkenntnis, dass die bipolare Stabilität des Kalten Krieges damals schon einer weniger binären und gefährlicheren Struktur Platz machte.“ Im Epilog „Post-Mauerfall, Post-Tiananmen: Eine neu gestaltete Welt?“ analysiert sie die Auswirkungen auf die heutige Zeit und die „Neue Weltordnung“. Der Inhaberin der Helmut-Schmidt-Ehrenprofessur am Henry A. Kissinger Center for Global Affairs an der Johns Hopkins University in Washington, D.C. ist ein äußert kenntnisreicher und detaillierter Bericht über diesen extrem ereignisreichen und spannenden Zeitraum gelungen, ohne jedoch neue Erkenntnisse zu bieten. Eher eine Retrospektive, als ein visionärer Blick in die Zukunft. Ernst Reuß Kristina Spohr, WENDEZEIT, Die Neuordnung der Welt nach 1989, aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, Gebundene Ausgabe, 976 Seiten, 42 Euro Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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