Jedes vierte Opfer des Holocaust kam im Rahmen der bis zum Oktober 1943 dauernden „Aktion Reinhardt“ ums Leben. „Aktion Reinhardt“ war der Tarnname für die systematische Ermordung von polnischen und ukrainischen Juden und Roma in den abgeschieden an Eisenbahnlinien liegenden Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka an der östlichen Grenze des Generalgouvernements. Heinrich Himmler hatte dies im Juli 1942 angeordnet, weil die mit dem Überfall auf die Sowjetunion stattfindenden Massenerschießungen durch Einsatzgruppen nicht „effektiv“ genug waren. Mindestens 1,8 Millionen Menschen fielen der Massenvernichtung zum Opfer. Unterstützt wurden die deutschen und österreichischen Täter dabei von ausländischen Hilfskräften, meist aus der Ukraine, den sogenannten „Trawniki Männern“, die in einem Zwangsarbeiterlager gleichen Namens ausgebildet worden waren.
In den Lagern spielten sich unglaubliche Verbrechen ab. Nachdem die „Aktion Reinhardt“ beendet war, wurden die Anlagen abgerissen, Leichen verbrannt, der Boden umgepflügt und die Gelände in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt. Erst jetzt wurde Auschwitz zum Zentrum der „Endlösung“. Trotz der gigantischen Dimensionen konnten die dortigen Verbrechen bis heute nur unzureichend erforscht werden. In der strafrechtlichen Aufarbeitung in der Nachkriegszeit gerierten sich die Täter, die inzwischen zumeist ihre bürgerliche Existenz fortgesetzt hatten, als kleine Befehlsempfänger, die nun unschuldig verfolgt werden. Sie fanden mit ihrer Sicht der Dinge viel Verständnis in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Für die sogenannten „Nestbeschmutzer“, die die Taten aufklären wollten, gab es dagegen weniger freundliche Resonanz. In der Presse wurde 1966 ein Sobibor-Prozess wie folgt kommentiert: „Das Verfahren (. . .) findet in der Öffentlichkeit kaum mehr Beachtung. Nicht einmal am Prozeßort ist der Name Sobibor bekannt. Ein Student hatte an einer belebten Straßenecke Passanten befragt: ‚Was wissen Sie von Sobibor?‘ Schüler, Hausfrauen, Arbeiter und Beamte zuckten als Antwort meist nur mit den Schultern. Eine Hausfrau tippte auf ein neues Waschmittel.“ Möglicherweise ist der Erkenntnisstand heute etwas höher, trotzdem ist die öffentliche Wahrnehmung angesichts der Monstrosität des Verbrechens immer noch sehr gering. In einem gerade erschienenen Sammelband dokumentieren renommierte Forscher den aktuellen Forschungsstand zur „Aktion Reinhardt“ und zeigen ihre neuen Erkenntnisse zu den drei Lagern, sowie zu Tätern und Opfern. Ernst Reuß Stephan Lehnstaedt, Robert Traba (Hrsg.), Die „Aktion Reinhardt“, Geschichte und Gedenken, Touro College Berlin. Studien zu Holocaust und Gewaltgeschichte, Band 1, Metropol Verlag, Berlin 2019, 395 Seiten, € 24.00 Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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