Es war ein ungemütlicher Oktobertag, als ich vor fast zwanzig Jahren die Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht im Osten besuchte. Ein Foto berührte mich besonders. Es zeigte eine Erschießungsszene im Zweiten Weltkrieg. Am Rande einer Grube, bereits gefüllt mit Leichen, kniet ein Mann, ein Zivilist. Er blickt direkt in die Kamera des Fotografen, während ein deutscher Soldat von hinten die Pistole auf seinen Kopf richtet. Der Fotograf wird offensichtlich kurz vor der Hinrichtung des Mannes auf den Auslöser gedrückt haben. In der Bildunterschrift war der Ort angegeben, an dem dies geschah. Es war Winniza in der Ukraine.
Ich stutzte damals: Winniza? Diesen Namen hatte ich doch schon einmal gehört. In einer Erzählung über meinen Großvater. Er soll dort während des Krieges stationiert gewesen sein. Mein Großvater Ernst, nach dem ich benannt worden bin und der zu früh verstarb, so dass ich ihn nicht mehr fragen konnte. Er war zwar Mitglied der NSDAP, tat aber weit hinter der Front in einer Schreibstube seinen Dienst. So hieß es in der Familie. Vom Krieg soll er kaum etwas mitbekommen haben. Von da an interessierte mich brennend, was in Winniza geschehen ist. Doch erst Jahre später begann ich intensiver nachzuforschen und fand heraus, dass mein Großvater in der Kommandantur eines Lagers für sowjetische Kriegsgefangene in Winniza gearbeitet hatte. Ich las alles, was ich dazu auftreiben konnte, und erfuhr, dass in diesen Lagern entsetzliche Verbrechen geschehen sind. Erstaunt stellte ich fest, dass in Deutschland zwar viel über deutsche Kriegsgefangene in Sibirien geschrieben wurde, es aber kaum Publikationen über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gibt. Obwohl sie neben den Juden diejenige Opfergruppe waren, die das schlimmste Schicksal im Zweiten Weltkrieg erleiden musste. Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern starben 3,3 Millionen. Noch größer war mein Erstaunen, als ich bei meinen Recherchen darauf stieß, dass mein anderer Großvater, Lorenz, der kein Nazifreund war, mehrere Jahre als Gefangener in russischer Hand in eben diesem Lager in Winniza verbringen musste. Nachdem die deutschen Okkupanten vertrieben worden waren. Beide Großväter aus dem beschaulichen Unterfranken waren also in Winniza. Nun ließ mich das Thema erst recht nicht mehr los. Ich durchstöberte alle deutschen Archive, die etwas zu dieser Stadt in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges in ihren Beständen vermerkt haben. Ich wurde fündig. Gewiss, meine Rechercheergebnisse waren begrenzt, doch anhand von Originalakten konnte ich mir ein klareres Bild machen von zwei deutschen Soldaten an der Ostfront und unermesslich schrecklichen, zumeist ungesühnt gebliebenen Verbrechen. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion rückte die Front schnell an Winniza, auf ukrainisch: Winnyzja, heran. Spätestens am 21. Juli 1941 hatten die deutschen Truppen die 500 Kilometer von der sowjetisch-polnischen Grenze entfernte Stadt besetzt. Die Divisionen rollten alsbald weiter ostwärts, die Stadt wurde ins deutsche Reichskommissariat Ukraine eingegliedert. Später, nachdem der »Blitzkrieg« gescheitert war, gewann Winniza aufgrund seiner geografischen Lage an Bedeutung. Ab Mitte November 1941 wurde nördlich der Stadt in einem Wald das Führerfeldhauptquartier »Werwolf« gebaut. Schon wenige Tage nach der Besetzung der Stadt hatte die Ermordung von Juden begonnen. Das Morden wurde offiziell mit der »Beseitigung potenzieller Unruhestifter« begründet. Anfang September begann auch der Mord an Patienten der städtischen psychiatrischen Klinik. Drei größere Lager wurden in Winniza errichtet. Von Juli bis September 1941 existierte ein Ghetto für die jüdische Zivilbevölkerung, in der 7000 Menschen gepfercht und mindestens 2000 bereits vor der Deportation in die Vernichtungslager ermordet wurden. Es gab ein Zwangsarbeitslager für männliche Juden, von 1941 bis 1944 von der SS verwaltet. Als die Arbeitskräfte nicht mehr gebraucht wurden, hat man auch sie »eliminiert«. Für das dritte Lager, das Kriegsgefangenenlager Stalag 329, war die Wehrmacht zuständig. Dort wurden zwischen Oktober 1941 und September 1943 bis zu 20 000 sowjetische Soldaten und Offiziere gefangen gehalten. Stalag 329 war vielleicht nicht das schlimmste deutsche Lager auf okkupiertem sowjetischen Territorium. Aber auch dort fanden regelmäßig Aussonderungen, »Sonderbehandlungen« und Hinrichtungen statt. Da sich die Ukraine heute wieder im Krieg befindet kann man das ehemalige Stalag 329 in militärischem Sperrgebiet nur mit einer Sondergenehmigung aufsuchen. Fotografieren ist in der Regel nicht erlaubt. Vom Kriegsgefangenenlager blieb eine Baracke erhalten. Am Ort eines Massengrabes steht ein Mahnmal für die Toten. Erst 2008 wurden die sterblichen Überreste der dort verscharrten Kriegsgefangenen exhumiert und würdig bestattet. Im nahe gelegenen frei zugänglichen Teil des Stalags 329 befindet sich ebenfalls ein Denkmal. Auch außerhalb der drei Lager wurde gemordet. Laut städtischer Registrierung hatten 33 150 Juden 1939 in Winniza gelebt, sie stellten 35,6 Prozent der Einwohner. Als die Deutschen im Juli 1941 in die Stadt einmarschierten, trafen sie noch auf 18 000 jüdische Bürger. Die anderen waren vor den Deutschen geflohen, wissend was ihnen blühen würde. Allein an einem einzigen Tag, am 19. September 1941, wurden mehr als 10 000 Juden durch das 45. Reserve-Polizeibataillon erschossen. Und am 15. April 1942 noch einmal knapp 5000 Juden vor den Toren der Stadt. Ungefähr 1000 als unabkömmlich geltende jüdische Handwerker ließ man zunächst noch am Leben. Am 20. März 1944 wurde Winniza von der Roten Armee befreit. Es sollen damals nur 74 jüdische Überlebende gezählt worden sein. Heute ist lediglich ein Prozent der Bevölkerung jüdisch. Die Stadt ist gewachsen, hat sich vergrößert und verschönt. An den Stätten der Massenmorde bietet eine private Gärtnerei Obstbäume, Sträucher und Blumen an. Drei von jüdischen Organisationen errichtete kleine Denkmäler weisen auf die einstigen Verbrechen hin. Ansonsten scheint die Geschichte ausgelöscht. Die Massaker wie auch Stalag 329 scheinen in der Ukraine heute weitestgehend vergessen. Eines der drei bescheidenen Denkmäler erinnert an die ermordeten Kinder, die ihren Müttern entrissen und vor den Augen ihrer Eltern als erste erschossen und in die Grube gestoßen worden sind. Da die Mahnmale sich auf einem Privatgelände befinden, ist der Zugang nicht immer gewährleistet. Mein Großvater Ernst muss von den Verbrechen gewusst haben, auch wenn er wahrscheinlich nicht direkt involviert gewesen ist. Wir haben uns nicht kennengelernt. Er ist mit 42 Jahren 1950 an einem Herzleiden gestorben, das er sich während des Krieges zugezogen hatte. Bedrückte ihn die Last der Verbrechen? Mein anderer Großvater, Lorenz, ist Ende Januar 1942 in die Wehrmacht eingezogen und bereits einige Wochen später an die Ostfront ins Kubangebiet geschickt worden. »Kanonenfutter« nannte man die im Eiltempo militärisch ausgebildeten jungen Männer. Da sie keinerlei Kampferfahrung besaßen, war ihre Lebenserwartung an der Front nicht sonderlich hoch. Nur wenige aus dem Regiment von Großvater Lorenz überlebten den Zweiten Weltkrieg. Er hatte Glück im Unglück, wurde bei Noworossijsk im Juli 1943 bei einem Granatenangriff schwer verletzt. Nach seiner Genesung musste er allerdings wieder ran, die Reichshauptstadt verteidigen. Am 2. Februar 1945 schrieb er zum letzten Mal an seine Frau: »Man könnte aus der Haut fahren, wenn man dieser ekligen Zeit gedenkt. Zwölf Jahre Haß und Elend und wie lange wird es noch dauern?« Solche Ansichten und Einsichten schriftlich weiterzuleiten, war damals gefährlich. Gefreiter Lorenz hatte abermals Glück. Am 16. April 1945 geriet er in der Nähe von Berlin in sowjetische Gefangenschaft. Am 10. Mai, zwei Tage nach der Kapitulation Nazideutschlands, kam er in der Ukraine an und wurde in Lager Winniza, dem früheren Stalag 329, interniert. Dort sollte er erst einmal bis Ende Juli 1947 bleiben. Danach ging es für ihn weiter in ein Lager in Kiew, wo es ihm nach eigenem Bekunden bis zum Ende seiner Kriegsgefangenschaft im Mai 1949 als Lagerfriseur nicht schlecht ging. Er litt allerdings zeit seines Lebens an den im Krieg erlittenen Verletzungen. Aber immerhin, er war einer von etwa zwei Millionen der insgesamt 3,1 Millionen deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, die wieder in die Heimat zurückkehren konnten. Ein Drittel starb in den Lagern – oder auf dem Weg dorthin. Die häufigsten Todesursachen waren, vor allem nach der Stalingrader Schlacht, Auszehrung, Erschöpfung, miserable körperliche Konstitution, aber natürlich auch die allgemein schlechte Lebens- und Versorgungssituation in der ausgebluteten Sowjetunion, wo man sich ansonsten, im Großen und Ganzen, an die Genfer Konvention hieß. Darin lag der beträchtliche, nicht zu vergessende Unterschied im Umgang mit Kriegsgefangenen auf deutscher und sowjetischer Seite. Die Nazis waren mitnichten an einer menschenwürdigen Behandlung der »slawischen Untermenschen« interessiert. Die Leiden der überlebenden Rotarmisten hatten auch nach dem Krieg kein Ende. Bereits am 16. August 1941 wurde die Gefangenschaft bei den Deutschen durch Stalins Befehl Nr. 270 mit Verrat gleichgesetzt. Von den sowjetischen Kriegsgefangenen, die heimkehrten, wurden vier Fünftel verurteilt oder als Zwangsarbeiter in entlegene Gegenden geschickt. Erst 1957, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, kamen sie im Rahmen einer Amnestie frei, blieben aber bei der eigenen Bevölkerung häufig geächtet. Wen man heute in deutschen Städten wieder junge Männer »Heil« und »Nationaler Sozialismus« skandieren hört, Bundestagsabgeordnete wieder stolz sind auf die Leistungen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg und das mörderischste Regime auf deutschen Boden als »Vogelschiss in der Geschichte« bezeichnen, kann man das Grauen bekommen. Ernst Reuß Comments are closed.
|
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
|